Kreuzberg ist ein mythischer Ort. Freiheit, Aufruhr, Kreativität stehen neben linken und alternativen Lebensentwürfen genauso für den Bezirk wie Ghetto-Attitüden, Gentrifizierung, Drogen und Kriminalität. Seit den 1970er-Jahren wird Kreuzberg in Songs besungen. Von Schlager und Klamauk über sanfte Balladen bis zum harten Gangsta-Rap reicht das Spektrum.
So richtig hat die musikalische Bezirksgeschichte leider Gottes mit dem Klamauk der Gebrüder Blattschuss und ihren „Kreuzberger Nächten“ begonnen. Obwohl schon einige Jahre zuvor die Ton Steine Scherben aus Kreuzberg heraus den Soundtrack der linken Szene erfanden. Gestandene Berliner Bands wie Element of Crime und die Einstürzenden Neubauten fanden in Kreuzberg ebenso Inspiration wie die englische Indie-Rock-Band Bloc Party und Anna Absolut aus Graz. Kreuzberg ist eben weltberühmt. Hier sind 12 wichtige, gute, nervige und herzzerreißende Songs über Kreuzberg.
Gebrüder Blattschuss: „Kreuzberger Nächte“
Das hätte auch schief gehen mit Kreuzberg. Denn außerhalb Berlins machten erst einmal die Klamauk-Barden Gebrüder Blattschuss mit ihrem Schenkelklopfer „Kreuzberger Nächte“ 1978 auf den Bezirk am Rande der Mauerstadt aufmerksam. Diese Zeilen kennt fast jeder: Kreuzberger Nächte sind lang. Kreuzberger Nächte sind lang. Erst fang sie ganz langsam an. Aber dann, aber dann.
Bevor man von „Klein Istanbul“ sprach, die Freaks und Punks nach SO 36 zogen und am 1. Mai die Steine flogen, galt Kreuzberg in den bundesrepublikanischen Köpfen dank der Kneipenhymne als eine bierselige Berliner Version der Reeperbahn.
Ton Steine Scherben: „Rauch-Haus-Song“
Dabei hätte man es besser wissen können. Schon 1972 sangen die Ton Steine Scherben jene legendären Worte: Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da, Und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas, Und er fragte irgendeinen: „Sag mal, ist hier heut ’n Fest?“. „Sowas ähnliches“, sagte einer, „das Bethanien wird besetzt“.
Mehr Kreuzberg-Folklore geht nicht. Die Scherben sind eine der wichtigsten Bands, die diese Stadt jemals hervorgebracht hat. Mit ihren Songs schufen sie ein neues linkes Selbstverständnis und bewiesen zugleich, dass die Verbindung von Musik und Protest nicht angestaubt sein muss und Rockmusik mit deutschen Texten funktionieren kann.
P. R. Kantate: „Görli Görli“
Kreuzberg ist nicht nur ein Politikum sondern auch ein Refugium, für Andersdenkende, für Hippies, Freaks, Kiffer, Künstler, die LGBT-Community und sonst alle, die aus dem Raster des vermeintlich „normalen“ herausfallen. Zumindest war es das lange, solange man dort noch die Mieten bezahlen konnte.
Der Sänger und MC P. R. Kantate widmete diesem Lebensgefühl rund um den Görlitzer Park seine lokalpatriotische Dancehall-Reggae-Hymne „Görli Görli“, ein Hit, der es 2003 gar auf Platz 39 der Charts schaffte. Immerhin. Schön die Zeilen: Türken spielen Futte im Görli. Deutschi Hippies machen Mucke im Görli. Die Schwarzen sitzen inna Gruppe im Görli. Und Punkers fragen nach ner Fluppe im Görli.
Element Of Crime: „Die Party am Schlesischen Tor“
Sven Regeners Romane, von „Herr Lehmann“ bis „Wiener Straße“, zeichnen ein abstruses wie grandioses Sittengemälde des Bezirks. Mit seiner Band Element of Crime nahm sich Regener 2018 auf dem Album „Schafe, Monster und Mäuse“ einmal mehr dem Kreuzberg-Topos an, diesmal als Song.
„Die Party am Schlesischen Tor“ steht für Kreuzberg als Projektionsfläche. Es ist ein Ort des Abenteuers, ein Versprechen und eine Verheißung. Für viele Berliner ist der Bezirk mit der Aufregung der Jugend verbunden. Mit wilden Partys, leidenschaftlichen Affären, extrem lauten Konzerten, ersten Drogenerfahrungen.
Bei Element of Crime vermischen sich hier verwehter Exzess mit Melancholie und niemand kann dieses ambivalente Kreuzberger Gefühl besser in Worte fassen als Sven Regener: Da wo die Hoffnung zu spät kommt. Und der U-Bahnhof stets überfüllt. Und ein freundliches Wort nie umsonst ist. Und ein guter Vorsatz nichts gilt. Da bin ich seit Jahren zu Hause. Da war’s wo ich dich verlor. Da tobt jeden Abend aufs Neue. Die Party am Schlesischen Tor.
Prinz Pi: „Königin von Kreuzberg“
Der ziemlich erfolgreiche Berliner Rapper Prinz Pi wurde in Charlottenburg geboren, wuchs schick in Schlachtensee auf, machte Abitur, sprühte und studierte an der Kunsthochschule Weißensee. An Kreuzberg kam er als Hip-Hopper nicht vorbei.
Neben Punk und Polit-Rock definiert auch Hip Hop den Bezirk. Das Image der harten Jungs, Graffitis an jeder Brandmauer, coole Urbanität am Kottbusser Tor – das passt zu der Vorstellung von einem Compton an der Spree. Prinz Pi hat gleich mehrmals Kreuzberg besungen, etwa mit dem „Kreuzberg Blues“.
In „Königin von Kreuzberg“ huldigte er 2011 den Kreuzberger Frauen, die dem Text nach cool, tough und schön sind – sexy gestählt im Kreuzberger Kiez: Du liest keine Vogue aus Italien. Hast mit 16 gewohnt in Bethanien. Du wurdest nicht groß bei den Zwergen. Deine Kinderlieder kamen von Ton, Steine, Scherben.
Funny van Dannen: „Urbanhafen“
Der Berliner Liedermacher Funny van Dannen hat eine ganze Weile in Kreuzberg gelebt, er hing mit den subversiven Künstlern um Klaus Theuerkaufs Galerie Endart rum, war neben der berühmten Kreuzberger Musikerin Christiane Rösinger Mitbegründer der Lassie Singers und hat in seinen charmant-melancholisch-lustigen Songs so ziemlich alles besungen, was man so besingen kann: Von der Schilddrüsenunterfunktion über Fruchtfliegen bis zu Nana Mouskouri.
1996 erschien Funny van Dannens schönes Album „Basics“ worauf sich mit „Urbanhafen“ auch ein Song über diesen besonderen Kreuzberger Ort findet: Wenn im Urbanhafen die Schwäne schlafen. Sind viele Menschen noch wach. Sie machen Liebe oder Blödsinn. Oder sie spielen noch Schach.
Anna Absolut: „Kreuzberg“
Die Kreuzberg-Idee funktioniert für Songwriter auch in der Umkehrung. Als negative Metapher. Denn man muss gar nicht am Kotti leben, um sich an dem Mythos abzuarbeiten. Die Grazer Indieband Anna Absolut hat 2019 einen ihrerseits lokalpatriotischen Gitarrenschrammler eingespielt, in dem sie ihre Heimatstadt besingen, die eben nicht Kreuzberg ist.
Das ist nicht Kreuzberg. Das ist nur Graz. Und trotzdem haben wir hier Spaß. Nicht Kreuzberg, nicht Kreuzberg. Vielleicht muss man in Graz sich so die eigene Existenz bestätigen, in der Abkehr von einem trügerischen Ideal, das Kreuzberg auch sein kann.
Marteria, Yasha & Miss Platnum: „Kreuzberg am Meer“
Ich kaufe mir ein Stück Land in Kreuzberg, im wunderschönen Kreuzberg am Meer. Dazu pluckern elektronische Beats über die sich geschmeidige Rap–Monologe und Uuh-Uuh-Chöre legen. Alles ist smooth, es geht um Gentrifizierung und Grasgeruch. Alles blüht, die coolen Oasen, die flirrenden Wunschträume, die der Bezirk, in dem sich längst die Haifische tummeln, gar nicht erfüllen kann.
2014 produzierten Marteria, Yasha & Miss Platnum den Track „Kreuzberg am Meer“, der tatsächlich auf der fünften Ausgabe der Compilation-Reihe „Berlin – Tag & Nacht“ erschien, dem Soundtrack zu der recht trashigen WG-Serie im deutschen Vorabendfernsehen.
Terrorgruppe: „Kreuzberg zuerst!“
Kreuzberg ist die Heimat des Punk, zumindest in Deutschland. Ab den späten 1970er-Jahren fand die in New York und London von Bands wie den Ramones und Sex Pistols losgetretene Welle auch in Berlin einen Widerhall. Das legendäre SO36 in der Oranienstraße gilt als der bedeutendste Konzertort der ersten Punk-Generation.
Zu der zählt die 1993 gegründete Deutschpunk-Band zwar nicht, aber mittlerweile gehören die Berliner um Archi „MC“ Motherfucker und Johnny Bottrop zu einer Institution der Szene. 1997 dichteten sie für ihr Album „Nonstop Aggropop“ die lokalpolitisch empörten Zeilen: Vetternwirtschaft, Korruption – Lobbyisten in Aktion. Schade um das schöne Geld. Wenn’s in falsche Hände fällt. Die KPD/RZ ist da – Politik wird wunderbar. Mit wenig Aufwand viel kassiert. Am Wählerwunsch nicht interessiert! Kreuzberg zuerst.
KPD/RZ steht übrigens für die 1988 am Lausitzer Platz (natürlich in Kreuzberg) gegründete linksradikale Spaßpartei Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum.
Agir: „Kreuzberger“
Von Anfang an ein Kreuzberger (Drei-sechs). Mann, ich fick‘ dein’n Kopf, so wie mein Deutschlehrer. Schläge gibt es mit dem Golfschläger. Alles echt, niemals fake, alles Gold, Digga. Im November 2020 erschien „Kreuzberger“ des 16-jährigen Agir, seitdem hat der Track knapp 500.000 Klicks auf Youtube versammelt, dem Instagram-Kanal des jungen Rappers folgen etwa 100.000 Leute.
Die Zutaten sind klar. Kreuzberg ist ein hartes Pflaster, man muss sich durchkämpfen, zusammenhalten, „real“ bleiben. Gewalt und Drogen sind an der Tagesordnung, wem das nicht passt, der bekommt aufs Maul. Auch das ist ein Teil der Kreuzberger Wirklichkeit, wenn auch kein allzu großer.
Einstürzende Neubauten: „Am Landwehrkanal“
Die Einstürzenden Neubauten waren nie wirklich eine Kreuzberger Band. Der verstörende Krach der frühen Jahre war den Punks zu kunstaffin, das spätere Werk vermutlich zu mondän. Die Bandmitglieder wohnen auch eher in Prenzlauer Berg oder Wedding, aber ganz falsch ist es nicht, die Neubauten bei einem Gang durch Kreuzberg im Ohr zu haben.
Auf „Alles in allem“, dem 2020er-Album, gibt es immerhin einen Song, der von Kreuzberg handeln könnte. Blixa Bargeld, erfasst von der Großstadtmelancholie, singt: Das trübe Gewässer fließt langsam vorbei. Schwarz und behäbig und nicht allzu tief. Behäbig und schwarz, nur einen Menschen tief. Ich sitze allein‘ am Landwehrkanal. Es ist möglich, dass er auch am Ufer in Tiergarten oder Charlottenburg saß, aber Kreuzberg scheint am wahrscheinlichsten.
Bloc Party: „Kreuzberg“
Mit Bloc Partys „Kreuzberg“ schaffte es der Bezirk spätestens 2007 in den internationalen Pop-Zirkus. Der einstige Sehnsuchtsort für Außenseiter, Künstler und Wehrdienstverweigerer, stieg in den 1990er und 2000er-Jahren zum mythischen Ziel des globalen Hipstertums auf. Hier wollte man leben, hier wollte man sein (oder nebenan in Neukölln).
Warum sonst würden die englischen Indie-Helden Bloc Party 2007 einen ihrer Songs „Kreuzberg“ nennen. Bei ihnen geht es um das Gefühl des Verlorenseins, der unerfüllten Liebe und der ewigen Suche nach etwas. Etwas unbestimmten. Vielleicht ist das was sie suchen ja Kreuzberg.
Unsere Kreuzberg-Playlist mit allen Songs – und ab dafür
Mehr Musik und Berlin
Es gibt mehr Verflechtungen von Berlin- und Musikgeschichte als nur Songs über Kreuzberg! David-Bowie-Straße in Berlin: Die Frage ist nur noch, wann und wo. Punk, Techno und Schlager: 12 mal Berlin auf dem Plattencover. Eine Ära ist zu Ende gegangen: Unser Abschied von Wolfgang Doebelings Radiosendung „Roots“. Und wer so richtig in der Musik aus Berlin abtauchen will: Hier sind die 12 wichtigsten Berliner Bands: Ärzte, Seeed, Pankow und mehr.