Platten im Test

Alben der Woche: St. Vincent im Knast, Sons of Kemet auf der BLM-Demo

Was macht man, wenn Daddy im Gefängnis war? Am besten alles boulevardesk fürs eigene Album ausschlachten! Das Publikum liebt True Crime und Rock’n’Roll. Und Sex soll es im Gefängnis ja manchmal auch noch geben. Der Klick-Erfolg ist garantiert! Wie privat also folgt St. Vincent ihrem Papa in den Knast auf „Daddy’s Home“?

Etwas schmaleres Budget als die erbeuteten Millionen von St. Vincents Gangster-Daddy hatte indes der Berliner Maurice Summen zur Verfügung, als er sich via Paypal weltweit Beats einkaufte für sein Konzept-Album „Paypalpop“, bei dem einem das Lachen oft im Halse steckenbleibt. Was gibt’s sonst noch bei unseren Alben der Woche, den Platten im Test? Sons Of Kemet sind was für die Black-Lives-Matter-Demo und die Party danach. Hotel Kali sind unser Berliner Geheimtipp der Woche. Und The Black Keys (vom Ex-Lana-Del-Rey-Produzent Dan Auerbach) sind irgendwie lala-okay, aber vielleicht kann man sich das neue Album auch knicken und kramt lieber ein altes raus.


St. Vincent: „Daddy’s Home“ (Loma Vista/Virgin/Universal)

Soul-Fusion Die Heimkehr von Papa beginnt mit einem betrunken stolpernden Kneipenklavier. Aber dann setzt schnell der pumpende Beat ein, aus dem Pub geht es auf den Dancefloor. In wenigen Sekunden hat St. Vincent musikalisch den Schock nachvollzogen, der ihren Vater ereilt haben könnte, als er nach neun Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde in eine veränderte Welt.

Denn „Daddy’s Home“, der Titel dieses sechsten Albums der amerikanischen Musikerin, ist nicht bloß allegorisch gemeint. Annie Clarks Vater saß tatsächlich ein: Der ehemalige Börsenmakler war involviert in einen millionenschweren Börsenbetrug und kam erst 2019 frei. Im Titelsong erzählt Clark alias St. Vincent davon, wie sie ihn vom Gefängnis abholt; in Interviews spricht sie über die Ungerechtigkeiten des US-Vollzugssystems – jedenfalls, solange die legendär launische Künstlerin dazu Lust hat: Zuletzt gab es einen kleinen Skandal, weil sie die Veröffentlichung eines Interviews verhinderte.

Tatsächlich hat „Daddy’s Home“ auch keine explizite politische Botschaft, sondern ist St. Vincent vor allem Anlass, abzutauchen in die Vergangenheit. Die Songs, so sagt die 38-Jährige, sollen in ihrer Gesamtheit den Soundtrack bilden zu einer im New York der Siebzigerjahre verbrachten Nacht. Folgerichtig gibt es wollüstig zuckenden Funk-Rock, möglichst künstlich klingende Synthies, auch mal ein breitbeiniges Gitarren-Solo, gemütliche Disco-Rhythmen, watteweiche Bläser-Arrangements oder zum Drinversinken plüschigen Soft-Rock – und generell einen warmen, retrospektiven Sound, der klingt, als wäre früher tatsächlich alles besser gewesen.

Es ist eine Neuerfindung für St. Vincent. Das überkandidelte Drama, das man von ihr kennt, ist nicht verschwunden, aber doch zurückgefahren zugunsten einer souligen Stimmung. Statt einen bloß staunen zu lassen, nimmt einen diese Musik an die Hand, führt durch die Clubs und Kneipen und sitzt schließlich morgens neben einem in der U-Bahn, wenn die Nacht geht und das Grau des Tages einen wieder ankriecht auf dem Weg nach Hause. (Thomas Winkler)


Sons of Kemet: „Black To The Future“ (Impulse!/Universal)

Afrokaribischer Folk-Jazz Und wieder gelingt es dem UK-Jazz-Star Shabaka Hutchings, in beispielloser Weise seine Sicht auf die Welt in musikalische Erzählungen zu übersetzen. Während sich seine Sons of Kemet filigran wie schweißtreibend in gewohnt sattem, afrokaribischen Sound mit zwei perkussiven Schlagzeugen, bassiger Tuba, Saxofon und vermehrt auch Flöten und Klarinetten durch seine perfekt arrangierten Kompositionen spielen, wird aus Wut und Resignation angesichts rassistischer Kontinuitäten ein kompromissloser, humanistischer Aufbruch. Kraftvoll wie optimistisch, eignet sich „Black to the Future“ sowohl als Hymne für jede Black-Lives-Matter-Demo, als auch für den Tanz danach – und ist ganz nebenbei extrem „Album des Jahres“-verdächtig. (Linus Rogsch)


Maurice Summen: „Paypalpop“ (Staatsakt/Bertus)

Auftrags-Pop Eine Schnapsidee? Oder eine visionäre? Eine Idee auf jeden Fall, wie sie wohl hierzulande nur Die-Türen-Mastermind und Staatsakt-Chef Maurice Summen haben kann: ein paar Texte und Melodien schreiben, und die dann von Ghost-Produzent*innen, also gesichtslosen Musik-Dienstleistern aus aller Welt, gegen kleines Geld mit Beats versehen lassen. Entsprechend divers ist das Ergebnis von elegantem Pop über ungelenken Trap und spinnerte Experimente bis zum klapprigen Dance. Visonär? Ja, aber vor allem sehr unterhaltsam. (Thomas WInkler)


Hotel Kali: „Hotel Kali“ (Antime/Word & Sound)

Crossover Es war in Kolkata, in seligen Prä-Pandemie-Zeiten, als Hotel Kali zusammen fanden. Die Berlinerin Theresa Stroetges (Golden Diskó Ship, Soft Grid), mit einem Goethe-Institut-Stipendium in Indien, jamt mit den lokalen Musiker*innen Varun Desai, Debjit Mahalanobis und Suyasha Sengupta. Vom gemütlichen Raga-Pop „Say When“ über den zufrieden pumpenden Dance-Track „Disco Shobar“ bis zur der sich im Atonalen verlierenden Improvisation „Calm/Storm“ schreitet das Ensemble die gesamte Bandbreite des Kulturen-Clash ab. (Thomas Winkler)


The Black Keys: „Delta Kream“ (Nonesuch/Warner)

Blues Wer die Black Keys nur als Indie-chartstürmende Überflieger wahrgenommen hat, der konnte leicht übersehen, dass das US-Duo vom Blues kommt. Zu dem kehrt es nun mit Macht zurück. Gitarrist Dan Auerbach und Schlagzeuger Patrick Carney covern elf Mississippi-Country-Blues-Stücke, die nicht unbedingt berühmt sind, aber ihnen viel bedeuten. Eine Vergewisserung der eigenen Wurzeln, die zu zurückgelehntem Blues führt, aber nichts mehr zu tun hat mit dem brutal eingängigen Hard-Rock-Pop ihres bald zehn Jahre alten, großartigen Albums „El Camino“. (Thomas Winkler)


Mehr Musik

Plattencover, auf denen man Berlin sieht, haben eine lange Tradition. Der Glanz der Stadt, bedeutende Sehenswürdigkeiten und die Tanzhallen und Ballhäuser gaben schon in der Frühzeit der Musikindustrie visuell genug her, um den Verkauf von Tonträgern anzuheizen. Die Berliner 80s-Charts-Überflieger Alphaville („Forever Young“, „Big In Japan“ packen aus über ihre wilde Zeit in West-Berlin und Drogen. Wer Trost braucht: Das Album „Hinüber“ der Berliner Pop-Hiphopperin Mine ist der Kick gegen Weltschmerz. Außerdem mehr Alben der Woche, mehr Platten im Test: Sophia Kennedy begeistert mit Geistern, Haiyti mit Berliner Kiez-Trap. Unser Berlin Danger Dan rettet die Kunstfreiheit – und Dawn Richard rettet gleich die ganze Zukunft.

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