Artrock 2.0

Hypersexueller Angriff: Anna Calvi spielt im Astra

Anna Calvi sieht nicht ein, warum sie Grenzen ziehen sollte: Zwischen Frau und Mann, zwischen Oper und Berghain. Ihr aktuelles Album „Hunter“ ist ein feministisches Manifest – und ein beeindruckendes Update für den Artrock

Foto: Maisie Cousins

Wie würde Anna Calvi wohl als Mann wirken? Würden das muskulöse Gitarrenspiel in ihren Songs, die walls of sound und ihr dunkles Vibrato vielleicht nicht ermächtigend, sondern einschüchternd klingen? Wären wir befremdet davon, wenn sie sich in rotes Licht getaucht auf dem Boden winden würde, wie im vergangenen Sommer, bei ihrem gefeierten Konzert im Berghain – weil virtuose Gitarristen am Boden eigentlich nichts verloren haben? Solche Fragen kann man sich stellen, wenn Calvi in ihrem Song „As A Man“ darüber nachdenkt, wie es wohl wäre, als Mann in ihrem Körper zu leben. Und dann sollte man jene Gedanken ganz schnell vergessen.

Denn ginge es nach der Britin, würden wir uns so schnell wie möglich von solchen Zuschreibungen lösen: Wer sagt eigentlich, dass Männer hart und Frauen schwach sein müssen, dass es nur zwei Geschlechter gibt – und nicht unzählige? Auf „Hunter“, ihrem 2018 erschienenen, dritten Album, stellt Calvi scheinbare Gewissheiten in Frage – und liefert gleich noch eigene Antworten mit: Der Platte hat sie nicht weniger als ein feministisches Manifest beigegeben.

Anna Calvi ist im Angriffsmodus – das sieht man nur nicht, wenn man ihr bei einem Kaffee in Prenzlauer Berg gegenübersitzt. Dann spricht sie mit heller Stimme – so leise, dass man näher an sie heranrücken möchte, was man sich wiederum nicht traut: Mit ihrer extravaganten weiße Bluse, dem bleichen Gesicht und diesem irre intensiven Blick sieht Anna Calvi nicht aus wie jemand, dem man mal eben die Hand auf die Schulter legt oder einen Keks anbietet. Ein Fabelwesen wie David Bowie oder Grace Jones. The girl who fell to earth.

Seit Calvi 2011 mit ihrem selbstbetitelten Debüt die Bildfläche betreten hat, reibt sich die Musikwelt die Augen ob des Talents dieser Londonerin, die in ihrer Diva-Noir-haftigkeit irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt: Nick Cave nahm sie mit auf Tour, Marianne Faithfull und David Byrne kollaborierten mit ihr, und Brian Eno, ein früher Förderer und glühender Bewunderer von Calvis Musik, bezeichnete sie als „the best thing since Patti Smith“. Mit ihrer voluminösen Alt-Stimme und ihrem Hang zur großen Tod-und-Teufel-Metaphorik suchte Calvi auf ihren beiden ersten Alben die Synthese aus Zola Jesus, Maria Callas und den Bad Seeds; nun präsentiert sie sich, ob auf der Bühne oder auf dem Cover von „Hunter“, als feministische Kämpferin: mächtig und hypersexuell.

Es scheint, als sei Anna Calvi eine andere geworden. Dabei habe sie schon immer Schwierigkeiten gehabt, zu akzeptieren, was von einer Frau verlangt werde, sagt sie. „Als ich klein war, wollte ich lieber ein Junge sein, E-Gitarre oder Fußball spielen, in Autos rumfahren. Ich wollte kämpfen. Es war mir ein Horror, Kleidchen zu tragen und mit Puppen zu spielen.” In die Pubertät zu kommen, sei ein traumatisches Ereignis gewesen: Calvi wollte diese Stimme, diese Brüste, diesen weiblichen Körper nicht. Ihre Eltern, die als Psychologen arbeiten, hätten ihr zwar viele Freiheiten gelassen, sie fast wie einen Sohn behandelt; der eigene Körper aber blieb ihr fremd. „Erst als ich älter wurde, habe ich mich langsam in mein Frausein eingelebt”, sagt sie.

Doch um ihren Kampfesgeist zu entdecken, musste erst ihr Herz brechen: Eine achtjährige Beziehung endete, eine neue begann. „Meine neue Freundin hat mich dazu ermutigt, spielerischer zu sein und mich selbst zu erkunden. Das war für mich ein Katalysator, mehr nachzudenken, stärker zu hinterfragen, was Geschlecht für mich bedeutet”, sagt Calvi. Heute betrachtet sie sich selbst nicht mehr nur als Frau – sondern vielmehr als fluides Wesen, heute besonders feminin, morgen vielleicht gar nicht.
Einmal sensibilisiert für Rollenzuschreibungen, war es ihr nicht mehr möglich, Klischeedenken zu ignorieren. „Es ist in der Luft, die wir atmen“, sagt Calvi. „Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich frei davon bin, den Erwartungen an eine Frau entsprechen zu wollen. Aber zumindest erkenne ich heute Stereotype, wenn ich mit ihnen konfrontiert werde. Oft sind es nur dumme, kleine Gedanken – zum Beispiel, dass von Frauen im Berufsleben immer erwartet wird, zu lächeln. Wenn ein Mann aber unhöflich ist, hat man das Gefühl, er macht ja nur seinen Job.”

Es ist schon erstaunlich, dass Calvis Mittel zum Zweck, um ihren Freiheitskampf zu schlagen, gerade die Gitarre ist – schließlich war sich die Trendforschung ziemlich lange einig, dass das Instrument des alten, weißen Mannes nicht mehr zur Subversion tauge. Aber tatsächlich: Calvi, die besessen von Gitarren ist, seit sie als Achtjährige ein Live-Video von Jimi Hendrix in Woodstock sah, vertont queeres Begehren mittels Artrock.

Um das zu verstehen, muss man noch nicht einmal das Video zu „Don’t Beat The Girl Out of My Boy“ schauen, in dem sich Calvi einer Art Gruppenorgie mit geschlechtlich uneindeutigen Teilnehmer*innen hingibt, sondern einfach zuhören: wie auf „Hunter“ die Percussions donnern, das Vibraphon dröhnt, wie Calvi die Gitarre ächzen, stöhnen, sägen und klagen lässt, als sei sie ihre Seelenverlängerung hinein in die kalte Welt. Ihre rotsamtene Dramamusik steht mit einem Bein im Wave-Club, mit dem anderen auf der großen Opernbühne, klingt aber immer so sehr nach Fleisch und Blut, nach Körper und Schweiß, dass einem Calvis Botschaft mehr als deutlich wird: Jäger*in ist, wer jagen möchte – nicht, wer jagen darf.

Aber Songs wie „Alpha“ thematisieren nicht nur, dass Frauen stark und fordernd sein können, sondern auch explizit das Gegenstück dieses Gedankens: Auch Männer dürfen, ja müssen manchmal zart oder schwach sein. „Niemand ist nur Jäger, nur selbstbewusstes Alphatier“, sagt sie. „Ich wollte zeigen, was passiert, wenn ein Alphatier nach Hause kommt und die Tür hinter sich schließt.“

Klar seien heutige Machthaber wie Donald Trump Karikaturen der „Toxic Masculinity“, der destruktiven Männlichkeit, sagt Calvi – aber sie habe Hoffnung, dass gerade eine Generation heranwächst, die mit einem anderen Verständnis von Stärke aufwächst. „Ich meine, das Leben ist schwer genug, warum erlegen wir uns diese Restriktionen auf?“, fragt Calvi. Dass sie die Antwort kennt; dass sie weiß, wie viel Furcht wir blöden Menschen vor Veränderungen haben, verrät ihr Blick. Dass ihr nächstes Manifest mit Sicherheit kommen wird, auch.

Astra Revaler Str. 99, Friedrichshain, Fr 18.1., 20 Uhr, VVK 28 €

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