Der CSD 2020 in Berlin fällt nicht aus – findet aber auch nicht so statt, wie wir es gewohnt sind. Keine Parade (auch, wenn diverse Facebook-Events den Eindruck vermitteln), dafür ein Live-Stream mit vielen Künstler*innen und Aktivist*innen. Der Berliner Verein, der jedes Jahr das Mega-Event mit Dutzenden Trucks und Hunderttausenden Besucher*innen organisiert, setzt auf digitale Sichtbarkeit. Gleichzeitig gibt es Alternativen, die ohnehin endlich mehr Aufmerksamkeit brauchen. Ein Kommentar.
Tatsächlich ist der CSD in der partywütigen Hauptstadt ein fixer Termin für alle Menschen, die auf Großevents mit Musik stehen. Warum auch nicht: Behutsam tuckern Trucks durch die Straßen vom Ku’damm bis zum Brandenburger Tor, spielen von Schlager bis Techno für so ziemlich jeden Geschmack etwas (wobei – Jazz-Fans haben es schwer). Dazu geht es um eine gute Sache, nämlich Menschenrechte: das Leben, die Liebe, die Libido.
CSD ist zunehmend in Kritik geraten
Trotzdem ist in den vergangenen Jahren auch zunehmend Kritik laut geworden. Denn der CSD, das steht außer Frage, ist Opfer seine Größe: Der Anspruch, möglichst groß zu werden, hat viel vom ursprünglichen Geist aufgefressen. Stonewall – bei den Aufständen in New York waren vor allem Schwarze trans*-Frauen ganz vorne dabei – hält als Motto her. Gleichzeitig stellen sich viele, die nicht weiß, schwul und somit innerhalb der LGBTQIA+-Welt noch recht privilegiert sind, die Frage, wo und wie sie wahrgenommen werden.
Gleichzeitig tanzen die Massen neben Trucks von Banken, die in den USA die Trump-Partei unterstützen. Oder neben dem von der CDU. Klar, ein Mega-Event muss finanziert werden. Aber um jeden Preis?
Die Organisatoren sind stolz auf die Sichtbarkeit, die Größe des Umzugs, der Berlins Mitte verkehrstechnisch einfach mal den halben Tag lahmlegt. Aber wie viel Wirkung haben die Bilder der aufgekratzen Spaßfraktion wirklich? Wie viel der reingebauten politischen Botschaft kommt nach dem fünften Sektchen bei 30 Grad eigentlich noch an? Welcher Gestrige öffnet seine Gedanken endlich für die Vorstellung, dass auch andere Modelle als das Normative – die Heterosexualität – in Frage kommen können?
Dyke March, ACSD – es gibt genug Alternativen zum Demonstrieren
Für viele ist der CSD auch ein Jahrmarkt des Skurrilen. Die lustigen Transen, die lustigen Fetischvögel mit den Hundemasken, die lustigen Lesben mit den Kurzhaarschnitten. Hauptsache, am Ende noch Melanie C. vorm Tor sehen und Bungeejumping auf der Straße des 17. Juni.
In diesem Jahr gab es als Reaktion auf die Absage des CSD eine Pride-Parade mit betonter politischer Ausrichtung, 5.000 Leute kamen. Zum Protest von Black-Lives-Matter am Alexanderplatz reisten deutlich mehr – eine Bewegung, die bewusst Trans*Menschen inkludiert. Der Dyke*Marsch für lesbische Sichtbarkeit tritt am Tag des digitalen CSD, dem 25. Juli, den Weg vom Alexanderplatz (15 Uhr) zum Brandenburger Tor an. In Kreuzberg beginnt am selben Tag um 18 Uhr der Anarchistische CSD. Und dann der klassische CSD, zehn Stunden online. Dass es den großen Umzug nicht gibt, ist wahrlich kein Drama.
Aufmerksamkeit mal nicht nur bis zum nächsten Techno-Truck
Unterschiedliche Veranstaltungen, die doch eins eint: Eine klare politische Message, ein offensives Eintreten für Menschenrechte. Deren Zustand ist auch in Deutschland noch kein Grund zum Feiern. Gleichzeitig, und dafür darf der CSD vielleicht auch seine Rolle als Kommerz-Event ausfüllen, dürfen wir uns auch feiern, für alles, was erreicht worden ist.
In diesem Jahr ist alles anders. Die ganz große Show fällt aus. Dafür gibt es die Chance, dass all die Brände am Rand der Hauptstraße nicht übersehen werden, weil die Feuerwehr am Brandenburger Tor aufspielt. Sichtbarkeit bleibt wichtig, denn wir sind lange noch nicht am Ziel – möge das Spaßvolk, dass den CSD so groß macht, seine Aufmerksamkeit weiter als bis zum Truck mit der besten Musik lenken.
Dyke March ab 15 Uhr, Anarchistischer CSD ab 18 Uhr, zudem LGBTempelhof-Meeting auf dem Tempelhofer Feld. Der CSD findet vor allem online statt, alle Infos hier.