So energisch und ausdrücklich Reichardt im Gespräch die Missstände in ihrem Land benennen kann, so hintergründig, fast verhalten, argumentieren die Bilder des Films. Wie Wendy darauf reagiert, wenn ihr das Geld auszugehen droht; ihre Beherrschtheit in der Krise, ihre Pragmatik in den Handlungen, ihre Selbstversunkenheit, wenn sie im Gehen nur ein Lied vor sich her summt – ganz kleine, überlegte Schritte bestimmen den Fortgang. „Wendy ist keine Rebellin, sie versucht bloß zu überleben“, sagt Reichardt über ihre Figur. „Ich habe mich für dieses kleine persönliche Drama interessiert: dafür, wie Wendy es hinkriegt, diese Bürokratie zu bewältigen.“ Der italienische Neorealismus, aber auch das Neue Deutsche Kino haben die Regisseurin und Jon Raymond stilistisch inspiriert: „Filme, in denen sich Figuren sehr nahe an der Gesellschaft entlang bewegen.“ Man könnte noch aktuellere Beispiele hinzufügen, Filme der Brüder Dardenne, beispielsweise „Rosetta“.
Mit der großartigen Michelle Williams hat Reichardt einen uneitlen Star verpflichten können. Williams spielt Wendy mit nach innen gekehrtem Gestus, als zurückhaltende, defensive Frau, und wirkt dadurch umso verletzlicher. „Ich muss zugeben“, sagt Reichardt, „ich war den anderen nicht voraus.“ Williams sei ihr in „Brokeback Mountain“ aufgefallen, Todd Haynes habe sie bekannt gemacht: „Michelle kannte ‚Old Joy‘ und mochte den Freiraum, den die Schauspieler darin haben. Sie mochte auch die Idee, eine Figur zu spielen, die geradezu unsichtbar ist.“
Unsichtbarkeit ist ein gutes Stichwort für einen Film, der nebenbei auch ein Bild von Menschen zeichnet, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben. Wenn zu Beginn Güterzüge durchs Bild fahren, löst das Erinnerungen an Hobos aus, an jene Streuner, deren Leben in zahlreichen Songs idealisiert wurde. Doch die jungen Obdachlosen leben nicht aus Freiheitsliebe so. Sie reisen stets dem nächsten Auftrag hinterher. Reichardt zeigt auf, wie schnell es im gegenwärtigen Amerika – noch dezidiert jenes von George W. Bush – gehen kann, dass die Kontinuität eines Arbeitslebens abhanden kommt. „Es ging mir um die Idee der Rezession, darum, ständig an jeden Dollar denken zu müssen. Die Staaten bewegen sich rückwärts. Und wenn man sich umschaut, lassen sich überall Übriggebliebene finden“, erzählt Reichardt. In „Wendy and Lucy“ steht letztendlich die gesellschaftliche Solidarität unter Verdacht: Zusammenhalt ist mittlerweile eine Aufgabe, welche die Dienstleistungsindustrie verfolgt. Wer als arbeitender Nomade lebt, ist schnell außerhalb jedes Netzwerks, verschwindet von der Karte verzeichneter Existenzen.
Text: Dominik Kamalzadeh
tip-Bewertung: Herausragend
Orte und Zeiten: „Wendy and Lucy“ im Kino in Berlin
Wendy and Lucy, USA 2008; Regie: Kelly Reichardt; Darsteller: Michelle Williams (Wendy), Wally Dalto (Sicherheitsmann), Will Oldham (Icky); Farbe, 80 Minuten
Kinostart: 22. Oktober