Kaum jemand hat so schnell auf Corona reagiert wie Andrej Hermlin. Seit dem 15. März überträgt der 54-jährige Pianist und Bandleader allabendlich unter dem Titel „The Music Goes Round And Around“ auf Facebook ein halbstündiges Konzert aus seinem Pankower Wohnzimmer. Im Interview spricht er über Soforthilfe, Solidarität und den sorgenvollen Blick in die Zukunft.
tipBerlin Herr Hermlin, seit Mitte März spielen Sie nun jeden Abend auf Facebook. Wird’s nicht langsam langweilig?
Andrej Hermlin Nein, überhaupt nicht. Schon, weil wir so viele Musikwünsche aus aller Welt bekommen, dass wir ständig Songs lernen, die wir noch nie vorher gespielt haben.
tipBerlin Und Sie spielen wirklich jeden Tag?
Andrej Hermlin Ja, das ist der Schwur, den ich geleistet habe. Wir spielen jeden Abend um 19 Uhr Berliner Zeit – bis diese Sache überstanden ist. Davon wird mich nichts und niemand abhalten. Und wenn es zwei Jahre dauert, dann dauert es zwei Jahre.
tipBerlin Wissen Sie, wie viele Menschen jeden Tag zuschauen?
Andrej Hermlin Das schwankt, liegt aber zwischen 500 und 1.500 Leuten täglich.
tipBerlin Sie lassen – wie Straßenmusiker – virtuell einen Hut rumgehen. Wieviel haben Sie bislang einsammeln können?
Andrej Hermlin Reich wird man damit nicht. Aber um Geld geht es ja auch nicht …
tipBerlin Worum geht es?
Andrej Hermlin Ganz einfach: Ein Leben ohne Musik, das ist für mich kein Leben. Ich hatte am 14. März noch einen kleinen Auftritt zusammen mit meinem Sohn im Yorckschlösschen. Da war schon klar, das ist jetzt der letzte Auftritt – und ich habe heulend am Klavier gesessen. Das war mir in 30 Jahren Beruf noch nie passiert, weil mir klar geworden ist, wie sehr ich diese Musik liebe und dass ich ohne sie nicht existieren kann. An diesem Abend habe ich beschlossen: Wir hören einfach nicht auf, wir spielen weiter – und zwar gleich am nächsten Tag. Denn Musik ist Hoffnung, ohne Musik wäre das Leben nur noch dunkel und schwarz – und das kann ich nicht akzeptieren.
„Ich wollte nicht, dass der Swing vergessen wird“
tipBerlin Geht es auch darum, mit den Fans in Kontakt zu bleiben und die eigene Marke zu erhalten?
Andrej Hermlin Na, ich hoffe doch, nicht so schnell vergessen zu werden. Was wahr ist an Ihrer Frage: Es geht darum, mit dem Publikum zusammen zu sein. Sehen Sie: Wir waren ja nicht nur eine Band, wir hatten immer auch eine Mission. Ich wollte nicht, dass der Swing vergessen wird, ich wollte, dass diese Musik weiterlebt. Und jetzt sind wir in einer Situation, in der die Musik zu sterben droht – und deswegen bauen wir jeden Tag eine unsichtbare, aber feste Brücke zu den Menschen, eine Brücke aus der Musik von Benny Goodman, Tommy Dorsey oder Count Basie.
tipBerlin Erst kürzlich haben Sie den Jazz-Standard „I’m Old Fashioned“ gespielt. Man kann das ja als Motto Ihres Schaffens sehen – ist es nicht ironisch, dass ausgerechnet Sie nun vorne dran sind, wenn es darum geht, die moderne Technik zu nutzen?
Andrej Hermlin Ach wissen Sie, die Musik, die wir spielen, war in den 30er- und 40er-Jahren überaus modern und hat sich aller moderner Technik bedient, die es damals gab. Swing war der letzte Schrei, wie das damals hieß. So sehr ich diese Musik liebe, sogar unser Haus ist so eingerichtet – aber ich lebe nicht im Jahr 1937, sondern im Jahr 2020. Ich verweigere mich nicht der Gegenwart – im Gegenteil: Wenn Menschen abtauchen in eine scheinbar schöne alte Zeit und in Nostalgie versinken, dann halte ich das sogar für gefährlich. Allerdings: Was heute gern gemacht wird, dass jeder Musiker in seinem Wohnzimmer allein was aufnimmt und das dann zusammengeschnitten wird, das wäre für mich nie eine Option. Wir wollen live spielen – und mit den Menschen direkt Verbindung aufnehmen.
„Wenn wir verzweifeln und aufgeben – das interessiert weder das Virus noch die Politik“
tipBerlin Wie sind die Reaktionen von Kollegen? Tauschen Sie sich aus, wie man mit der Krise umgeht?
Andrej Hermlin Wir sind kein Vorbild für andere geworden, wenn Sie das meinen. Ich habe eher den Eindruck, dass sich nach der ersten Schockstarre eine Lethargie breit macht. Manche spielen gar nicht mehr, andere üben für sich allein zuhause. Aber das ist gar nicht mein Naturell, ich bin jemand, der in Krisenzeiten aufblüht. Ich bin ein schlechter Aufgeber und Verlierer. Als Musiker muss man das machen, was man am besten kann: Musik – in welcher Form auch immer. Denn wenn wir verzweifeln und aufgeben – das interessiert weder das Virus noch die Politik.
tipBerlin Fühlen Sie sich als Künstler allein gelassen von der Politik?
Andrej Hermlin Ich lebe in Berlin und da muss man sagen: Der Senat, allen voran Klaus Lederer, hat versucht, für die Künstler und Solo-Selbstständigen was zu tun. Ich kenne viele Kollegen, die die Soforthilfe innerhalb weniger Tage bekommen haben. Verglichen mit anderen Ländern wie Italien oder Kenia, dem Heimatland meiner Frau, in dem die Menschen komplett allein gelassen werden, ist es beachtlich, was hier versucht wird. Was das große Ganze angeht: Ich bin kein Virologe und kein Politiker, aber ich glaube, wir werden erst in fünf oder zehn Jahren wissen, ob das die richtigen Maßnahmen waren. Und ich glaube nicht, dass wir zurückkehren können in ein Leben, wie wir es einmal gekannt haben.
tipBerlin Wie bereiten Sie sich als Musiker auf die nähere Zukunft vor?
Andrej Hermlin Natürlich denke ich strategisch, man muss als Musiker auch Weitblick haben, aber gerade macht es keinen Sinn zu planen, was in zwei oder sogar vier Monaten sein könnte. Und auf lange Sicht? Selbst wenn Auftritte wieder erlaubt sind, dann ist die Frage: Unter welchen Umständen? Wie soll man Musiker, Saalmiete, Technik finanzieren, wenn nur ein Viertel der Menschen in den Saal dürfen? Und kommen die Leute dann überhaupt oder haben Sie nach Monaten in Social Distancing nicht zu viel Furcht? Ich bin sicher kein Schwarzmaler, aber ich kann mich auch nicht selbst belügen: Ein paar Monate können das einige sicherlich durchhalten, aber wenn das anderthalb Jahre so geht, dann wird nicht mehr viel übrig bleiben von Kunst und Kultur.
„Wenn diese Krise einmal überwunden ist, sich das ausdrücken wird in einer tieferen Wertschätzung gegenüber Künstlern“
tipBerlin Haben Sie denn ein wenig Hoffnung, dass diese Krise auch positive Effekte haben wird für Künstler?
Andrej Hermlin Ja, ich hoffe darauf, dass den Menschen klar wird, wie wichtig Musik ist. Jetzt wird vielen bewusst, was man verloren hat. Man darf die Hoffnung haben, dass, wenn diese Krise einmal überwunden ist, sich das ausdrücken wird in einer tieferen Wertschätzung gegenüber Künstlern. Denn schlussendlich geht es gerade darum, dass nicht jeder an sich denkt, sondern Solidarität übt. Solidarität mit den Freunden, mit den Kollegen, mit Fremden, aber auch internationale Solidarität. Und da muss jeder bei sich selber anfangen: Ich frage mich oft in letzter Zeit, was ich falsch gemacht habe, ob ich nicht früher zu zufrieden, zu selbstgefällig, zu arrogant war. Ich versuche ein besserer Mensch zu werden. Und da bin ich keine Einzelerscheinung, ich kenne viele Menschen, die gerade viel nachdenken – und vielleicht kann daraus tatsächlich eine bessere Welt entstehen.
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