Je größer der Widerstand, desto drastischer die Maßnahmen. Der Widerstand des Mädchens Benni ist groß, doch noch ist sie zu klein für die wirklich drastischen Maßnahmen. In die geschlossene Psychiatrische kann man selbst mit Sondergenehmigung erst ab zwölf Jahren eingewiesen werden, da ist Benni außen vor, sie ist neun. Kein Heim will sie mehr, keine betreute Wohneinrichtung, keine Pflegefamilie. Sogar Micha, der ihr zur Seite gestellte Schulbegleiter, ein Anti-Gewalttrainer, der es normalerweise mit halbwüchsigen Jungs und mächtig Testosteron zu tun hat, sieht sich bald am Ende seines Lateins.
In der Jugendhilfe nennt man Kinder wie Benni „Systemsprenger“; mit ihrem Furor, der Aggression und Gewaltbereitschaft heben sie die Grenze zwischen Täter und Opfer auf; bekommt man sie nicht in den Griff, nennt man sie später möglicherweise „Intensivtäter“.
Dass Benni traumatisiert ist, liegt auf der Hand. Man muss nicht wissen, wodurch, um die Not des Mädchens zu erkennen. Also werden auch nicht viele Worte darum gemacht. Ohnehin geht es Nora Fingscheidts Langspielfilmdebüt weniger um das „Woher?“ als um das „Wohin?“. Denn wie tauglich kann ein Betreuungssystem sein, das wie eine Drehtür funktioniert und ständig neue Bezugspersonen in Bennis persönliche Hölle hineinschiebt?
Der physischen Wucht, die das „böse“ Kind entfaltet, entsprechen in formaler Hinsicht eine agile Handkamera, wenig Tiefenschärfe, viele Nahaufnahmen und eine abrupte Montage, die einen mitunter mitten hineinstürzt in die grundlosen abgrundtiefen Wut- und Gewaltausbrüche. Auf der Ebene der Dramaturgie spielt „Systemsprenger“ immer wieder mit der Hoffnung – auch des Publikums.
Aber Benni rastet aus und rastet aus und rastet aus. Und wir stehen da mit all den unbeantworteten Fragen: Wo kommt die Wut her? Ist sie zu stillen? Und was haben wir damit zu tun? Bei der Berlinale gab es für „Systemsprenger“ den Alfred-Bauer-Preis, zudem geht der Film für Deutschland ins Rennen um den Auslands-Oscar.
Systemsprenger D 2019, 120 Min., R: Nora Fingscheidt, D: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Start: 19.9.
18.09.2019 - 10:58 Uhr
Drama