Berliner Musiker

Àbáse ist Dreh- und Angelpunkt der Jazz-affinen Berliner Szene

Auf seinem zweiten Album „Awakening“ entscheidet sich Àbáse für analoge Aufnahmetechnik und arbeitet sogar mit den Altmeistern des Sun Ra Arkestra zusammen.

Àbáse lautet sowohl der Künstlername als auch Solo-Projekt des seit 2018 in Berlin lebenden, klassisch ausgebildeten ungarischen Jazz-Pianisten, Produzenten und DJs Szabolcs Bognar. Foto: Stanislav Bendarjevsky 

Àbáse – Sounds zwischen westafrikanischem Highlife und meditativen Saxophon

Genug von Ableton! Spontaneität statt Perfektion! Es passiert eher selten, dass die Vorband dem Haupt-Act die Show stiehlt. Doch als im November 2022 der Chicagoer Jazz-Drummer Makaya McCraven auf die Bühne des Festsaal Kreuzberg kommt, ist das Highlight des Abends tatsächlich schon vorbei. Kurz zuvor demonstrierte der in Berlin lebende Keyboarder und Komponist Szabolcs Bognar, besser bekannt als Àbáse, dass die hiesige Szene mittlerweile alles andere ist als nur Trittbrettfahrer auf der neuen Jazz-Welle. Wer zuvor sehnsüchtig Richtung London, Chicago oder L.A. geschaut hat, wird an jenem Abend am Schleusenufer aufgeregt die Lauscher aufgesperrt haben: Denn Àbáse kündigt zwischen seinem westafrikanischen Highlife und meditativen Saxophon- und Querflöten-Melodiebögen an, dass man das Ganze bald auf einer neuen Platte hören könnte. 

Knappe zwei Jahre später ist es nun soweit. An einem frühsommerlichen Maitag steht Szabolcs Bognar – von allen nur Szabi genannt – vor dem kleinen Souterrain-Fenster von OYE Records in Prenzlauer Berg. Er tänzelt etwas ungeduldig von einem Bein auf das andere. Schon bei der Terminsuche für das Interview konnte man merken, dass die doch etwas längere Wartezeit auf sein zweites Studioalbum „Awakening“ nichts mit Untätigkeit zu tun hatte. Das Wochenende zuvor war er nicht in der Stadt, am Tag darauf fliegt er mit seiner Band für zwei Gigs zum Primavera Festival nach Barcelona. Seine gute Laune, scheint Szabi bei all dem Stress aber nicht verloren zu haben. Mit der stylischen Schlabber-Jogginghose, Rucksack auf dem Rücken und einem breiten Lächeln im Gesicht sieht er aus, als treffe er sich gleich zum Volleyball-Spielen im Park. 

Die Band hat sich bei alter ungarischer Volksmusik bedient, in die Vergangenheit geblickt und ist dadurch als Jazz-Band zugänglicher geworden!

Àbáse

Stattdessen legt der seit 2018 in Berlin lebende Budapester heute eine seiner liebsten ungarischen Jazz-Platten in der „Rhinoceros Bar“ auf: „Sámánének“ vom Gonda Sextet aus dem Jahr 1976. Wenn Szabi über seine Inspirationen redet, ist er nur schwer zu bremsen. „Die Band hat sich bei alter ungarischer Volksmusik bedient, in die Vergangenheit geblickt und ist dadurch als Jazz-Band zugänglicher geworden! Und ich versuche, eine ähnliche Perspektive einzunehmen: Aus unserem heutigen Blick, folkloristische Traditionen neu zu verarbeiten.“

Das Kollektiv um Àbáse, u.a. mit Eric Owusu (links) an den Percussions und Ziggy Zeitgeist (vorne rechts) an den Drums. Foto: Mario Raspudic 
Das Kollektiv um Àbáse, u.a. mit Eric Owusu (links) an den Percussions und Ziggy Zeitgeist (vorne rechts) an den Drums. Foto: Mario Raspudic 

Als Àbáse – was in der Sprache der westafrikanischen Yoruba Gemeinschaft und Zusammenarbeit bedeutet – erkundet Szabi schon immer verschiedene Musiktraditionen. Vor allem westafrikanische Melodien und brasilianische Rhythmen flossen in seine ersten EPs und sein 2021er Debüt-Album „Laroye“ ein. „Yoruba-Melodien sind eigentlich gar nicht so weit weg von ungarischer Volksmusik. Das ist das Schöne an Folklore, je tiefer man darin stöbert, desto mehr Gemeinsamkeiten findet man!“ 

Afrobeat-Jams und einer üppigen Portion meditativem Jazz

In den verbindenden Elementen der Musiktraditionen stöbern, das hört sich bei Àbáse ziemlich organisch an. Ein leicht nachhallender, langsam-anstolpernder Conga-­Rhythmus eröffnet die Platte, bevor Ori Jacobson die Melodie des Intros „Greeting Mother Sea“ sehr luftig durch sein Tenor-Saxophon bläst. Dann doppelt Fanni Zahar an der Querflöte die Melodie eine Quarte höher – und die gesamte Band schwappt mit Flügel-Harmonien, gestrichenem Kontrabass und sphärischen Beckenklängen sanft ins Ohr. Der Auftakt zu einer Stunde zwischen rauschhaften Afrobeat-Jams und einer üppigen Portion meditativem Jazz. 

Mit dabei sind, wie fast immer bei Àbáse, auch Eric Owusu an den Percussions und Ziggy Zeitgeist an den Drums. Mit den beiden spielt Szabi seit er in Berlin lebt regelmäßig zusammen. Owusu ist sonst selbst Co-Bandleader des Afrobeat Gespanns Jembaa Groove, Ziggy Zeitgeist war in seiner Heimat Australien Teil des Hip-Hop-Jazz-Kollektivs 30/70 und bringt mittlerweile sein eigenes Projekt „Zeitgeist Freedom Energy Exchange“ voran. Natürlich mit Szabi an den Keys! Gemeinsam sind die drei auch auf der Compilation des Berliner XJazz-Festivals „Entangled Grounds“ zu hören. Aus der XJazz-Community steuern auch Wayne Snow und Dumama ihre Stimmen zum Song „Sun is Away“ bei. Das Album ist eine echte Berliner Gemeinschafts-Produktion!

Destruction Everywhere (live at Bar Neiro)

Zusammengehalten wird das Ganze vom konsistenten Live-Sound. Szabi wechselt immer wieder zwischen Keyboard, Synths und Flügel. Einige Songs sind mit E-Bass-, andere mit Kontrabass eingespielt. Ansonsten trägt einen das Gerüst aus perfekt eingespielter Drums-Bass-Keys-Rhythm-Section und organisch gedoppelten Melodien auf Saxophon und Querflöte durch die Platte. Live-Atmosphäre und Raum für Zusammenspiel entstehen zu lassen: das ist das Konzept auf „Awakening“. 

„Ich hatte einfach genug von Ableton!“, erzählt Szabi ein Paar Tage nach seiner Listening Session im Rhinoceros und meint damit die branchenübliche Musiksoftware. Das rege Treiben in der Bar hatte das Interview unterbrochen und so treffen wir uns noch einmal, diesmal an dem Ort, der für den Sound der Platte besonders wichtig ist, den Brewery Studios in der Nähe vom KitKatClub. Hier wird in Kooperation mit der Analogue Foundation jene Recording-Philosophie gelebt, die dem Album seinen Charakter gibt. „Man kann sich leicht im Producing verlieren und alles aufpolieren. Aber wenn man sowas macht wie wir, dass alle immer zur selben Zeit im selben Raum sitzen, dann muss man sich wirklich committen und kann nichts mehr groß ändern“. Neben Szabi sitzt Erik Breuer, der zwanzig Jahre für die Red Bull Music Academy Tonstudios in der ganzen Welt aufgebaut und sich nun mit seinem eigenen Studio in Berlin niedergelassen hat. Den Spezialisten für analoge Aufnahmen, vorzugsweise direkt auf Tonband, lernte Szabi bei einer der ersten Sessions im damals neuen Brewery Studio kennen. Mittlerweile kommen auch Künstler:innen wie Charlotte Gainsbourg und Patti Smith nach Berlin, um in Breuers Studio aufzunehmen. Zuletzt arbeitete hier Jim Jarmusch am Soundtrack für seinen nächsten Film. 

Dass Szabi und Erik eine Philosophie teilen, die weit über die Entscheidung für bestimmte Mikrophone hinausgeht, merkt man schnell

Dass Szabi und Erik eine Philosophie teilen, die weit über die Entscheidung für bestimmte Mikrophone hinausgeht, merkt man schnell. „Wenn du Live aufnimmst, dann müssen die Musiker:innen ihre Sache draufhaben, weil man eben nicht mehr hinterher eine Kick-Drum verschieben kann oder sowas, aber auf der anderen Seite musst du dich auch den kleinen Fehlern und unerwarteten Dingen hingeben. Genau das macht viele alte Platten so besonders!“ Mit alten Platten meint Breuer die Jazz-Releases aus den 1960er-Jahren, die in berüchtigten Studios wie dem von Rudy van Gelder entstanden, etwa John Coltranes legendäre Alben auf dem Impulse-Label. 

Kleine Fehler, spontane Momente und die Studio-­Atmosphäre sind das Geheimnis auf Àbáses „Awakening“. Zum Beispiel wenn in „God’s Star Castle Has Fallen to Grief“, einem immer neu anschwellenden, meditativen Jam auf einer repetitiven 6/8 Basslinie, ausgedehntes Stöhnen zu hören ist. Oder wenn Drummer Ziggy Zeitgeist doch nicht der Versuchung verfällt, einen Beat zu spielen, sondern wieder zu sphärischem Beckengestreichel ansetzt. Oder in „Sun Is Away“, dem mit Knoel Scott und Cecil Brooks vom Sun Ra Arkestra wohl am prominentesten besetzten Track. Dieser entstand, als nach einem langen Studio-Tag eigentlich schon die Luft raus war, sagt Szabi: „Wir waren verdammt müde. Und auf einmal sagte Ernő, der Kontrabassist, zu mir: ‚Sun Ra!‘ Einfach so als Idee oder als Stichwort zur Improvisation. Ich musste lachen und fing gleichzeitig an, Klavier zu spielen. Da fängt die Aufnahme an und man kann immer noch hören wie ich ihm die Tonart zurufe: C-Moll!“ 

Àbáse „Awakening“ (Oshu Records/Analogue Foundation)

Damit beweist Szabi auf seiner zweiten Àbáse-LP nicht nur, dass er zu einer der wichtigsten Figuren der modernen Berliner Jazz-Szene geworden ist. Sondern auch, dass es in der schnelllebigen Musikindustrie Enklaven der Entschleunigung braucht. Räume, in denen sich die Szene versammeln und kreativ ausleben kann. Für Szabi ist das keineswegs nur Selbstzweck: „Nach meinem Gefühl gibt es da gerade eine Tendenz: Immer mehr Menschen wollen Pause machen, sich zurücklehnen und Musik hören, die atmet!“

  • Àbáse „Awakening“ (Oshu Records/Analogue Foundation)
  • Konzert: Àbáse mit Ziggy Zeitgeist als „Zeitgeist Freedom Energy Exchange“, Fr 23.8., 18 Uhr, HHV, Grünberger Str. 54, Friedrichshain. Die Solotour ist in Planung, weitere Infos auf www.abasemusic.bandcamp.com

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