Auf Amazon Prime Video läuft die Neuauflage von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl ist enttäuscht von der Neuauflage: Christiane F. und ihre Gruppe sind zu historischen Gestalten geworden. Sie stolpern von Plotpoint zu Plotpoint und ertrinken in Pathos. Vom schäbigen Glamour der Vorlage ist nichts geblieben. Die Content-Giganten sind süchtig nach Stoff, der nur gut aussehen soll.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ auf Amazon Prime: No Future auf dem Bahnhofsklo
Der Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ begann damals ziemlich drastisch: „Überall nur Pisse und Kacke“ waren die ersten Worte, die Gropiusstadt kam insgesamt nicht so gut weg. Und als Christiane F. in einer der ersten Szenen ihre Turn- durch Ausgehschuhe ersetzte, um in der Discothek Sound nicht als unbedarfte Göre zu erscheinen, da verrieten ihre Ringelsocken immer noch, dass sie aus einfacheren Berliner Verhältnissen kam.
Gut 40 Jahre ist das nun her, dass die Geschichte einer West-Berliner Drogensüchtigen die Republik erschütterte, und 1981 dem Produzenten Bernd Eichinger einen Welterfolg bescherte.
Die Serie um Christiane F. will beides: Realismus und Geschichte
In der Filmbranche gibt es den Begriff des „kitchen sink realism“ („Spülbecken-Realismus“) für alles, was einen ungeschönten Blick auf die härteren Aspekte des Lebens nicht vermeidet. Im Vergleich dazu war der Film von Uli (damals noch: Ulrich) Edel so etwas wie „Bahnhofs-Toiletten-Realismus“. Und die halbwüchsige Christiane (gespielt von der Entdeckung Natja Brunckhorst) wurde zur deutschen Vertreterin der Generation No Future.
Die Sache mit dem Realismus ist wichtig auch in der achtteiligen Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, mit der Philipp Kadelbach gemeinsam mit Annette Hess die Geschichte von damals wieder aufgreift und sie für die Gegenwart der Streaming-Plattformen neu adaptiert.
Denn Christiane F. und ihre Freundinnen und Freunde sind nun historische Figuren, der Bahnhof Zoo steht heute im Schatten eines Luxushotels, und David Bowie, der Popstar der damaligen Ära, ist schon tot.
Farben, Look und Sound der Prime-Serie: Weit weg von der Popkultur-Hauptstadt
Kadelbach entschied sich dafür, das Beste aus beiden Welten für seine Version mitzunehmen. Musikalisch hängt „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ziemlich zwischen allen Stühlen, denn der Sound entspricht am ehesten einer vagen Idee von Triphop, steckt also irgendwo in den 90er-Jahren fest.
Und auch die generelle Anmutung ist die einer generationellen Unklarheit: Zwar enthalten Mode und Ausstattung zahlreiche deutliche Codes der Welt der späten 70er-Jahren, die Farben und der allgemeine Look der Erzählung sind aber weit entfernt von allem, was Berlin damals zu einer Welthauptstadt der Popkultur werden ließ.
Christiane F. ist leider bei Amazon Prime leider unglaubwürdig
Christiane ist in der Serie Teil einer dramaturgisch deutlich hervorgehobenen Sechsergruppe: drei Mädchen, drei Jungen, alle Milieus, verschiedene sexuelle Identitäten. Die österreichische Schauspielerin Jana McKinnon hat in der Hauptrolle das Problem, dass sie von Beginn an zu wissend wirkt – man nimmt ihr weder das Pferdemädchen vom Land ab, das sie darstellen soll, noch die verlorene Tochter aus einer instabilen Beziehung zweier Eltern in Berlin, die selbst noch kaum erwachsen sind.
Die höhere Tochter Babsi und das Kneipenmädchen Stella flankieren Christiane wie zwei Stützfiguren, während bei den Jungs Benno, Axel und Micha die Rollen weniger klar verteilt sind.
Für die Sechs werden die Discothek Sound und der Bahnhof Zoo zu Anlaufstellen, auch der Strich in der Kurfürstenstraße ist ein zentraler Ort. Die Serie hat einige starke Momente, zum Beispiel eine Hinterbühnenszene bei einem Konzert von David Bowie im ICC, bei der Christiane in die Droge initiiert wird, mit der sie am stärksten identifiziert wird: das Heroin, den Stoff, den man „drückt“.
Symbolistischer Blödsinn
Es gehört zu den Konventionen des neuen Serien-Erzählens, dass es immer wieder Szenen geben muss, in denen die Fäden kunstvoll verschlungen und zu einem Knoten gebunden werden. Mit entsprechender musikalischer Untermalung läuft das in der Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ dann oft auf eine Überdosis Zeichenhaftigkeit hinaus, vor allem Babsi mit ihrer Villen-Vergangenheit muss da eine Menge symbolistischen Blödsinn ausbaden.
Den Vorteil einer deutlich längeren Erzählzeit als ein zweistündiger Spielfilm kann die Serie nicht wirklich nutzen: die Figuren stolpern eher von Plotpoint zu Plotpoint, vor allem Stella (Lena Urzendowksy) wirkt so, als würde mit ihr ein dramaturgisches Kästchen nach dem anderen abgehakt. Und wenn dann einmal eine tolle, auch langfristige Drehbuchidee auftaucht, wie bei einem Brief, dessen Botschaft sich Christiane erst viel zu spät erschließt, dann wird das auch wieder in Pathos ertränkt.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ soll vor allem gut aussehen
Es ist deutlich zu erkennen, dass es den Produzenten (Oliver Berben und Sophie von Uslar) und Kreativen vor allem darum ging, dass „Wir Kinder vom Bahnhof“ super gut aussieht, das war damals bei Uli Edels Verfilmung anders. Damit entgeht ihnen aber gerade das, was die Vorlage so stark gemacht hatte: nämlich ein Bild von Berlin zu finden, das zugleich schäbig und glamourös war.
1980 hatte die Vorstellung, das Leben wegzuwerfen, weil es keine Perspektive bot, eine konkrete, gefährliche Attraktion. Christiane F. traf ein Generationengefühl. Heute trifft die Serie nur das Gefühl, dass für die Stoff-Gier der Content-Giganten alles einerlei ist, solange die Schauwerte stimmen.
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo Prime Video ab 19.2.; R: Philipp Kadelbach; D: Jana McKinnon, Lena Urzendowsky, Michelangelo Fortuzzi, Bruno Alexander; D 2021; 8 Episoden à 42 Min
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Eine drogensüchtige Teenagerin und ein ganz bestimmtes Berlin-Gefühl: Christiane F. – der Mythos vom Bahnhof Zoo bis zur neuen Prime-Serie. In den 1980er-Jahren war sie ein Star: Hier seht ihr Ilse Rupperts grandiose Fotos von Christiane F. aus dieser Zeit. Sie spielt Stella in der Serie: Das tipBerlin-Interview mit Lena Urzendowsky lest ihr hier. Die Gegend hat auch andere Seiten: 12 Fotos aus der Geschichte vom Bahnhof Zoo, von Kaiserzeit bis City West.