„Sie verwechseln uns, glaub ich, mit Schauspielern“, sagt Aysel einmal. Als Laiendarstellerin sieht sie sich von der Theaterarbeit auf eine Weise herausgefordert, die an Überforderung grenzt und mehrmals deutlich das überschreitet, was sie als schicklich und sittlich empfindet. Aysel ist die einzige Kopftuchträgerin unter den 17 Frauen türkischer Herkunft, die Regisseur Volker Lösch 2007 im Rahmen seiner Inszenierung von Euripides’ „Medea“ am Staatstheater Stuttgart einsetzt. Aysel ist gläubige Muslima und gut situierte Hausfrau und Mutter in der schwäbischen Provinz. Weil ihr die ewige Koch- und Putzerei ein wenig langweilig geworden ist, hat sie sich am Theater beworben. Nicht ahnend, dass die angestrebte „kleine Abwechslung“ schwere Erschütterungen ihres Weltbildes zur Folge haben könnte.
Thomas Lauterbachs Dokumentarfilm „Hochburg der Sünden“ erzählt Aysels Geschichte und gleichzeitig die einer Massenkarambolage von Projektionen, Klischees, Vorurteilen und Selbstbildern. Löschs inszenatorischer Ansatz nämlich spiegelt die tragische Figur der für erlittene Kränkung grausam Rache nehmenden Medea im Chor der türkischen Laiendarstellerinnen, deren eigene Gewalterfahrungen wiederum in den Theatertext einfließen. Dieses Verfahren setzt eine Art therapeutischen, nicht ganz ungefährlichen Prozess in Gang, in dem das Unterste zuoberst gekehrt, Vertrautes hinterfragt und Verdrängtes hervorgeholt wird. Aysel, im Versuch, den Stolz der Muslima mit traditionellem Rollenverständnis gegen das nunmehr im Raum stehende Stereotyp der unterdrückten türkischen Frau zu verteidigen, gerät mit Annabella aneinander, die als Vertreterin eines moderneren Türkinnen-Bildes die Bühne zum Ausagieren traumatischer Ereignisse nutzt.
Bei den Proben, in den Pausen und in der Freizeit hört Lauterbach den Frauen zu, zeichnet Neugier, Befremden, Erschrecken und Erkennen auf. Er wirft einen Blick in eine nicht eben leicht zugängliche Welt, die seinen Blick vervielfältigt und multiperspektivisch zurückwirft. Das Theater mag eine „Hochburg der Sünden“ sein, aber es ist auch ein Ort, an dem die Dinge kompliziert bleiben dürfen.
Text: Alexandra Seitz
(tip-Bewertung: Sehenswert)
Hochburg der Sünden im Kino in Berlin
Deutschland 2007; Regie: Thomas Lauterbach; 78 Minuten;
Kinostart: 18. März
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