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Interview

30 Jahre deutscher „Rolling Stone“: „In Wirklichkeit trinkt man selten Whisky mit Rockstars“

1994 kam der umtriebige Hamburger Verleger Werner Kuhls auf die Idee, den legendären amerikanischen „Rolling Stone“ nach Deutschland zu holen. Mit der deutschen Ausgabe des Magazins begann eine neue Ära im deutschen Musikjournalismus. Jenseits der „Spex“ gab es ein quasi staatstragendes Magazin, das ernsthaft über Popkultur berichtete. Der deutsche „Rolling Stone“ etablierte sich. Nach Hamburg und einer längeren Station in München und sich mehrmals verändernden Eigentümerverhältnissen – eine Weile gehörte man etwa zum Axel Springer Verlag – sitzt die Redaktion seit vielen Jahren in Berlin.

Wir sprachen zum 30. Jubiläum des Musikmagazins mit dem seit 2012 amtierenden Chefredakteur Sebastian Zabel über Rock’n’Roll-Lifestyle, Freundschaften zwischen der Redaktion und Stars, die Frage, wie sich der Pop-Kanon verändert, die Affäre um den US-Verleger und „Rolling Stone“-Gründer Jann Wenner und die Zukunft der Musikmedien.

Sebastian Zabel ist seit 2012 Chefredakteur des deutschen "Rolling Stone". Foto: Hella Wittenberg
Sebastian Zabel ist seit 2012 Chefredakteur beim „Rolling Stone“. Schon früh schrieb er über Musik und brachte Fanzines heraus, das erste Interview führte er mit Mark E. Smith, den ersten festen Job hatte er beim Musikmagazin „Spex“. Danach arbeitete er als als Reporter, Redakteur, Ressort- und Redaktionsleiter bei verschiedenen Tageszeitungen und als DJ in der Bar eines Freundes. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. Foto: Hella Wittenberg

Sebastian Zabel: „Der amerikanische „Rolling Stone“ ist ein Symbol für die Gegenkultur der 1960er-Jahre“

tipBerlin Herr Zabel, Sie sind Chefredakteur des deutschen „Rolling Stone“. Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag, trinken Sie Whisky mit Pop- und Rockstars, wie man sich das so vorstellt?

Sebastian Zabel In Wirklichkeit trinkt man äußerst selten Whisky mit Rockstars.

tipBerlin Der amerikanische „Rolling Stone“ ist ein Symbol für die Gegenkultur der 1960er-Jahre und den Rock’n’Roll-Lifestyle, aber auch für einen neuen Journalismus, der Popkultur ernst nahm. Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal auf das Magazin gestoßen sind?

Sebastian Zabel Das war Ende der 1980er-Jahre, damals war ich Redakteur bei der „Spex“ in Köln. Ich habe immer gerne Popzeitschriften gelesen, überwiegend englische, aber auch amerikanische Magazine wie den „Rolling Stone“. Damals gab es noch keinen deutschen Ableger des „Rolling Stone“. Mich hat besonders die Ästhetik und der Underground-Ansatz des Magazins fasziniert, und die Art, wie über Popkultur geschrieben wurde.

tipBerlin Gab es zwischen der intellektuellen „Spex“ und dem eher Rock’n’Roll-lastigen „Rolling Stone“ eine Art Kulturkampf?

Sebastian Zabel Nein, das war nicht so. „Spex“ und der „Rolling Stone“ waren in ihrer Herangehensweise an Popkultur sehr unterschiedlich. Eher gab es Rivalitäten zwischen „Spex“ und „Tempo“ – das waren zwei Antagonisten: die einen Kunstintellektuelle, die anderen Funpunks. Aber das galt in den 1980er- und 1990er-Jahren.

tipBerlin Und wo stand der „Rolling Stone“ in dieser Zeit?

Sebastian Zabel Der „Rolling Stone“ war von Anfang an ein anspruchsvolles Musikmagazin. Es ging nicht nur um Stars, sondern auch um die gesellschaftliche und politische Wirkung von Popkultur. Ein Magazin, in dem lange Reportagen und lange Reviews von Platten wichtig waren, und auch Politik. Das ist vielleicht eine Anknüpfung zu „Spex“, sich auch mit Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der „Rolling Stone“ hat Popkultur immer viel weiter begriffen, es ging um die Wirkmacht von Popkultur und um die ästhetischen Äußerungsformen von Popkultur. Das ist das, was den „Rolling Stone“ ausmacht, eher ein Lebensgefühl, eine Haltung zum Leben, als die reine Beschäftigung mit Musik.

Die erste Ausgabe des deutschen „Rolling Stone“ (November, 1994). Foto: Rolling Stone

tipBerlin Sie sind nicht von Anfang an dabei, aber wissen Sie, wie das damals war, als der deutsche „Rolling Stone“ 1994 gegründet wurde?

Sebastian Zabel Ich bin seit 2012 dabei und der dritte Chefredakteur des „Rolling Stone“ in Deutschland. Der Einzige, der seit Anfang an dabei ist, ist mein Kollege Arne Willander. Laut Arne war es damals so, wie man sich das klischeehaft vorstellt: verrauchte Büros, klobige Computer und Whiskyflaschen auf den Schreibtischen, und überall lagen Platten und CDs herum. Es hatte mehr mit Rock’n’Roll zu tun als heute, wo Popkultur längst nicht mehr ein Synonym für Rock’n’Roll ist.

„Also Leute, Männer, damals waren es ja alles Männer, wenn ihr die Auflage von 100.000 erreicht, dann baue ich euch einen Swimmingpool.“

tipBerlin Der „Rolling Stone“ ist schon lange in Berlin, angefangen hat es in Hamburg, danach folgte eine lange Zeit in München. Wie wichtig sind die Städte für das Magazin?

Sebastian Zabel Ja, wir sind schon lange in Berlin, aber ich glaube nicht, dass die Stadt für die Marke entscheidend ist. Gegründet wurde der „Rolling Stone“ tatsächlich in Hamburg. Da gab es einen Verleger, der gleichzeitig Konzertveranstalter war. So ein hemdsärmeliger Typ, Werner Kuhls. Von dem wird erzählt, dass der mal in der Redaktion gesagt hat, „also Leute, Männer, damals waren es ja alles Männer, wenn ihr die Auflage von 100.000 erreicht, dann baue ich euch einen Swimmingpool.“ Das wiederum hat der „Rolling Stone“ leider nie geschafft.

tipBerlin Es gab also nie einen Swimmingpool, schade eigentlich. Sie sagten eingangs, dass Sie selten Whisky mit Rockstars trinken, aber es gibt doch sicher eine Nähe zur Rock- und Popwelt, oder?

Sebastian Zabel Natürlich pflegen wir enge Beziehungen zu vielen Künstlern, oft über Jahre hinweg. Zum Beispiel Birgit Fuß, die ein besonderes Verhältnis zu den Toten Hosen hat und der schon mal Bono von U2 zum Geburtstag gratuliert hat, oder Maik Brüggemeyer, der mit Jeff Tweedy von Wilco befreundet ist. Solche persönlichen Beziehungen sind für uns sehr wichtig. Aber trotzdem war das früher schon ein anderer Umgang. Damals wurde man auch mal von New Order zum Frühstück eingeladen oder hat nach einem Nirvana-Konzert Backstage Wodka getrunken. Heute passiert sowas seltener, auch durch die Digitalisierung. Viele Interviews laufen nur noch über Zoom ab. Aber der „Rolling Stone“ ist eine der wenigen Marken, die sich immer noch die Zeit für intensive Reportagen nehmen.

tipBerlin Liegt das an der Strahlkraft der Marke?

Sebastian Zabel Ja, der „Rolling Stone“ hat immer noch einen besonderen Zugang zu Künstlern. Unsere amerikanischen Kollegen waren zum Beispiel tagelang mit Billie Eilish unterwegs, als sie ihre erste große Story gemacht haben. Das ist ein Pop-Journalismus, den sich heute nur noch der „Rolling Stone“ leistet. Ich erinnere mich als ich mich bei der amerikanischen Redaktion vorgestellt habe, vor zwölf Jahren. Entweder war es Zufall oder es wurde arrangiert, um mich zu beeindrucken, aber als ich zum Redaktionsgebäude an der Sixth Avenue in New York kam, fuhr ein riesiger weißer Truck mit dem roten „Rolling Stone“-Schriftzug vorbei. Da bekommt man ein Gefühl dafür, wie groß die Marke zumindest in den USA ist. Sie hat dort fast die Ausstrahlungskraft von Coca-Cola.

tipBerlin Ein richtiges Imperium, das der legendäre „Rolling Stone“-Gründer Jann Wenner da aufgebaut hat.

Sebastian Zabel Genau, ja. Es ist ein Pop-Imperium.

tipBerlin Sie erwähnten die Politik. Ich erinnere mich an eine Fotostrecke im deutschen „Rolling Stone“, in der Politiker in Mode-Outfits zu sehen waren. Das wirkte erst einmal befremdlich.

Sebastian Zabel  In den USA sind Politik und Musik eng miteinander verflochten, das ist auch beim amerikanische „Rolling Stone“ so. In Deutschland ist die Verbindung weniger naheliegend, aber Musik findet immer in einem bestimmten Kontext statt, und wir reflektieren Politik dort, wo es Berührungspunkte zur Popkultur gibt.

Pop und Politik: 2008 brachte der „Rolling Stone“ ein Interview mit Barack Obama. Foto: Rolling Stone

tipBerlin Wer sind heute die politischen Akteure, die für den „Rolling Stone“ interessant sind?

Sebastian Zabel  Ein Beispiel ist Robert Habeck. Wir hatten mal ein Interview mit ihm, als er Parteivorsitzender wurde. Es stellte sich heraus, dass er sich sehr für Popkultur interessiert, Fan der Rolling Stones ist und gern zu U2-Konzerten geht. Er erzählte auch, wie seine Söhne Hip-Hop hören und er die Texte mitbekommt. Es war ein sehr munteres Gespräch. Später hat er uns einen exklusiven Text über Angela Merkel geschrieben. Ich glaube, sowas leistet sich nur der „Rolling Stone“. Ein Musikmagazin, in dem ein Text über die ehemalige Kanzlerin erscheint, geschrieben vom grünen Vizekanzler.

tipBerlin Das ist schon etwas Besonderes.

Sebastian Zabel  Ja, das ist etwas, was nur der „Rolling Stone“ macht. Die Amerikaner hatten übrigens auch ein exklusives Interview mit Kamala Harris nach der Übergabe von Joe Biden – als einziges Medium in den USA.

tipBerlin Der „Rolling Stone“ steht zumindest auf den ersten Blick für die Klassiker des Rock und Pop, auf dem Cover finden sich oft die gleichen Gesichter: Bob Dylan, Bruce Springsteen, Beatles und Rolling Stones. Wie halten Sie die Balance zwischen alt und neu?

Sebastian Zabel  Wir kuratieren das sehr sorgfältig. Wir haben Legacy-Themen wie Springsteen oder Dylan, aber stellen auch immer wieder neue Künstlerinnen und Künstler vor, die wir toll finden. Zum Beispiel Yaya Bey oder Little Simz. Auf dem Cover finden sich aber tatsächlich oft eher traditionelle Acts, schlicht und ergreifend, weil die sich besser verkaufen. Im Heft und auf unseren digitalen Kanälen ist zeitgenössische Musik jedoch genauso wichtig wie die Rückbesinnung auf Klassiker.

Sebastian Zabel: „Es spiegelt aber leider auch eine Misogynie und einen Rassismus wider, die lange in der Popkultur verankert waren“

tipBerlin Da Sie von Klassikern sprechen, können wir über die Kontroverse um Jann Wenner sprechen? Der „Rolling Stone“-Gründer hat 2023 ein Buch über die Größen des Rock geschrieben. Schwarze Musiker und Frauen tauchen darin nicht auf. In einem Interview äußert er sich dazu gelinde gesagt unglücklich, woraufhin ihm Sexismus und Rassismus vorgeworfen wurden.

Sebastian Zabel  Die Affäre war tragisch. Wenner sagte in einem Interview, dass er wenige artikulierte Künstlerinnen oder schwarze Künstler getroffen habe, was ein schrecklicher Kommentar war. Es spiegelt aber leider auch eine Misogynie und einen Rassismus wider, die lange in der Popkultur verankert waren. Lange Zeit waren in der Popkultur Frauen und schwarze Künstler sowas wie schmückendes Beiwerk. Damals war der weiße Mann mit der Gitarre zuständig für hochtrabende Songs und der schwarze Künstler für den Groove. Das hat aber nichts mit dem heutigen „Rolling Stone“ zu tun.

tipBerlin Weil sich dieser alte Rock’n’Roll-Kanon ändert.

Sebastian Zabel  Ja, absolut. Klassiker wie Marvin Gaye oder Joni Mitchell stehen heute in Top-Listen weit oben, dort wo früher nur weiße Männer waren. Das zeigt, wie sich die Zeiten ändern.

tipBerlin Kommen wir zum 30-jährigen Jubiläum des „Rolling Stone“ in Deutschland – wie geht es Ihnen als Printmedium im Internetzeitalter?

Sebastian Zabel Wir sind ja längst kein reines Printmedium mehr, sondern haben unsere Digital-Kanäle stark ausgebaut, produzieren Videos und Podcasts. Doch der „Rolling Stone“ hält sich als Printmedium erstaunlich gut. Unsere Auflage ist stabil, vor allem unsere hohe Anzahl der Abonnements hilft uns. Wir sind ein Produkt, das viele gerne sammeln, fast wie eine Vinylschallplatte. Das Magazin wird als hochwertig wahrgenommen, und das ist unsere Nische.

Der deutsche "Rolling Stone" im Jahr 2023: Auf dem Cover die Band boygenius. Foto: Rolling Stone
Der deutsche „Rolling Stone“ im Jahr 2023: Auf dem Cover die Band boygenius. Foto: Rolling Stone

tipBerlin Andere Musikmagazine am deutschen Markt, darunter auch die „Spex“, haben in den letzten Jahren aufgegeben, das hat zum Teil auch etwas mit dem veränderten Hörverhalten zu tun, die meisten Menschen streamen nur noch und bekommen neue Musik von Algorithmen und Playlisten vorgeschlagen. Wie sehen Sie die Zukunft des Musikjournalismus?

Sebastian Zabel Streaming hat die Schwelle zur Entdeckung neuer Musik gesenkt, aber ich glaube, Menschen werden irgendwann gelangweilt sein von den immer gleichen Vorschlägen der Algorithmen. Da kommen wir ins Spiel. Wir können über Musik schreiben und begeistern, auf eine Art, wie es kein Algorithmus kann. Ich glaube daran, dass der Musikjournalismus überleben wird, weil Menschen echte Kuratoren schätzen, die Leidenschaft für Musik haben.


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