In „Life, Animated“ findet ein Autist mittels Disneyfiguren aus seiner Isolation

Wie viele junge Leute steht Owen Suskind vor einem wichtigen Schritt in seinem Leben. Gerade macht er seinen Schulabschluss, bald wird er von Zuhause ausziehen. Weg von den Eltern, in eine eigene Wohnung. Seine Freundin Emily wird das Appartement über ihm bewohnen. Auch ein Job muss gesucht werden. Kurzum: Die Verantwortung für das Leben auf eigenen Füßen will übernommen werden. Oder besser gesagt: deutlich mehr Verantwortung als bisher. Denn ganz auf sich allein gestellt wird Owen sein Leben wohl nie bewältigen können. Der 23-jährige Amerikaner ist Autist, und Veränderungen bereiten ihm Unbehagen oder machen ihm Angst. Trotzdem sind seine Fortschritte erstaunlich, haben sich seine Eltern doch über Jahre hinweg gefragt, ob sie wohl überhaupt jemals mit ihm würden kommunizieren können. Oder ob er auf ewig eingeschlossen sein würde in der Welt in seinem Kopf.
Diagnostiziert wurde die Entwicklungsstörung bei Owen erstmals im Alter von drei Jahren. Damals machten Sprachentwicklung und Motorik bei ihm statt Fort- nur noch Rückschritte. Jahrelang brabbelte Owen lediglich unverständliches Zeug vor sich hin. Bis er seine Familie dann gelegentlich mit komplexen und klar artikulierten Gedankengängen überraschte und sein Vater, ein Journalist des „Wall Street Journal“, einen erstaunlichen Zugang zu seinem Sohn fand: Owen hatte die von ihm geliebten Disney-Animationsfilme derart verinnerlicht, dass Rollenspiele mit der Handpuppe einer Disney-Figur erste Kommunikationsversuche ermöglichten.
Autismus kann in verschiedenen Formen auftreten, doch in Roger Ross Williams’ Dokumentarfilm „Life, Animated“ geht es nicht um Diagnosen oder mögliche „Heilung“. Erzählt wird von einem Einzelschicksal: Die alles andere als realistischen Disney-Trickfilme haben Owen Suskind so viel Einsicht in menschliche Verhaltensweisen gegeben, dass sie ihm als Wegweiser eine Struktur für bestimmte Bereiche des eigenen Leben geben konnten. Natürlich funktioniert das nicht überall: Wie man gefahrlos die Straße überquert, komplizierte Beziehungsprobleme löst oder was Sex überhaupt ist, erfährt man weder in „Bambi“ noch im „König der Löwen“. Dann stoßen auch die Aufklärungsversuche von Owens älterem Bruder Walter an ihre Grenzen. „Was soll ich machen“, fragt er, „ihm Disney-Pornos zeigen?“
Interessanterweise gleicht Owens Beziehung zu den Disney-Filmen keineswegs nur einer Einbahnstraße: Erfahrungen mit Ablehnung und Mobbing in der Schule brachten ihn etwa als Kind dazu, eine autobiografisch inspirierte Geschichte im Universum der Helfer-Figuren anzusiedeln, den sogenannten Sidekicks, mit denen er sich besser identifizieren konnte als mit den Helden.
„Life, Animated“ begegnet einem komplizierten Leben auf eine komplex verwobene Weise, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Owens Eltern erzählen in getrennten Interviews von seiner Kindheit, manchmal ergänzt von Owens eigenen Erinnerungen und Einsichten; man sieht seinen heutigen Alltag mit all den Herausforderungen, die wiederum durch Ausschnitte aus Disney-Filmen kommentiert werden, und kleine Nicht-Disney-Animationen, die eine Interpretation von Owens Gefühlen darstellen.
Bruder Walter macht sich bereits Gedanken über jene Tage, in denen die Eltern nicht mehr da sein werden. Doch Owen scheint weitgehend unbekümmert. Am Ende hält er einen Vortrag auf einer Autismuskonferenz in Frankreich: „Ihr glaubt, Autisten wollten nicht mit euch in Kontakt treten“, sagt er, „doch das stimmt nicht.“
Life, Animated USA 2016, 91 Min., R: Roger Ross Williams, Start: 22.6.