Das Kino- und Festivaljahr in Berlin beginnt traditionell mit „Unknown Pleasures #12“, einem Überblick über das aktuelle, unabhängige US-amerikanische Kino. Im Arsenal laufen von 1. bis 19. Januar eine Reihe von Filmen, in denen man eine ganz andere Perspektive auf den Alltag in den Vereinigten Staaten bekommt als durch Netflix oder Hollywood. Sehenswert sind sie alle, tipBerlin hebt stellvertretend drei besonders sehenswerte Titel hervor.
Down with the King
Ein Rapper namens Money Merc (bürgerlich: Mercury Maxwell) zieht sich in ein Haus in the middle of the woods zurück, um an neuem Material zu arbeiten. Er hat offensichtlich eine Schaffenskrise, vielleicht sogar eine Depression. Es fehlt ihm der Flow: right now it ain’t in me. In das Leben der weißen Nachbarn ist er eingebunden: Er hilft Bob beim Verarbeiten eines geschlachteten Schweins, erfährt von ihm, dass man beim Herausschneiden der Eingeweide vorsichtig sein muss, denn stinkende Flüssigkeiten verderben das Fleisch. Das Detail wird später noch einmal bedeutsam. Einmal sieht man Merc bei einem muslimischen Gebet, damit bekommt der Umgang mit dem Schwein einen Akzent. Er freundet sich mit Michaele an, die er in einem lokalen Baumarkt trifft, sie hat eine Sucht überstanden- ein unwahrscheinliches Paar, das trotzdem völlig überzeugend wirkt.
Der Manager macht Druck, per Facetime und dann auch persönlich. Bei einem Instagram Live sind gleich ein paar Tausend Follower zugeschaltet, in der Welt draußen ist Merc richtig populär. Er lässt sich aber nur widerwillig aus seinem place to hide hervorlocken. Der Rapper Freddie Gibbs ist groß in der Hauptrolle: Er spielt Merc als einen dorky guy, der aber auch die ganze Zeit die Kunstfigur, die er nicht zuletzt durch seinen Slang darstellt, bekräftigen muss. Vielleicht zermürbt ihn auch einfach diese Arbeit, einen Typen zu markieren, der er nicht ist. Seine Tracksuits und Sneakers im Stall von Bob oder im Schweinekoben geben einen starken Kontrast, zugleich gibt es in „Down with the King“ offensichtlich Aspekte einer „post racial society“, die vor allem durch den Statusdruck von Merc selbst gefährdet ist.
Nachdenken könnte man darüber, ob Freddie Gibbs mit der Figur des verunsicherten Rapstars auch die Vergewaltigungsanklage reflektiert, der er 2016 in Österreich gegenüberstand. Er wurde mangels klarer Beweise freigesprochen, vielleicht ist „Down with the King“ zwar kein Geständnis, aber ein Zeugnis dafür, dass ihn die Sache beschäftigt. Männlichkeit und ihre Verunsicherung sind jedenfalls ein wesentlicher Teil dieses exzellenten Films. (Diego Ongaro, USA/F 2021, 4. & 8.1.)
The Sleeping Negro
Mit dem Wort des Titels sind Menschen gemeint, die sich ihrer Differenz zu weißen Privilegien nicht ausreichend (schmerzhaft) bewusst sind. Ein „Sleeping Negro“ ist so etwas wie ein „Onkel Tom“, also ein Afroamerikaner, der sich für gleichgestellt und integriert hält, der den Rassismus für jedenfalls prinzipiell überwunden hält. Das trifft alles bei der Hauptfigur, einem jungen, namenlos bleibenden Afroamerikaner in Kalifornien, nicht zu. Das erste Bild des Films zeigt ihn auch tatsächlich schlafend, und zugleich in einem Zustand der Levitation: er schwebt zwei Meter über dem Sofa. Was darauf folgt, ist ein Alptraum, ein ganz normaler Tag aus dem Leben eines Mannes, der von einem Doppelgänger geplagt wird: „I am your rage.“ Der Protagonist beharrt auf eine Weise auf seiner Hautfarbe, die in den Augen seiner weißen Freundin destruktiv ist. Sie würde ihn gern ihren Eltern vorstellen, er denkt dabei an Szenen aus dem Film „Get Out“, in dem ein vergleichbares Paar in eine Horrorsituation geriet. Skinner Myers treibt den Argwohn, dass die „post racial society“ eine Falle sein könnte, bis zum Äußersten. (Skinner Myers, USA 2021, 2. & 15.1.)
Crossing Delancey
Bei „Unknown Pleasures“ gibt es traditionell auch eine Miniretrospektive. In diesem Jahr ist sie Joan Micklin Silver (1935-2020) gewidmet. Sie stammte aus einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie, die in Nebraska lebte. 1967 ging sie nach New York, und schaffte es schließlich in einem für Frauen sehr schwierigen Umfeld, als Filmemacherin Fuß zu fassen (neben Elaine May war sie damit eine rare Ausnahme). „Hester Street“ (1975) ist bis heute ihre bekannteste Arbeit. Die vergnüglichste aber ist vielleicht „Crossing Delancey“ (1988), mit dem sie einigen Erfolg hatte.
Amy Irving spielt eine allein lebende Jüdin namens Isabelle, die in einer Buchhandlung arbeitet. Ihre Großmutter Bubbe Kantor (großartig: Reizl Bozyk) ist ihre wichtigste familiäre Bezugsperson. Ihr zuliebe lässt sie sich auf ein Date ein, das eine Heiratsvermittlerin arrangiert: mit Sam Posner, einem Ladenbesitzer (er verkauft Eingelegtes wie Gurken und Sauerkraut, und legt dabei selbst Hand an, bzw. die Hand in den Essig). Sam wirkt auf den ersten Blick ein wenig farblos, hinterlässt aber doch gerade so viel Eindruck, dass Isabelle ihn nicht vergisst.
Der Rest ist eine klassische RomCom aus einer Zeit, als man von diesem Genre noch gar nicht so selbstverständlich sprach. Zugleich einer der schönsten Filme über New York, und filmhistorisch ein wichtiges Bindeglied zwischen Woody Allen und „Seinfeld“. (Joan Micklin Silver, USA 1988, 7. & 14.1.)
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