Clubs

Brox+1 porträtiert die „Raves in Ruinen“ im Berlin der 1990er-Jahre

Der Fotograf Christian Brox und die Autoren Tobias Rapp und Anton Waldt sind die Schöpfer von Brox+1, ein Bildband über die Berliner Partyszene und ihre Rave ins Ruin in den 1990er-Jahren. Rapp und Waldt gehörten zu einer Clique von Menschen, die das Glück hatten, Anfang der 1990er-Jahre junge Erwachsene zu sein – und erlebten aus diesem Grund ein unvergleichliches Berlin. Es war von der Euphorie des Mauerfalls geprägt, von verfallenen Gebäuden im Osten der Stadt und dem fehlenden Überblick der Behörden darüber, wo eigentlich noch jemand wohnte oder arbeitete, und wo nicht. Vom Großwerden des Techno. Die Musik aus Detroit fand im chaotischen, halb leeren aber von Kreativen so vollen Berlin den idealen Nährboden.

Waldt beschreibt die 1990er-Jahre als Zeit, in der „glückliche Kinder durch die Ruinen tanzten und die Stadt für ein kurzes Jahrzehnt nichts werden musste und nur sein durfte.“ In einem dicken großformatigen Bildband zeigt der Verlag Favoritenpresse ausgewählte Bilder von Christian Brox, kommentiert von Tobias Rapp und Anton Waldt.

Es gibt schon eine Menge, manchmal auch unangenehm nostalgisches, Material zu den wilden 1990er-Jahren. Aber das vollgestopfte Berlin von heute mit der Mercedes-Benz-Arena dort, wo mal das Ostgut war und einem Mitte, wo ab 10 Uhr tote Hose ist, verleitet schon auch dazu, von Technokellern und Afterhours in riesigen Altbauwohnungen zu träumen. Die Bilder von Brox zeigen genau das: Haufen von Menschen, die einen vom Boden aus durch verrauchte Luft anblicken, improvisierte Dancefloors, ein seltsam leeres Berlin mit eckigen Autos auf den Straßen. Hier zeigen wir zusammen mit einigen Zitaten eine Auswahl der Fotos aus dem Bildband.

Brox+1 nimmt einen mit in die Clubszene der 1990er-Jahre in Berlin.
Foto: Christian Brox

Raves in Fabrikhallen, Raves in kuriosen Gebäuden wie dem „Ahornblatt“ an der Fischerinsel, wo der Club Exit kurze Zeit zu Hause war, Raves in einem ehemaligen Tresor. „Die Neunzigerjahre waren eine einzige große Zwischennutzung“, schreibt Tobias Rapp. „In diesem großen Ostberlin [gab es] immer neue Orte, um auszuweichen. Neue Locations, neue Stadtteile. Dort ging es dann weiter. Aber wahrscheinlich ist deshalb davon auch nichts geblieben. Die Schönheit dieser Zeit lag gerade in ihrer Flüchtigkeit.“

Brox+1 nimmt einen mit in die Clubszene der 1990er-Jahre in Berlin.
Foto: Christian Brox

„Die Clubs trugen Namen, in denen sich die Überraschung darüber kommunizierte, dass sie an diesen Orten untergekommen waren“, schreibt Tobias Rapp. „Tresor, E-Werk, Friseur, WMF, Elektro. Es gab eine Weile lang Bars, die nach den Wochentagen hießen, an denen sie geöffnet waren. Montagsbar, Mittwochsbar.“ Der Friseur war ein kleiner Club in einem Haus in der Kronenstraße in Mitte und hatte laut Rapp 1994 seine beste Zeit.

Foto: Christian Brox

In den Tag hinein leben, die Wochenenden an sich vorbeirauschen lassen, das geht am besten, wenn man einen Ort hat, den man ein bisschen gestalten kann und einen Haufen Freund:innen um sich herum, die auch genau darauf Bock haben. Nur die Freiräume, die man sich zu eigen machen kann, sind in Berlin rar geworden. Vielleicht sind deswegen heute Festivals so viel beliebter als früher – weil man sich auf einem Acker irgendwo in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern Möglichkeiten schafft, etwas aufzuziehen.

Brox+1 nimmt einen mit in die Clubszene der 1990er-Jahre in Berlin.
Foto: Christian Brox

Über den Friseur schreibt Tobias Rapp weiter: „Ich kann mich noch gut an einen Sonntagmorgen vor dem „Friseur“ erinnern, einem kleinen Club in der Kronenstraße in Mitte, als ich das Gefühl hatte, der neue Kapitalismus komme immer näher und fresse unsere Welt auf. Um die Ecke entstand gerade das Kaufhaus „Galerie Lafayette“. Auch das Gebäude des „Friseur“ würde saniert werden. „Bald ist es alles vorbei“, sagte ich zu einem Freund. So war es dann auch.“

Foto: Christian Brox

Früher durften noch Autos auf dem Mittelstreifen der Frankfurter Allee parken. Sie allein dürften aber nicht verantwortlich gewesen sein für die ergrauten Fassaden: Da hatten auch die vielen Kachelöfen in der Stadt ihren Anteil dran, die bei bestimmten Wetterlagen auch in den 1990er-Jahren für schlechte Sicht sorgten. Und es war leer in der Stadt.

Rapp schreibt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg war Berlin nicht nur schrecklich kaputt, sondern auch herrlich leer: In beiden Halbstädten wohnten zusammengenommen nur noch 3 Millionen Menschen, wo sich einst 4,5 Millionen getummelt und gedrängt hatten. Im ersten Jahrzehnt nach dem Mauerfall änderte sich daran zunächst nichts, statt regem Zustrom erfuhr man einen leichten Einwohnerschwund ins Umland. Besonders viele Touristen verirrten sich auch nicht in die Stadt, jedenfalls nach heutigen Maßstäben: So viele Besucher wie zu Beginn der 1990er-Jahre in einem ganzen Jahr inhaliert Berlin inzwischen an einem einzigen Osterwochenende.“

Foto: Christian Brox

Sich kurz hinsetzen und sich dann stundenlang verquatschen, sowas passiert, seit es Partys gibt. In den Clubs der 90er-Jahre waren die Ecken, in denen das ging, aber noch ein bisschen improvisierter und staubiger, als sie es heute sind.

Foto: Christian Brox

Die Zugänge zu den Dächern der Stadt waren in den 1990er-Jahren größtenteils offen. Und weil Berlin ein Meer aus aneinander grenzenden Flachdächern ist, konnte man einfach über dem Lärm der Stadt spazieren gehen, kilometerweit. Oder man feierte dort. Legendär ist ja die Szene in Wolfgang Herrndorfs „In Plüschgewittern“, wo eine Frau bei einer Party vom Dach fällt – und überlebt, weil sie auf einem Balkon wenige Meter darunter landet.

Brox+1 nimmt einen mit in die Clubszene der 1990er-Jahre in Berlin.
Foto: Christian Brox

Die Menschen auf Brox‘ Bildern tragen zwar oft die 1990er-Mode, die seit ein paar Jahren großes Comeback feiert: Spaghettiträger-Tops, Camouflage-Hosen, Plateau-Schuhe. Sie sehen aber lange nicht so durchgestylt aus wie die Crowd in den Clubs heute. Das Bild oben von der Loveparade zeigt’s. Rapp schreibt: „Es war dreckig und staubig in Ostberlin, dementsprechend zog man sich an. Als uns einmal ein Freund aus Köln besuchte, der teure Clubwear-Klamotten im Military-Style trug, schüttelten wir den Kopf: Wieso keine echten Camo-Hosen und Bomberjacken aus dem Army-Shop? Die Vorstellung, man könne zum Shoppen nach Berlin-Mitte kommen, war damals abwegig. Es gab schlicht keine Boutiquen.“

Foto: Christian Brox

Bei einem anderen großen Straßenfest, dem Karneval der Kulturen, der 1996 zum ersten Mal stattfand, war die Clubszene anfangs auch vertreten. Dort spielte laut Rapp Drum’n’Bass eine herausragende Rolle. Auf dem Bild oben, schreibt Rapp, erobern die Rave-Karnevalisten gerade die Ruine des am 1. Mai geplünderten und ausgebrannten Bolle-Supermarkts in der Wiener Straße.

Foto: Christian Brox Brox

In den 1990er-Jahren, schreiben Waldt und Rapp, „avancierte nicht zufällig ein notorisch bescheidener Künstler zum Posterboy der Club Art: Jim Avignon pinselte seine Werke gerne in Rekordzeit auf Malerpappe und zwar vor Ort der jeweiligen Ausstellung, um sich anschließend daran zu erfreuen, wie Vernissage-Besucher am Ende des Abends ihre Lieblingsbilder einfach mitnahmen.“ Auf dem Bild oben haben Avignon und sein Kollege Dag das WMF in der Johannisstraße mit ihrer Kunst geschmückt.

Foto: Christian Brox

Über die Gegend nördlich vom Alexanderplatz schreiben Rapp und Waldt: „Entsprechend der engen, kleinteiligen Bebauung dominierte hier ein vielfältiges Mosaik oft winziger, eigenwilliger Läden wie dem Eimer mit einem höhlenartigen Raum über drei Stockwerke, dem Sexiland unter der Straßenbahn- Haltestelle am Rosi oder dem Club 4 Chunk in einem Barackenkeller mit Lehmboden. Etwas größere Clubs fanden sich an den Rändern der Partyzone, darunter Berlins erster und einziger amtlicher Gabba-Laden im namensgebenden Bunker in der Reinhardtstraße, das Suicide in der Dircksenstraße, dessen x-ter Nachfolger noch heute in Betrieb ist, und gleich drei WMF-Dependancen.“

Foto: Christian Brox

Eins war offenbar schon früher so: Alle sind ein bisschen DJ. Den Bildband könnt ihr übrigens hier kaufen.


Mehr zum Thema

Falls ihr noch ein bisschen mehr zurückblicken wollt: Diese Clubs gehörten zu den prägendsten im Berlin der 1990er-Jahre. „Wir haben gar nicht damit gerechnet, 50 zu werden.“ Hier haben wir den ehemaligen Frontpage-Fotografen Tilman Brembs gesprochen, der einen Großteil der 1990er-Jahre in Clubs verbracht hat. Auch die Mauerstadt hatte legendäre Clubs, die aber schon lange geschlossen sind. Wir präsentieren 12 West-Berliner Clubs und Bars, die nicht mehr existieren. Und wie die Berliner Feier-Kultur aussieht, könnt ihr in unserem Stück „Berliner Nachtleben in Bildern: Pagani hält drauf, andere feiern“ nachlesen. Alles weitere in unserer Club-Rubrik.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad