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Elektropop

Kluge Songs über die Unbehaglichkeit der Zeit: The Chap spielen in der Berghain Kantine

Die britisch-deutsche Band The Chap schreibt die klügsten Elektropop-Songs über die Unbehaglichkeit der Zeit. Mit ihrem neuen Album „Digital Technology“ sind sie trotzdem gescheitert – behaupten sie

v. l. n. r.: Keith Duncan, Panos Ghikas, Berit Immig, Claire Hope, Johannes von Weizsäcker

Manche behaupten ja, dass die Welt immer besser werde. Der US-amerikanische Psychologe Steven Pinker zum Beispiel glaubt das mit Statistiken belegen zu können. Schaut her, sagt er und tippt mit einem Zeigestab auf seine Tabellen und Diagramme: überall auf der Welt immer weniger Gewalt, Rassismus und Armut, immer mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand. Die Menschengeschichte: eine Geschichte der Vernunft und des Fortschritts. Dabei ist das eine Frage der Perspektive und der Daten-Auswahl. Andere Statistiken belegen, dass wir gerade unseren Planeten zugrunde richten. Und wenn man sich die Welt so anschaut, all die Polit-Clowns, Menschenfänger und demokratisch gewählten Faschisten, dann vergeht einem schnell der Fortschrittsoptimismus, da kann der Pinker noch so emsig auf seinen Tabellen beharren. Wer sagt, dass die Welt am Ende nicht doch den Bach runter geht?

Johannes von Weizsäcker, Großneffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard, und Keith Duncan haben zwar gute Laune, aber wenig Zuversicht. Für den Gitarristen und den Schlagzeuger liegt ein „sense of unease“ in der Luft, ein Gefühl der Unbehaglichkeit, für sie besteht kein Zweifel daran, dass sich die Menschheit ihr eigenes Grab schaufelt. „Als ich jung war, habe ich mich ja auf die Apokalypse gefreut“, erzählt Keith. Heute sei das anders, denn heute haben die beiden Musiker Kinder. Die müssen diesen Planeten auch in 50 Jahren noch bewohnen – und in einer Stunde vom Kindergarten abgeholt werden. Bis dahin bleibt noch ein wenig Zeit für einen Kaffee im Neuköllner Richardkiez, an einem dunkelkalten Novembernachmittag.

Als der verspätete Reporter hinzustößt, unterbrechen die beiden ihre Unterhaltung. Worum ging’s? „Ach, das Übliche: UK Election Misery“, winken sie ab. Das kein Ende nehmende Brexit-Trauerspiel unter Leitung des Chef-Dadaisten Boris Johnson betrifft die beiden nicht nur als Weltuntergangstheoretiker, sondern auch ganz praktisch in ihrer Arbeit, da ein Teil ihrer 2000 gegründeten Band The Chap noch in London lebt: der Bassist Panos Ghikas und die Keyboarderin Claire Hope. 

Dabei ist der Anlass des Treffens ein überaus erfreulicher: The Chap hat ein neues Album! Es heißt „Digital Technology“. Und dass es erscheint, ist schon deshalb erstaunlich, weil die vier sich gar nicht mehr so oft im Studio treffen können. Die Kinder, die Jobs, das Leben. Soweit die guten Nachrichten, dann leider wieder schlechte: „Wir sind mit diesem Album gescheitert“, erklären die beiden. „Denn wir wollten ja eigentlich ein Techno-Album machen.“

Schräg- und Schieflagen

Daraus wurde nichts. Es ist stattdessen so etwas wie ein Elektropop-Album geworden, das – wie immer bei The Chap – falsch klingen soll. Mit diesem Skurrilitäts-Anspruch sind sie zu Beginn der Nuller-Jahre angetreten. Seit nun 20 Jahren kommentieren The Chap die Weltlage mit schnipselhafter Pop- und Rockmusik, holprigen Rhythmen und Monty-Python-Humor. Im Jahr der Griechenlandkrise 2010 legten sie das sarkastische Album „Well Done Europe“ vor – mit dem vielsagenden Eröffnungstrack: „We’ll See To Your Breakdown“. Auch „The Show Must Go“, ihr bislang letztes Lebenszeichen, folgte 2015 dem Rezept aus Weirdness, Gesellschaftskritik und allerlei musikalischen Schräg- und Schieflagen, geprägt von der Beobachtung, dass etwas faul ist im Staate und überhaupt in der Welt. Auch am neuen The-Chap-Album stimmt etwas nicht, aber was?

Vielleicht liegt es am Titel: „Digital Technology“ – ein Scherz, sagen die beiden: Das klinge so schön veraltet, nach den frühen 90ern. Als würde Papa von seinem ersten Windows-Rechner erzählen, an dem er damals im Keller herumgeschraubt hat. Oder wie das internetunfähige Klapphandy, das vor Keith auf dem Tisch liegt. Ein steinzeitlich anmutender Knochen der Marke Kyocera. „Wasserfest“, sagt er stolz.  

Die zehn neuen Elektro-Pop-Songs verbindet stilistisch wenig miteinander, höchstens, dass sie alle irgendwie an das London der 90er-Jahre erinnern. Man wird nicht so recht schlau aus ihnen, aber eben diese Verwirrung gehört ja quasi zur DNA der Band. Trotzdem ein Versuch der Interpretation: „I Am The Emotion“ als ein Stück über Algorithmen, die sich ihrer Gefühlswelt bewusst werden und das kreativ zum Ausdruck bringen? „Don’t Say It Like That“ als Beitrag zu Hate Speech und Social Media? „Merch“ als albtraumhaftes Presslufthammerstück über den allgegenwärtigen Konsum-Irrsinn?

Johannes von Weizsäcker und Keith Duncan hören interessiert zu, nicken hier und da anerkennend, fast erleichtert. Vor dem Interview hätten sie gar nicht gewusst, worüber sie sprechen sollen. Es ist ja auch nicht die Aufgabe des Künstlers, seine Arbeit zu erklären. Dafür gibt es Musikjournalisten, die sich den Kopf darüber zerbrechen, für was der Delfin stehen könnte, von dem im Intro-Track „Bring Your Dolphin“ die Rede ist und für den es eine lebensweltliche Erklärung gibt: „Auf der Ukulele, die ich gespielt habe, war die Zeichnung eines Delfins“, sagt von Weizsäcker.

Zum Schluss, bevor die beiden los müssen, ist allerdings noch die Frage zu klären, ob der Mensch als solcher schlechter geworden ist. „Nein, die Menschen haben sich nicht verändert“, sind sie sich einig. Die Halb-Anonymität der Sozialen Medien lade sie nur dazu ein, noch brutaler zueinander zu sein. Wie es das Internet den Menschen überhaupt leichter gemacht habe, einander zu hassen. Deshalb muss man es streng genommen so machen wie Keith, der sich zwar als Nerd bezeichnet, aber nur an einem stationären Rechner zuhause ins Internet geht und offline ist, wenn er ihn ausschaltet. Vielleicht besteht darin ja die Rettung, zumindest an diesem kalten dunklen Novembernachmittag. Wenn man den Weltuntergang schon nicht verhindern kann, dann wenigstens mal das Internet ausschalten. Und The Chap hören natürlich.    

Kantine am Berghain Am Wriezener Bahnhof, Friedrichshain, Mi 22.1., 19.30 Uhr, VVK: 12,10 €

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