Konzertbericht

Die Schönheit des Unperfekten: Neil Young spielte in der Waldbühne

Neil Young ist Folk-Legende, Pate des Grunge und eine der großen Lichtgestalten der Sixties-Gegenkultur. Im November wird der kanadisch-amerikanische Musiker 80 Jahre alt, doch das Alter merkte man ihm nicht an, zumindest nicht beim Konzert in der Waldbühne, wo er zwei Stunden lang mit seiner aktuellen Begleitband, den Chrome Hearts, auftrumpfte. Zwischen intimen Momenten und elektrischem Gewitter, großen Hits und obskuren Stücken bescherte Young dem Berliner Publikum einen großen Abend.

Out of the blue and into the black: Neil Young beim Glastonbury Festival am 27. Juni 2025, ein Foto aus der Waldbühne lag aktuell nicht vor. Foto: Imago/Jimmy James/Avalon
Out of the blue and into the black: Neil Young beim Glastonbury Festival am 27. Juni 2025, ein Foto aus der Waldbühne lag aktuell nicht vor. Foto: Imago/Jimmy James/Avalon

Neil Young bescherte dem Berliner Publikum einen großen Abend

Bis Viertel vor zehn spricht Neil Young kein Wort mit dem Publikum. Wer große politische Statements und Anti-Trump-Tiraden erwartet hatte, für die aktuell andere ergraute US-Rockstars in Europa Sympathien bekommen, dürfte in dieser Hinsicht enttäuscht gewesen sein. Doch mit dem Auftritt selbst dürften die 22.000 Zuschauer in der ausverkauften Berliner Waldbühne dann doch sehr zufrieden gewesen sein. Denn was Neil Young mit seiner Begleitband knapp zwei Stunden lang geboten hat, war ein elektrifizierendes Konzert, das selbst Alt-Fans und Auskenner begeistert haben dürfte.

Um Viertel vor zehn kommt dann doch ein knappes „Thank you guys“ und die Vorstellung der Band: der alte Spooner Oldham an der Orgel, Willie-Nelson-Sohn Micah spielte Gitarre und dann noch Bassist Corey McCormick und Drummer Anthony Logerfo. Eine gemeinsame Verbeugung, keine Statements, keine Predigt, nur: „The world is a crazy place right now, so we have to look out for each other“, sagt Young und dreht die Verzerrer auf. Das lärmende Intro von „Rockin’ in the Free World“ legt sich über die glückselige Menschenmenge – ein eruptiver Schlusspunkt. Für einen Moment – inmitten des Gitarrengewitters – wird sie greifbar, die Idee einer anderen Welt. Einer Welt, die nicht Donald Trump, Elon Musk oder Peter Thiel gehört, nicht den Ölkonzernen und den Waffenherstellern. Um das zu sagen, bedarf es keiner Worte, sondern eines Ideals, das der Hippie-Dichter und geniale Gitarrist seit sechs Jahrzehnten in die Welt trägt – des Ideals einer etwas besseren Welt.

Es beginnt leise, fast zögerlich: „Ambulance Blues“ aus dem Jahr 1974

Dieses fulminante Ende eines großen Konzerts bildet die Klammer zum nicht minder fulminanten Auftakt. Es beginnt leise, fast zögerlich: „Ambulance Blues“ aus dem Jahr 1974. „Back in the old folky days“ singt Young, spielt akustische Gitarre, ist noch allein auf der Bühne. Direkt danach: „Hey Hey, My My (Into the Black)“, eines seiner berühmtesten Werke, schon diese beiden Songs stecken die zwei Enden des Neil-Young-Universums ab: den introspektiven Moment und die expressive Emotionalität.

Neil Young and The Chrome Hearts haben nach diesen ersten Minuten gezeigt, wozu auch 2025 Rockmusik noch fähig ist – ganz im Gegensatz, und das verstärkte die Wirkung von Young & Co. noch mehr, zu der unsäglichen französischen Rockformation The Inspector Cluzo, die im Vorprogramm viel zu lange ihre Vorstellung davon, was Rockmusik sein und wie sie klingen sollte, vorführen durfte. Ein Konzert zum Fremdschämen. Als Sänger Laurent „Malcolm“ Lacrouts sich dann auch noch beschwerte, dass französische Musikfestivals keine Rockbands mehr buchen würden, wusste man nach seinen über-engagierten und zugleich völlig uninspirierten Rockergüssen auch warum. Der Begriff „Gelbwesten-Rock“ machte die Runde.

Eine Musik, die schon immer da war und die immer da sein wird

Dabei steht es gar nicht so schlecht um die Rockmusik, das lehrt zumindest dieses Neil-Young-Konzert. Was diese fünf Männer mit Bass, Schlagzeug, zwei Gitarren und Orgel noch immer an gefährlicher Relevanz und Überwältigung zu erzeugen vermochten, ließe sich vielleicht als die Schönheit des Unperfekten bezeichnen. Als die Band „Cinnamon Girl“ spielte oder „Fuckin‘ Up“ oder „Southern Man“ oder selbst das obskure „Sun Green“, ein zwölfminütiges Stück von Neil Youngs eher unwichtigem 2003er-Album „Greendale“, auf dem er die fiktive Geschichte des ebenfalls fiktiven kalifornischen Städtchens Greendale erzählt, da schien es, als würden diese fünf Männer eine Musik spielen, die schon immer da war und die immer da sein wird – und sie dockten an einen ewig fließenden Energiestrom an und verstärkten diesen nur. Was kann man mehr von Rockmusik verlangen?

Young wirkte wach, körperlich präsent, beweglich. Kein alter Mann, der sich über die Bühne schleppt – vielmehr ein Performer, dessen Körper weder Geist noch Stimme im Weg steht. Auf der Bühne herrschte eine reduzierte Atmosphäre, nur die Instrumente, keine LED-Wände, keine Effekte, wenig Lichtshow. Dafür ein Banner mit der Aufschrift: „Love Earth“. Da ist es wieder, das Hippie-Ideal. Und über den Musikern hing eine Art Batik-Dreamcatcher. Ein spiritueller Schutzschirm oder vielleicht ein Kunstobjekt?

Perfekte Wetterbedingungen – einen Tag früher hätte die Gluthitze das Konzert zur Zumutung gemacht

Der legendäre Spooner Oldham an der Orgel spielte vermutlich großartig – man musste aber schon sehr genau hinhören, denn zu oft ging er unter im donnernden Gitarrensound. Gegen halb neun versank die Sonne hinter den Baumwipfeln. Perfekte Wetterbedingungen – einen Tag früher hätte die Gluthitze das Konzert zur Zumutung gemacht.

Bei „The Needle and the Damage Done“ ist Neil Young allein auf der Bühne – der Sänger, die Gitarre, der Song. Wieder ein intimer Moment, fast zerbrechlich. Direkt danach „Harvest Moon“, Youngs Mundharmonika schwebte über 22.000 beglückten Menschen. Aus der Stille entstand wieder Getöse, bis hin zu den letzten Songs vor der Zugabe. Der Dreamcatcher fuhr herab, orangefarbenes Licht taucht die Bühne in eine warm-psychedelische Aura – ein ausufernder Jam zu „Like a Hurricane“ ertönte. Die gesamte Waldbühne erhob sich. So klingt freie Musik.


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