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Filmkritik

„Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz: Macht Gewalt gegen Nazis Sinn?

Drama Luisa, eine junge Frau aus der Gegend von Mannheim, sitzt in einer Jura-Vorlesung. Besprochen wird die Frage, ab wann es gerechtfertigt sein könnte, Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung quasi auf eigene Faust zu bekämpfen. Luisa formuliert dazu den orthodoxen Standpunkt: zuerst einmal sollen Polizei und Gerichte ihre Arbeit tun, erst wenn alle anderen Mittel versagt haben, darf man … ja, was dann eigentlich genau? „Nazis verkloppen ist reine Kosmetik“, sagt später ein Veteran der radikalen Linken namens Dietmar, eine wichtige Nebenfigur in „Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz.

"Und morgen die ganze Welt" von Julia von Heinz
„Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz. Foto: Alamode

Luisa aber ist nicht nur in Jura erst im ersten Semester, sie steht auch in ihrer Sozialisation in die radikale Linke noch eher am Anfang. Sie argumentiert entsprechend bürgerlich, kommt später aber an einen Punkt, an dem sie Nazis nicht nur verkloppen würde, sondern sie sogar in das Fadenkreuz eines Jagdgewehrs nimmt. Ein Zug mit dem Finger, und sie könnte Nazis beseitigen.

Fragt sich nur, ob das dann ein Souveränitätsgewinn für die freiheitlich-demokratische Grundordnung wäre, oder bloß für eine höhere Tochter, die vom „Waidmannsheil“ ihrer Eltern angewidert ist. Die erlegen nämlich Kleinwild in großem Stil und lassen die Treibjagd dann mit ein paar Blechbläsern ausklingen.

„Und morgen die ganze Welt“ ist ein Spielfilm aus der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft über einen spezifischen Rand. Julia von Heinz erzählt von einem Hausprojekt in Mannheim, das bereits auf dem Weg zu seiner Legalisierung ist. Dass Luisa Jura studiert, kann auch bei den Verhandlungen mit den Behörden hilfreich sein.

Untergrund-Taktiken: „Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz

Unter dem großen Dach dieser alternativen Institution, die gleich einmal mit einem mustergültigen Plenum vorgestellt wird, haben dann aber auch Gruppen Platz, die eher Untergrund-Taktiken verfolgen, also den direkten Kampf mit der radikalen Rechten suchen. Die beiden jungen Männer, mit denen sie bald sehr viel zu tun hat, sind markant unterschiedlich gezeichnet: Alfa, ein feingliedriger Schönling, nimmt gern zwischendurch auch die orale Befriedigung durch ein Antifa-Groupie mit, während Lenor mit seiner Ernsthaftigkeit nicht nur sich selbst, sondern auch dem Tatendrang der Verklopper im Weg steht.

Im Leben der meisten Menschen ist Fundamentalopposition eine Phase, so will es das Klischee, und so ist auch die Grundannahme von „Und morgen die ganze Welt“. Julia von Heinz geht von eigenen Erfahrungen aus, bereitet diese allerdings so auf, dass daraus ein in jeder Hinsicht anschlussfähiges Kulturprodukt wird.

Diese Suche nach ständiger Vermittlung erweist sich schließlich als die eigentliche Bewegung in der Geschichte: zu jeder Figur gibt es eine komplementäre Position, ohne dass allerdings daraus interessante Spannungen entstehen würde. Man sieht einer andauernden dramaturgischen Einhegung dabei zu, wie sie revolutionäre Motivation zu erschließen versucht.

Es ist schließlich jener Dietmar, den Julia von Heinz ein bisschen wie ein Orakel einsetzt, der zu der interessantesten Figur wird – mit dem Österreicher Andreas Lust ist er auch originell besetzt. Dietmar weiß alles das schon, was Alfa nie wissen wird, weil der zwar auch einen Terroristenparagrafen „am Arsch“ hat, aber wie Luisa auch ein bürgerliches Rückzugsgebiet.

Mit dem Wissen von Dietmar hätte man eine Geschichte über melancholische Unsouveränität als demokratische Grundtugend erzählen können. „Und morgen die ganze Welt“ ist im Vergleich dazu tatsächlich so etwas wie Kosmetik.

D 2020; 111 Min.; R: Julia von Heinz; D: Mala Emde, Noah Saavedra, Tonio Schneider; Kinostart: 29. 10. 2020


Außerdem diese Woche neu im Kino (zumindest bis Sonntag): die Filmstarts vom 29. Oktober; vielleicht letzte Gelegenheit: die Filmstarts vom 22. Oktober und die Filmstarts vom 15. Oktober

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