Hip-Hop

Kendrick Lamar in Berlin: Das Abdanken des Königs

Kendrick Lamar gehört zu den einflussreichsten Musiker:innen und Texter:innen unserer Zeit. Am 11. Oktober spielte der Rapper aus Compton in der Mercedes-Benz Arena in Berlin. Eine ausverkaufte Show zwischen Vergötterung und Selbstzweifeln, Laufstegen und Traumabewältigung, Hip-Hop-Olymp und Demaskierung des Typus Hip-Hop-Gott. Unser Autor war dabei.

Kendrick Lamar ist der König des Hip-Hops. Foto: Greg Noire

Kendrick Lamar in Berlin: Niemals nah

Der wichtigste Rapper der Gegenwart sitzt im Spotlight am Klavier. Ein zweiter Scheinwerfer beleuchtet die Tänzerinnen, die gerade noch in militärischer Synchronität über den Laufsteg gewippt – nicht marschiert – sind und nun auf einem Bett posieren. Einige von ihnen blicken in Richtung Hip-Hop-Piano- Man. Eher irritiert als imponiert. Die anderen drehen sich gleich weg und widmen sich der Weite der Berliner Mercedes-Benz Arena. Obwohl rote Dessous unter ihren schwarzen Blazern hervorstechen und sie sich zu sechst eine Matratze teilen, hat die Szene nichts Sexuelles. Zu weit weg, wenn physisch auch nur wenige Meter von ihnen entfernt, befindet er sich: Kendrick Lamar.

Macht und Verletzlichkeit: Kendrick Lamar live. Foto: Greg Noire

Distanz und Nähe, Erwartungen und Brüche, toxische Männlichkeit und Reue: Motive, die sich durch diesen Oktoberabend und Lamars Karriere ziehen. Der US-amerikanische Musiker und Pulitzer-Preisträger steht für sich. Selbst von einem Dutzend Tänzer:innen umzingelt, auf dem Laufsteg zwischen knapp 17.000 Fans, die „Kendrick“-Chöre durch die Arena hallen lassen, bleibt er abstrakt. Ein Symbol, ein Mythos, ungreifbar, überfordernd. Lamars Probleme und Zweifel („I can’t please everybody“) sind universell, seine Verhandlung schwarzer Lebensrealitäten („Wanna kill us dead in the street for sure“) werden zu Identifikationsstiftern, zu allgemeingültiger Gesellschaftskritik.

Kendrick Lamar in Berlin: Radikal schonungslos

Lamar beichtet, bereut, sucht nach Vergebung. Bekämpft Traumata und finstere Charakterzüge. „We Cry Together“ vom aktuellen Album – oder ist das Meisterwerk eher eine vertonte Therapiesitzung? – „Mr. Morale & the Big Steppers“ ist vielleicht das emotional schonungsloseste Hip-Hop-Stück aller Zeiten. Im Streit mit seiner Hassgeliebten verliert sich Lamar immer weiter in menschlichen Fehlern, beleidigt, diskriminiert, schält Aggression und Brutalität aus unterdrückter Verletzlichkeit. Der Song wird nur angeteasert, doch spukt in Projektionen immer wieder durch Arena und Kopf.

Kendrick Lamar in Berlin: Eine bombastisch-minimalistische Show. Foto: Greg Noire

In einem perfektionierten Gesamtkunstwerk tänzelt Kendrick über den Laufsteg, steht starr in der Dunkelheit, feuert schwindelerregende Flows ab – Lamar ist neben allem halt auch ein fantastischer Rapper – lässt sich von Tänzer:innen umkreisen, nimmt in selbstverständlich distanzierter Form sogar an den Choreografien teil, spielt den Über-Song „Humble“ zuerst am Piano und haut auch andere Hits gleich zu Anfang raus, steigt in einem Hygienezelt Richtung Hallendecke hinauf, fährt mit dem Klavier in den Boden, stellt sich Feuerfontänen und liefert sich ein Kräftemessen mit dem Hip-Hop-Kollegen Baby Keem, ohne diesem zu nah zu kommen. Distanz. Immer wieder kommentiert eine Frauenstimme aus dem Off, die man schon vom Album kennt, die Geschehnisse, die Thematik, den Charakter, das Schicksal.

Die Krone wiegt zu schwer

Kendrick Lamar auf Tour mit seinem neuen Album „Mr. Morale & the Big Steppers“. Foto: Greg Noire

Kendrick Lamar schafft es, eine Mehrzweckhalle in eine Kathedrale zu verwandeln, trotz verstörender Themen und komplizierten Beats eine überkochende Hip-Hop-Zeremonie zu veranstalten, mittendrin und weit weg zugleich zu sein. Die stärksten Momente sind die, in denen gar nichts passiert. Lamar demaskiert den unzerstörbaren Hip-Hop-Star, den Traum vom Erfolg, die Musik- und Konzertindustrie, die Gesellschaft, den Menschen und vor allem sich selbst. Kein Tanz, kein Schweben, kein Feuer: Nur Lamar im Spotlight als Märtyrer und demaskierter König. „Heavy is the head that chose to wear the crown.“


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