Aufgekratzte Bildertouristen draußen vor dem tempelartigen Hauptportal der National Gallery am Londoner Trafalgar Square, drinnen in den weitläufigen, britisch-edel ausgestatteten Räumen kontemplative Ruhe und ehrfürchtiges Schweigen. Die National Gallery, eine auf Stiftungen beruhende Sammlung, umfasst über 2?000 Meisterwerke aus allen Kunstperioden vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, sie ist eine der populärsten Kunst-Institutionen weltweit, ein kulturelles Highlight, nicht zuletzt auch wegen ihres antielitären Anspruchs. Bis heute ermöglichen Spender- und Sponsorengelder den freien Eintritt. Massenandrang und stilles Glück bei der Kunstbetrachtung sind hier vereinbar.
Der 85-jährige amerikanische Dokumentarist Frederick Wiseman hätte einen Film über diese intime Interaktion mit großer Kunst machen können. Doch sein annähernd dreistündiger Dokumentarfilm „National Gallery“ zeigt die Wunderwirkung nur in der Blitz-Montage staunender Gesichter. Nicht nur das Publikum, auch die Kunstwerke selbst bildet er schnell geschnitten und häufig in Details ab. Kunstreproduktionen, die ein unmittelbares Erlebnis simulieren, ähnlich einer Operninszenierung im Kino, interessieren Frederick Wiseman wenig. Sein Film kreist um das Selbstverständnis der National Gallery, als Wissensspeicher, Forschungseinrichtung, kunstpädagogisches Labor, Malschule und Vermarktungsapparat international gültige Standards zu setzen.
Wie dem Zusammenspiel von Farben und Strichen bei der Entstehung eines Bildes folgt man Wisemans rhythmischer Montage. 2012 dirigierte er seinen Kameramann John Davey drei Monate lang in Zwölfstundenschichten durch alle Abteilungen des Hauses und nahm dabei selbst den Ton auf. Aus dieser Chronik der laufenden Ereignisse montierte er ein Institutionenporträt, das ohne Kommentar und Musikillustration auskommt. Die wortgewandten Performances der Kunstbewahrer, Kunsthandwerker, Manager und Pädagogen vor den Originalwerken bilden den Kern des Films.
So erläutert ein Kunsthistoriker, wie Großbritanniens bester Pferdemaler George Stubbs die anatomische Akuratesse seiner monumentalen Tier-Porträts anhand von Kadavern studierte. Ein anderer holt die eigentümliche Farbdramaturgie in Rembrandts monumentalem Gemälde „Samson und Delilah“ auf konkrete Vorgaben herunter: Weil das Bild für einen Platz über dem Kamin des Auftraggebers gedacht war, sollte der Künstler den Lichteinfall des daneben liegenden Fensters wie auch die Kaminschwärze in die visuelle Gestaltung der symbolischen Szene aufnehmen.
In einer anderen Lecture offenbart ein Restaurator, dass seine Abteilung sich Farbauffrischungen in Rembrandts Bildern nur unter leicht vergänglichem Firnis erlaube, denn künftige Generationen würden den Maler vielleicht anders interpretieren und die Restaurierung revidieren wollen. Der Reiz von Frederick Wisemans Erkundung liegt über die unterhaltsamen Anekdoten hinaus in den lakonischen Hinweisen des Films auf den Fluss der Diskurse und Wertvorstellungen, deren Deutungsmacht eine Institution wie die National Gallery mitgestaltet.
Seit fast 50 Jahren fügen sich die dokumentarischen Langzeitbeobachtungen seines Lebenswerks zu einem einzigartigen eigenständigen Genre. Der einstige Rechtsanwalt und Quereinsteiger ins Autorenfilmbusiness porträtierte rund 40 soziale Institutionen vor allem in den USA, darunter ein Gefängnis, eine Einrichtung für misshandelte Frauen, eine Feuerwehr, einen Zoo, ein Krankenhaus und eine Distriktverwaltung, er dokumentierte aber auch die gegensätzlichen Welten einer Modelagentur und einer Boxhalle, sah hinter die Kulissen des Madison Square Garden in New York, des Pariser Opernballetts und des Crazy Horse Cabaret. Auch in „National Gallery“ gibt es Momente, in denen die sprachlose Sinnlichkeit mit der bildenden Kunst interagiert, so zum Beispiel, wenn ein Pas de deux in den Ausstellungsräumen getanzt oder ein Klavierkonzert mit einer Beethoven-Sonate erklingt. Das Museum experimentiert wie andere Häuser auch mit solchen neuen Formen, doch Frederick Wisemans Chronik betont die Macht der Sprache. Vom Iconic Turn, der die Vormachtstellung des Wortes ablöst, ist die Institution National Gallery weit entfernt.
Text: Claudia Lenßen
Fotos: National Gallery / Kool Filmdistribution
Orte und Zeiten: „National Gallery“ im Kino in Berlin
National Gallery, Frankreich/USA 2014; Regie: Frederick Wiseman; 181 Min.
Kinostart: Do, 01. Januar 2015