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Porträt

Dokumentarfilmerin Heidi Specogna: Eine geduldige Beobachterin

Die Dokumentarfilmerin Heidi Specogna ist ursprünglich aus der Schweiz, seit 40 Jahren aber lebt sie in Berlin, von hier aus erkundet sie die Welt. Mit ihrem neuen Film „Erhebe dich, du Schöne“ widmet sie sich einer Sängerin aus Äthiopien. Davor hat sie in Zentralafrika und in Lateinamerika gedreht, immer auf der Suche nach engagierten Menschen mit all ihrer Leidenschaft und ihren Widersprüchen. Frank Arnold hat Heidi Specogna für den tipBerlin porträtiert.

Heidi Specogna ist Dokumentarfilmerin und erkundet von Berlin aus die Welt. Foto: Wikimedia Commons/Amzine123/CC BY-SA 4.0

Heidi Specogna zeigt die äthiopische Azmari-Kultur

Nardos hat einen Traum. Mit selbstgeschriebenen Liedern, die vom Alltag der Menschen in Äthiopien erzählen, möchte sie ein großes Publikum erreichen. Bis dahin steht sie an jedem Abend sechs Stunden lang auf der Bühne eines Clubs in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Als Azmari-Musikerin macht sie dabei schon einen Schritt in die richtige Richtung, denn die Azmari-Vortragskunst ist eine Kunst des Weitertragens, bei der die Texte spontan reagieren auf das, was sich im Raum tut.

Nardos will vom Alltag erzählen, nicht nur von ihrem eigenen mit drei Kindern und einem Mann, der als Musiker oft auf Tournee ist, sondern auch von dem anderer Menschen. So besucht sie ihre Mutter auf dem Lande und spricht mit ihr darüber, wie es war, als sie sie als Kind zu Verwandten in die Stadt geschickt hat.

„Erhebe dich, du Schöne“: Langzeitbeobachtung in Äthiopien

Damals hat Nardos ihre Mutter und ihre großen Brüder vermisst, heute begreift sie, dass das die einzige Möglichkeit war, einer Zwangsheirat zu entgehen. Äthiopien hat zwar seit Jahren eine Regierung, die den Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben hat, die Schulpflicht für Mädchen wurde gesetzlich verankert, aber „damit gibt sich die Regierung auch zufrieden, ohne genau hinzusehen“, sagt Heidi Specogna.

Die 1959 im schweizerischen Biel geborene Filmemacherin, der das DOK.fest München gerade seine diesjährige Hommage widmete, hat sich mit ihren Arbeiten der Langzeitbeobachtung verschrieben. „Ab dem Moment, wo der Film finanziert war, war ich zweimal pro Jahr unten. Was ich seit einigen Jahren nach jeder Drehphase konsequent mache: Ich gehe mit dem Editor in den Schneideraum und sichte das Material. Das ist so etwas wie eine zweite Autorenschaft. Da kann ich dann auch präzise sagen, wo es notwendig ist weiterzuforschen und zu drehen. Hier war es auch so, dass ich lernen musste, dass Nardos viel mehr Zeit braucht, um ihre Lieder zu entwickeln, als ich gedacht hatte. Diese Zeit wollte ich ihr lassen, das gebietet der Respekt vor ihrer künstlerischen Arbeit.“

Heidi Specogna blickt in ihrem Dokumentarfilm „Erhebe dich, du Schöne“ auf Äthiopien. Foto: Foto: deja-vu-film

Respekt heißt für sie generell, die Eigenarten der Porträtierten ernst zu nehmen: „Beim zweiten Dreh kam ich an und wusste nicht, dass es ein zweites Kind gibt. Sie hatte mir –  trotz regelmäßigen Kontaktes – neun Monate lang nichts von dieser Schwangerschaft erzählt. Sie meinte, wir hätten unsere Themen, das Private würde ich früh genug erfahren. Wir hatten eigentlich einen anderen Drehplan, aber dann war sie mitten in den Taufvorbereitungen, und der Drehplan hat sich mit ihr und ihrem Alltag verändert. Da muss man dann schon wirklich Mut sammeln, aber das sind natürlich die schönen Momente, die dann in diesen Film einfließen.“

Genauigkeit bis in die letzten Silben einer unbekannten Sprache

Bei der Tauffeier, für die Nardos am Abend zuvor noch 40 Stühle für die Gäste bestellt, zeigt sie sich genauso dynamisch wie bei ihren Auftritten im Club – aber sie ist auch eine gute Zuhörerin, etwa wenn sie sich von zwei Frauen über deren Zwangsheiraten erzählen lässt: „Mit zwölf wurde ich verheiratet, mit 13 bekam ich meinen Sohn.“ Beides kommt zusammen, als sie Gennet trifft, die mit 16 Jahren von einem Mann entführt wurde – mit Billigung der männlichen Verwandtschaft. „Meine Onkel fürchteten, mich an die Bildung zu verlieren.“ Aber Gennet trotzt den Umständen, indem sie Gedichte schreibt. So kommt eine Zusammenarbeit mit Nardos zustande, der auch jene Zeile aus dem Lied zu verdanken ist, dem der Film seinen Titel verdankt: „Steh auf, meine Schöne!“

Die Genauigkeit, mit der Heidi Specogna ans Werk geht, zeigt sich auch darin, dass sie neben dem Dolmetscher, der beim Dreh die Gespräche der Frauen für sie zusammenfassend übersetzt, in Deutschland noch einmal einen zweiten Übersetzer für die Feinheiten engagierte und einen dritten, der der Poesie von Nardos‘ Liedern eine adäquate deutsche Form verlieh.

Ihre Vorliebe für die dokumentarische Form hat Specogna nicht erst entdeckt, als sie in den 1980er-Jahren zum Studium an die DFFB in Berlin kam. „Ich habe mit zwölf, 13 Jahren angefangen zu schreiben, Texte für die Lokalzeitung. Schreiben war für mich immer das Mittel, etwas verstehen zu können, in Kontakt mit meiner Umgebung zu treten.“

Specogna arbeitet eng mit Kameramann Johann Feindt zusammen

Das Studium an der DFFB war ein weiterer wichtiger Schritt: „Die DFFB war eine Schule, die keine Aufteilung in Gewerke hatte, wir waren einfach Filmemacher und haben alles gemacht – mal Kamera, mal Schnitt, mal Spielfilm, mal Dokumentarfilm. Und man hat sich erst nach der Ausbildung entschieden, in welche Richtung man gehen wollte. Das ist in den meisten Schulen heute gar nicht mal so einfach. Da steht die Entscheidung für ein Gewerk schon, bevor man sich als Filmemacher kennengelernt und ausprobiert hat. Bis heute kommen meine engsten Freunde aus dem DFFB-Arbeitsumfeld. Das ist der Ort, wo ich den Austausch, die Unterstützung suche. Das war ein wichtiger Schritt, nicht nur ein Einzelkämpfer zu sein, sondern fünf, sechs Leute zu haben, mit denen wir uns auch weiterentwickeln können.“ Dazu gehört auch der Kameramann Johann Feindt, mit dem sie ihre letzten beiden Filme gedreht hat.

Von Lateinamerika nach Afrika

Bevor Heidi Specogna 2010 mit „Das Schiff des Torjägers“ ihren Fokus auf Afrika verlagerte, standen die revolutionären Bewegungen und ihre Protagonisten in Lateinamerika im Mittelpunkt ihres Interesses. Dafür gab es ein Schlüsselerlebnis.

„Das war die Figur der Tamara Bunke, eine Figur, die in meinem Mädchenleben, 1970/71, ungeheuer wichtig war. Ich wollte alles erfahren über diese Übersetzerin aus der DDR, die dann an der Seite Che Gueveras kämpfte und dabei ihr Leben ließ. Ich kam mit dieser Figur im Herzen eigentlich nach Berlin, habe in meinem Studium auch ziemlich bald angefangen, das zu recherchieren, über einen langen Zeitraum hinweg. 1991 entstand daraus mein Film „Tania La Guerillera“. Das war die Figur, die mich dann nach Kuba und Bolivien gebracht hat, aus dieser Figur haben sich die anderen entwickelt. Für die Tupamaros habe ich angefangen mich zu interessieren, weil das damals Ende der 1960er Jahre die einzigen waren, die sich der lateinamerikanischen Idee von Che Guevara noch nicht anschließen wollten. So bin ich auf Pepe Mujica gestoßen, der es später zum Präsidenten von Uruguay brachte.“

Mit ihrem nächsten Film wird Heidi Specogna nach Lateinamerika zurückkehren: ein Porträt der schweizerisch-brasilianischen Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Claudia Andujar.

Erhebe dich, du Schöne CH/D 2021; 110 Min.; R: Heidi Specogna; Kinostart: 19.5.

Filmgespräch mit Heidi Specogna jeweils am 22.5. im fsk Kino und am 23.5. im Klick Kino

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