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„MADEIRADiG“: Ein Festival für Menschen, die keine Festivals mögen 

Knapp 15 Jahre lang verwandelte sich beim „MADEIRADiG“-Festival stets Anfang Dezember das kleine Küstendorf Ponta do Sol an der Südseite der portugiesischen Atlantikinsel Madeira zu einem intimen Festival für Noise, Avantgarde und Experimental-Musik. Dahinter stand der Berliner Musikkurator und „Kiezsalon“-Erfinder Michael Rosen. 2024 hieß es Abschiednehmen vom Krach unter Palmen. 

Konzert von Nik Cold Void und Maotik beim „MADEIRADiG“-Festival 2024. Foto: Imago/ Votos-Roland Owsnitzki

Wellness-Annehmlichkeiten, Naturerlebnisse und die allabendlichen Konzerte: „MADEIRADiG“-Festival

Morgens ein paar Bahnen im Infinity-Pool ziehen, über den spektakulären Atlantik schauen, danach ein feudales Frühstück im Hotelrestaurant mit frischen Passionsfrüchten und Ei à la carte, später auf den großzügigen Liegen fläzen oder eine Wanderung in die nebelverhangenen Berge unternehmen, an den Levadas, den traditionellen künstlichen Wasserläufen entlang, zu dramatisch hinabbrausenden Wasserfällen und spektakulären Ausblicken. Oder mit dem Segelboot rausfahren, um Wale und Delfine zu beobachten, nur auf sein Smartphone sollte man dabei aufpassen: Fällt es einmal in den Atlantik, bleibt es dort auch.

Und dann, beim anschließenden Schlendergang durchs Dorf, in einem der beiden Festivalhotels, an der Strandbar oder im einst gerühmten, heute nur noch durchschnittlichen Restaurant an der Steilklippe oberhalb des Strands von Ponta do Sol trifft man dann zwangsläufig auf andere Festivalbesucher:innen. Menschen, denen man sonst nachts in Neuköllner Krachgalerien, Friedrichshainer Clubs oder umgewidmeten Industriehallen am Berliner Stadtrand begegnet, sieht man hier plötzlich bei Tageslicht. Denn Ziel und Grund der Reise sind neben Wellness-Annehmlichkeiten und Naturerlebnissen die allabendlichen Konzerte – das „MADEIRADiG“-Festival. 

Zwei große Shuttlebusse befördern die Gäste allabendlich zum MUDAS – Museu de Arte Contemporânea da Madeira im etwa 20 Minuten entfernten Calheta, dem Spielort, an dem außer dem Auftakt- und Abschlusskonzert, das von dem Berliner Michael Rosen und dem Madeirer Rafael Biscoit kuratierte Programm stattfindet. In diesem Jahr teilten sich unter anderem der experimentelle New Yorker Gitarrist David Grubbs, das Berliner Trio Contagious, die britische DJ und Produzentin NikNak, das Elektronik-Duo Nik Cold Void und Maotik, der in Berlin lebende norwegische Über-Saxofonist Bendik Giske und die überragende Noise-Performerin Evicshen aus Kalifornien die atlantische Bühne. Über ebendiese Kombination aus Harsh Noise und Wellness-Urlaub schrieb einst „MADEIRADiG“-Ultra Jens Balzer den lesenswerten Text „Nihilistischer Lärm in entspannter Atmosphäre“. 

„Berlin unter Palmen“, auch so hat mal jemand das Festival bezeichnet

„Berlin unter Palmen“, auch so hat mal jemand das Festival bezeichnet, das wie ein UFO auf der Insel landet und für etwas Unruhe in dem ansonsten vor allem bei nordeuropäischen Senioren beliebten Urlaubsziel sorgt. Die Idee dazu kam von Michael Rosen, der in Berlin seit Jahren den „Kiezsalon“ organisiert, eine lose über die Stadt verteilte Konzertreihe, die sich ebenfalls Musik weitab des Mainstreams widmet und nicht selten Acts, Bands und Solokünstler:innen erstmals in Berlin präsentiert.

Rosen ist ein Entdecker. Vor 15 Jahren arbeitete er als Head of IT für Design Hotels, ein deutsches Unternehmen, das eine kuratierte Auswahl der schönsten und authentischsten Hotels der Welt zusammenstellt. Dazu gehörte auch das Estalagem da Ponta do Sol. Ein beeindruckendes Luxushotel aus Betonminimalismus, weißen Wänden, sattgrünem Rasen und himmelblauem Pool, auf einer Klippe errichtet. In einem Wort: spektakulär. Doch in den ersten beiden Dezemberwochen kamen kaum Gäste, dafür gab es die Idee für ein Musikfestival. Eine Kollegin von Design Hotels machte Rosen auf die Sache aufmerksam, er kontaktierte die Betreiber:innen und so kam eines zum anderen. 

Konzert von Evicshen beim „MADEIRADiG“-Festival 2024. Foto: Imago/ Votos-Roland Owsnitzki

Es gab das Hotel, das für die Infrastruktur des Festivals sorgte, mit Rafael Biscoi einen lokalen Kulturschaffenden, der sich um die Finanzierung und Produktion kümmerte, und Rosen brachte die interessanten Leute auf die Insel und wurde mit der Zeit zum Gesicht von MADEIRADiG, auch weil Biscoi sich der Legende nach zwar für absonderliche Klänge interessierte, ihm die Gattung Mensch aber eher suspekt ist und er lieber introvertiert im Hintergrund bleibt. „Es war ein Traum“, sagt Rosen, „gleich im ersten Jahr dachte ich, das ist das schönste Festival der Welt, jetzt würde ich sagen, das schönste Boutique-Festival der Welt.“ Denn mit 200 bis 300 Menschen, dem Aufenthalt in einem Hotel und Essen in guten Restaurants mitsamt eines herausragenden Mitternachtsbuffets, Madeira-Wein und Poncha-Cocktails, einer lokalen Spezialität aus madeirischem Brand aus Zuckerrohrsaft und den omnipräsenten Maracujas, ist „MADEIRADiG“ denkbar weit weg von Zeltplätzen, Dixi-Toiletten und Menschenmassen.

Michael Rosen: „Being unpredictable, unvorhersehbar sein“

Das liegt natürlich auch an der musikalischen Ausrichtung. Noise, Improvisation, experimentelle Elektronik sind nicht unbedingt massentauglich, aber darum ging es bei „MADEIRADiG“ auch nie. Zwar musste man auf die Insel kommen, aber die Hotelpreise lagen hierfür unter dem Jahresschnitt, und auch die Konzerttickets waren immer günstig, sodass neben dem eingeflogenen Publikum auch die lokalen Musikfans vorbeikamen. Schließlich konnte man bei dem Festival Musik erleben, die es auf Madeira sonst nie gab. „Am Anfang waren wir schon konventioneller“, erinnert sich Rosen, „aber nach ein paar Jahren haben wir gedacht, wir haben diese Insel, wir haben dieses wahnsinnig schöne Festival, wir sind sowieso immer gut besucht, also können wird eigentlich machen, was wir wollen, und dann kam dieses Schlagwort von mir: Being unpredictable, unvorhersehbar sein.“   

Der experimentelle Elektronikmusiker Oneohtrix Point Never kam, als noch nicht die ganze Welt von ihm sprach, so auch Ben Frost, der australisch-isländische Filmkomponist und Ambient-Erneuerer, die Komponistin Kali Malone, die kürzlich mit ihrer Orgelmusik zwei ausverkaufte Konzerte in der Berliner Gedächtniskirche gab oder die in Berlin lebende Experimentalmusikerin Lucrecia Dalt, die bei ihrem Madeira-Konzert noch so unbekannt war, dass sie bei der Afterhour auftrat. Aber auch Legenden wie der japanische Krach-Wegbereiter Keiji Haino flogen ein. 2018 fand hier auch das letzte Konzert der deutsche Elektronik-Pioniere Cluster statt, bevor sich Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius getrennt haben. Leute, die oftmals später beim CTM oder Atonal Festival im Programm standen, tauchten auf Madeira auf und vermischten sich in dem Dörfchen Ponta do Sol mit den Fans, Enthusiast:innen, Künstler:innen und Journalist:innen. Die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verwischen sich bei MADEIRADiG ohnehin schnell.  

Die in Berlin lebende Mieko Suzuki vom Trio Contagious beim MADEIRADiG Festival 2024. Foto: Imago/ Votos-Roland Owsnitzki

Seit Michael Rosen das Festival in die Spur brachte und das einst verschlafene Dörfchen in einen Avantgarde-Hotspot verwandelte, entstand jene spezielle Stimmung, die er so beschreibt: „Da springen die Leute aus allen Ballungszentren der Welt, aus New York, London, Paris oder Berlin aus dem Flugzeug, und es fühlt sich an, als ob das Aliens sind, die hier landen, und dann lernen sie diese Insel und auch das Festival lieben. Diese Menschen kommen in dieser Intensität und Intimität nur einmal im Jahr zusammen. Und das ist auch Madeira.“ Und „MADEIRADiG“. 

Doch wenn alles so perfekt wäre, würde das Festival nicht enden. Was anfangs als ein Versuch begann, Menschen in der Off-Season nach Ponta do Sol zu locken, und zwar mit den Mitteln eines Musikfestivals mit ungewöhnlicher Musik, so lässt sich sagen, dass dies gelang. Doch zugleich zog der Erfolg des Festivals Konsequenzen nach sich. Auch vor dem kleinen Dörfchen auf Madeira macht die Gentrifizierung nicht Halt. Spätestens seit der Corona-Pandemie, als klar wurde, dass man immer und von überall arbeiten kann, ob auf Bali, in Neuseeland oder eben auf Madeira, rückten die Digital Nomads massiv auf der Atlantikinsel ein und erkoren sich gerade Ponta do Sol zum Instagram-tauglichen Lieblingsort, die vielen Sonnenstunden, der Strand und die Wasserfälle sorgen eben für eine Kulisse, die der Experimental-Szene ebenso gut gefällt wie den Influencern.  

Michael Rosen: „Das ist keine Gruppe, die mit unseren Gästen besonders viele Schnittmengen findet“

Letztere aber bestimmen seit einiger Zeit die Atmosphäre. „Das ist eine Gruppe von Business-Influencern, die man vielleicht mit diesen YouTube-Werbeclips vergleichen kann, wo einem irgendwelche Gestalten zwischen den Musikvideos, die man eigentlich sehen will, erzählen, wie du innerhalb von drei Monaten mit Bitcoin-Investments Millionär wirst. Das ist keine Gruppe, die mit unseren Gästen besonders viele Schnittmengen findet“, sagt Rosen. Dabei sieht er sich auch als Teil dieser Entwicklung. „Dieser Prozess hat auch meinetwegen stattgefunden. Das Festival war da vermutlich ein Beschleuniger, aber das Ganze hätte wahrscheinlich auch so stattgefunden, man kann das leider nicht aufhalten.“ 

Plötzlich geriet MADEIRADiG in eine Konkurrenzsituation, es ging um Ressourcen wie Hotelzimmer, aber auch um die Gestaltung der Afterhour-Partys. Das Festival wandelte sich, die Veränderungen drumherum wurden immer spürbarer. Also beschlossen Rosen und sein Mitstreiter Rafael Biscoi, das Projekt nach 15 Jahren zu beenden. Für Stammbesucher:innen, vor allem aus den höheren Rängen des deutschsprachigen Popmusikjournalismus, die seit Jahren ihre Urlaubsplanung danach ausrichteten, eine mittelschwere Tragödie. Am Pool raunten bereits Pläne, auch ohne das Festival auf die Insel zu kommen. Dann wäre man jedoch allein unter den Digital Nomads. Keine besonders schöne Vorstellung, trotz der atlantischen Herrlichkeiten. 

Experimentelle Saxofonmusik von Bendik Giske beim MADEIRADiG Festival 2024. Foto: Imago/ Votos-Roland Owsnitzki

Michael Rosen beruhigt: „Es ist kein Ende für immer, wir machen jetzt erst mal eine Pause. So ein Festival mit dieser Postkartenidylle lebt schließlich sehr von einer Leichtigkeit, und wenn die nicht mehr gegeben ist, dann merkt man das auch. Ich glaube, der Moment ist jetzt erreicht und vielleicht macht man jetzt einfach mal einen Reset.“ Und wie geht es dann weiter? Rosen bleibt vage, aber wer ihn kennt, weiß, dass er nicht nur ein großer Entdecker und begnadeter Gastgeber ist, sondern auch nicht gut stillhalten kann, der Berliner „Kiezsalon“ dürfte ihm nicht genug sein.

„Vielleicht geht es in einem ähnlichen Setup weiter, vielleicht in einem anderen, vielleicht fahre ich einfach auf eine andere Insel oder in die Berge. Vielleicht auch irgendwohin, wo man nicht unbedingt hinfliegen muss, was im Zuge des Klimawandels ja ohnehin nicht mehr so angebracht ist. Also ein ähnlich schönes Festival, in einem ähnlichen Format, an einem anderen schönen Ort, wo man vielleicht nicht alle Leute einfliegen lassen muss“, sagt er. Das klingt nach einer guten Perspektive, auch wenn der Abschied vom „MADEIRADiG“-Festival nicht nur Michael Rosen schwerfallen dürfte. 


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