Wie lässt sich Schule im Krieg aufrechterhalten? „Timestamp“ (Originaltitel: „Strichka chasu“) von Kateryna Gornostai bietet einen eindringlichen Blick auf den ukrainischen Schulalltag während des fortwährenden russischen Angriffskrieges.
Das Bildungssystem als ein Akt des Widerstands: Jede vierte Schule in der Ukraine ist mittlerweile beschädigt oder zerstört. „Timestamp“ von Kateryna Gornostai zeigt die bemerkenswerte Resilienz einer Generation, die gezwungen ist, sich mit den Auswirkungen eines Krieges auseinanderzusetzen, der bereits seit 2014 viele Leben geprägt hat und seit dem 24. Februar 2022 mit dem russischen Angriffskrieg eine dramatische Eskalation erlebte.
Der Dokumentarfilm begleitet Lehrer:innen, die trotz der Gefährdung ihr Bestes geben, um den Kindern Bildung und Gemeinschaft zu ermöglichen, und Schüler:innen, die inmitten des ständigen Luftalarms und der Bedrohung durch den Krieg ihre Kindheit zu bewahren suchen. Sie alle versuchen, ein Stück Normalität aufrechtzuerhalten.
„Timestamp“ zeigt Mathe zwischen Schweigeminuten und Luftalarm
Der Film verzichtet auf Interviews, Voiceovers und nachgestellte Szenen. Stattdessen beobachten wir Kinder im Unterricht, der mit einer Schweigeminute endet. Ein Schulfest, das von Luftalarm unterbrochen wird, bei dem sich alle ganz routiniert in den Schutzraum begeben. Eine Lehrerin, die mit den Schüler:innen darüber spricht, welche Dinge in ihre Notfalltasche für eine mögliche Evakuierung gehören. Und einige Schüler:innen, die zuhause vor ihren Laptops sitzen, weil ihre Schulen durch in der Nähe zur Front zerstört wurden. Im Online-Unterricht lernen sie Gedichte auswendig, lösen Matheaufgaben.
Hin und wieder wird die physische Zerstörung an ukrainischen Gebäuden sichtbar, doch größtenteils bleibt die Kamera ganz nah bei den Menschen. Die filmische Erzählweise ist subtil, nur vereinzelt werden Momente von Angst oder Trauer explizit gezeigt. Gornostai legt den Fokus darauf, die Resilienz der Ukrainer:innen hervorzuheben, die sich trotz der russischen Aggression nicht unterkriegen lassen. Doch unter der scheinbaren Normalität schwingt stets eine unterschwellige Anspannung mit – eine ständige Erinnerung daran, dass der Krieg unaufhörlich weitergeht.
Abschlussfeier im Krieg: Ein Moment des Widerstands
Ein Weg, mit der ständigen Bedrohung umzugehen, besteht darin, sich auf den Alltag zu konzentrieren. Die Momente, in denen die Schwere des Krieges für einen Augenblick fern scheint, sind vor allem die wiederkehrenden Tanzszenen: die Proben für die Abschlussfeier, bei denen Paartänze einstudiert werden, die Schulfeste und schließlich die Abschlusszeremonie, bei der die Schülerinnen in festlichen Kleidern auftreten. Besonders in diesen Szenen kommt die beeindruckende Musik des Films zur Geltung, die Freude, Stolz und Hoffnung vermittelt.
Doch es gibt auch berührende Augenblicke, in denen die Härte des Krieges durchbricht: Etwa eine Beerdigungsszene oder ein Moment im Klassenzimmer, als ein Mädchen weinend auf das Porträt ihres Vaters blickt, das neben den Bildern weiterer Soldatenväter an der Wand hängt. Ihre Freundinnen umarmen sie, die Lehrerin spricht ihr tröstende Worte zu. In diesen Szenen wird die Schwere der Situation besonders spürbar – und auch wenn der Film insgesamt von Hoffnung und Widerstand geprägt ist, bleibt die Tragödie des Krieges stets präsent.
„Wir wollten diesen Krieg nicht kämpfen“
„Timestamp“ zeigt in seiner ruhigen, fast poetischen Beobachtung die Unvermeidlichkeit der Auswirkungen des Krieges auf die Psyche der Menschen, ohne sich in sentimentalen Momenten zu verlieren. Ein Gespräch mit einer Soldatin, die den Schüler:innen die Realität des Krieges näherbringt, ist ebenso Teil des Films: „Wir wollten diesen Krieg nicht kämpfen“, sagt sie, und auch, dass kein Soldat wirklich mit dem Erlebten zurechtkommen kann.
„Timestamp“ ist ein kraftvolles Porträt der ukrainischen Gesellschaft im Kriegszustand. Er bringt den Zuschauer:innen die Stärke der Menschen näher, die sich trotz Bedrohung und Verlust weigern, ihre Menschlichkeit aufzugeben und stolz darauf sind, ihre ukrainische Sprache und Kultur zu bewahren. Insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen von Präsident Trump, der einen schnellen Friedensschluss mit Russland fordert und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zuletzt als „Diktator ohne Wahlen“ bezeichnete, wird bei der Premiere von „Timestamp“ noch einmal umso deutlicher, was für die Menschen in der Ukraine auf dem Spiel steht.
„Timestamp“ ist übrigens der erste Beitrag eine:r ukrainischen Regisseur:in im Berlinale-Wettbewerb seit 28 Jahren. Und wer weiß – immerhin hatte im letzten Jahr mit „Dahomey“ auch überraschend ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewonnen.
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