Zurück aus den USA: „Wien vor der Nacht“ sucht Spuren jüdischen Lebens nach 1900

Nicht erst seit Donald Trump seine neue restriktive Herrschaft über die Grenzen der USA errichten will, enden Träume an den nordamerikanischen Einwanderungsbeamten. Robert Bobers Urgroßvater scheiterte Anfang des 20. Jahrhunderts am „Extreme Vetting“ in Ellis Island – Wolf Leib Fränkel, jüdischer Kunstschmied aus Przemysl, der mit 50 einen Neubeginn in den USA versuchen wollte. Das Geld reichte nur für sein Ticket, die große Familie sollte nachkommen. Er wurde zurückgeschickt, aber statt in die österreichisch-polnische K&K-Garnisonsstadt fuhr er nach Wien und wurde ein Bürger des jüdisch geprägten II. Wiener Gemeindebezirks, der Leopoldstadt, gelegen zwischen Donaukanal und Praterrummel.
Der Filmemacher Robert Bober hat Anfang der 1980er-Jahre gemeinsam mit dem Autor Georges Perec einen Essay-Film über die Spuren der Einwanderer von Ellis Island gedreht, in dem er Vergangenheit und Gegenwart überblendete. Nach seinen „Récits d’Ellis Island (1978-1980)“ ist „Wien vor der Nacht“ nun eine Erkundung des österreichischen Fin de Siècle, in dem sein Urgroßvater einen neuen Anfang suchte. Stefan Zweig, Joseph Roth und Kafka sind Bobers Referenzen, die er mit Bildern des modernen Wien, mit Spielfilmausschnitten und eigenen Gedanken zum jüdischem Leben in der Leopoldstadt verbindet.
Das Modell dafür liefert Max Ophüls’ „La Ronde“ („Der Reigen“, 1950) – wie dieser komponiert er sein umfassendes Bild der Wirklichkeit aus einem Kaleidoskop von Eindrücken, zwischen jüdischem Alltagsleben in den 20er- und 30er-Jahren und seiner Vernichtung nach dem Anschluss Österreichs ans NS-Reich. Nicht selten gewinnt hier die literarische Form über das Filmische, aber im Detail seiner auch tragischen Familienerzählung offenbart sich ein enormer (und ausufernder) Reichtum an Bezügen.
Wien vor der Nacht A/D/F 2016, 73 Min., R: Robert Bober, Start: 9.3.
