Gegen das Vergessen: Zum sechsten Mal kämpft „Heroines of Sound“ nun schon dafür, dass Komponistinnen und Musikerinnen endlich den Platz in der Musikgeschichte bekommen, der ihnen zusteht
Sag bloß keiner, dass es sie nicht gegeben hätte, die Heldinnen in der Musik. Komponistinnen und Künstlerinnen haben gerade die jüngere Musikgeschichte entscheidend mitgeprägt – und das, obwohl ihnen im Lauf der Jahre dicke Steine in den Weg gelegt wurden. Als etwa die britische Synthesizerpionierin Delia Derbyshire (1937–2001) mit einem Musikdiplom in der Tasche Ende der 50er-Jahre bei Decca Records vorstellig wurde, teilte man ihr kurz und bündig mit, dass „für Frauen kein Platz im Studio“ sei. Nicht nur ihr blieb lange die Anerkennung versagt, ähnlich erging es Komponistinnen wie Laurie Spiegel und Suzanne Ciani, Industrial-Music-Mitbegründerin Cosey Fanni Tutti oder DJ-Legende Colleen „Cosmo“ Murphy. Um mal einige – sehr, sehr wenige – zu nennen.
Für die Berliner Dramaturgin und Kuratorin Bettina Wackernagel war die männliche Hegemonie in der Musikgeschichtsschreibung ein Grund, vor fünf Jahren das Festival Heroines Of Sound ins Leben zu rufen. „Es gab einfach sehr viel tolle Musik von Künstlerinnen, die ich nicht ausreichend repräsentiert sah“, sagt Wackernagel, die zum Gespräch ins Café des HAU gekommen ist. „Viele Musikerinnen und Komponistinnen sind in der Vergangenheit einfach systematisch aus der Musikgeschichte herausgeschrieben worden. Deshalb wollten wir einerseits eine historische Perspektive aufzeigen und andererseits Verbindungslinien in die Gegenwart ziehen.“
Vom 12. bis 14. Juli wird nun bereits die sechste Ausgabe des Festivals im Radialsystem über die Bühne gehen. Auch dieses Jahr kann man – neben zeitgenössischen Künstlerinnen, die auftreten – vergessene und vernachlässigte Komponistinnen wie Éliane Radigue und US-Komponistin Maryanne Amacher in Soundinstallationen und Videobeiträgen (wieder-)entdecken.
Genau deshalb ist das Heroines Of Sound in den vergangenen Jahren auch zu einem hochprioritären Save-The-Date-Termin geworden: weil man weiß, dass man während des Festivals etwas Spannendes entdecken wird, das man zuvor noch nicht kannte. In diesem Jahr zum Beispiel die internationale experimentelle Musikszene Berlins – mit Schwerpunkt Lateinamerika. Die argentinische Produzentin Tatiana Heuman ist genauso zu Gast wie die chilenische Klangkünstlerin Paula Schopf und die brasilianische Komponistin und Performerin Laura Mello. Sie alle werden nicht nur auftreten, sondern auch in einem Talk über die elektronische Musikszene und Gender in Südamerika diskutieren.
Laura Mello, die neben Wackernagel zum Interview mit dem tip gekommen ist, kann nur spöttisch lachen, als ich sie nach weiblichen Role Models während ihrer Studienzeit frage. „Sechs Jahre habe ich Komposition studiert – wie viele Frauennamen wurden während dieser Zeit erwähnt?“, fragt sie – und gibt die Antwort gleich selbst: „Ich habe eigentlich so gut wie ausschließlich männliche Komponisten kennengelernt: Cage, Bach, Beethoven, Wagner, Stockhausen, Gilberto Mendes, Heitor Villa-Lobos und so weiter.“
Mello, Jahrgang 1972, hat zunächst in Brasilien Komposition, später in Wien Elektroakustische Musik studiert. Jenseits der akademischen Lehre, zum Teil auch außerhalb ihrer Disziplin, fand sie dann aber Frauen, die sie inspiriert und geprägt haben: „Ich stand ziemlich auf Rita Lee von Os Mutantes, die ja von ihrer Band fast rausgeekelt wurde. Später, so mit 18, entdeckte ich Laurie Anderson“, sagt sie. Als Heldinnen oder Vorbilder will sie diese Musikerinnen zwar nicht bezeichnen, nichtsdestotrotz hätte sie sich natürlich mehr Frauen in ihrem Fach gewünscht. „Wenn man in der Ausbildung nur männliche Vorbilder hat, ist es schwerer, sich mit ihnen zu identifizieren und sich selbst in der Rolle der Komponistin und Musikerin zu sehen.“ Unter den Studentinnen und Dozentinnen seien ihre Geschlechtsgenossinnen ebenfalls deutlich in der Minderheit gewesen – nicht gerade erbaulich im Hinblick auf eine Musikerinnenkarriere. Heute unterrichtet Mello bisweilen selbst, zuletzt etwa an der Bayreuther Universität. „Ich fühle mich natürlich verpflichtet, auch mit Werken von Frauen zu arbeiten. Allein deshalb, um die Welt zu repräsentieren, wie sie ist: fifty-fifty.“
In ihrer eigenen Arbeit begegnet Mello Ungerechtigkeiten und -gleichheiten gern mit Humor – wie ihr gesamtes Werk von sprachlichem Witz, auch von dadaistischen Anleihen durchzogen ist. Bei ihrer Heroines-Performance wird sie mit eingesprochenen Werbespots arbeiten, die sie fünf Musikerinnen und Musikern vorlegt, damit diese sie mit Instrumenten in Klang umformen. Auch von einer Musikerkennungssoftware lässt Mello das Sprachmaterial dechiffrieren und neu deuten, um herauszufinden, was die Algorithmen mit dem Sprachmaterial anstellen.
Festivalleiterin Bettina Wackernagel ist noch wichtig zu erwähnen, dass Heroines Of Sound sich zwar natürlich als feministisches Festival verstehe, nicht aber als Frauen-Musikfestival. Denn zum einen träten auch Männer in den Ensembles auf, zum anderen ist die Kuratorin stolz auf das gemischt(geschlechtlich)e Publikum, das jedes Jahr kommt. „Und im Grunde ist das Ziel natürlich, über diesen binären Code hinwegzukommen. Wir wollen Künstlerinnen und Künstler ja nicht qua Geschlecht klassifizieren“, ergänzt Wackernagel, „aber aktuell müssen wir eben noch kämpfen, damit Künstlerinnen überhaupt wahrgenommen werden.“
Radialsystem V Holzmarktstr. 33, Fr 12.–So 14.7., Festivalticket 45/ erm. 32 €, Tagesticket 18/ 14 €