„Die Musikindustrie wird sterben“, sagte Jacques Attali vor drei Jahren in einem Interview mit Christoph Gurk. Der französische Theoretiker und Finanzexperte verfasste bereits 1977 einen Essay, in dem er eine Ökonomie der Musik entwarf, die die Digitalisierung vorausahnte und die Musik als Vorbotin kommender gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen ansah. Heute berät Attali den französischen Präsidenten Sarkozy und fordert unter anderem eine Kulturabgabe nach dem Vorbild einer Flatrate. Seine düstere Verkündung vom Ende der Musikbranche fasst die verwirrende und ungewisse Stimmung zusammen, in der sich heute Musikinteressierte – vom Konzernvorstand bis zum Fan – befinden.
Christoph Gurk, der langjährige Musikkurator an der Volksbühne und Initiator des dreitägigen Festivals „Dancing With Myself – Musik, Geld und Gemeinschaft nach der Digitalisierung“, hat Attali zum Eröffnungsvortrag ins HAU eingeladen. Dort soll der Franzose die theoretischen Weichen für die Themen der Konferenz stellen. Die Konferenz steht im Zeichen der offensichtlich unüberwindbaren Absatzkrise der Tonträgerindustrie, der kostenlosen Musikdownloads und ihrer verheerenden (oder etwa doch heilbringenden?) Konsequenzen und der Auswirkungen der Finanzkrise, die die ohnehin schwierige Lage der Musikbranche um ein Vielfaches verschlimmert. An drei Tagen kommen kundige Poptheoretiker zusammen, um die derzeitige und zukünftige Situation der Pop- und Massenkultur zu besprechen.
Diedrich Diederichsen, ehemaliger „Spex“-Chefredakteur und zuletzt Professor an der Merz Akademie in Stuttgart, spricht in seinem Vortrag „Kunst. Das unkomische Ende von Pop“ über Formlosigkeit in der neuen Rockmusik und die ästhetischen Anleihen bei den kulturellen Techniken der Avantgarde. Dieses am Beispiel von Bands, die gemeinhin dem Terminus „New Weird America“ zugeordnet werden, etwa Animal Collective, Gang Gang Dance oder der No-Neck Blues Band.
Der Kunsthistoriker Tom Holert berichtet vom Mainstream der Minderheiten sowie der schwindenden Subversivität des Pop und wird das schöne Zitat des großen Philosophen des Strukturalismus Gilles Deleuze bringen – „Pop ist nunmehr Teil einer offiziellen Repräsentationskultur mit Saxofon und E-Gitarre spielenden Staatchefs und pop-gerechten Inszenierungen der Macht – Pop ist eine Staatssprache“.
Pop ist zudem die vermutlich einzige globale Leitkultur mit einem enormen gesellschaftlichen Einfluss, einem bröckelnden Absatzmarkt und einem gut funktionierenden akademischen Verdauungsapparat, was diese Konferenz nachhaltig beweist.
Filme über Punk, Dance Culture und Fragen zu Urheberschaft und Copyright stehen zudem im Programm, und mit Steve Grubbs, The Matthew Herbert Big Band, der ungewöhnlichen Castingband The Expats und den Young Marble Giants präsentieren sich neben der übermächtig wirkenden Theoriepracht auch einige recht praxisorientierte Vorschläge, mit dem Themenkomplex „Popmusik“ umzugehen.
Text: Jacek Slaski
Dancing With Myself – Musik, Geld und Gemeinschaft nach der Digitalisierung
HAU 1-3, Fr 16. bis So 18.1.
Termine hier