Musik

Albertine Sarges über Freundschafts-Heartbreak und Vogelbeobachtung

Die Berliner Musikerin Albertine Sarges ist es gewohnt, mehrere kreative Projekte gleichzeitig zu jonglieren. Gerade erst stand sie gemeinsam mit Kat Frankie für das Acapella-Projekt „B O D I E S“ auf der Bühne der Philharmonie. Im Februar erschien ihr neues Soloalbum „Girl Missing“, dabei arbeitet sie nebenbei schon an der nächsten Platte. Zwischen all dem Trubel hat tipBerlin-Redakteurin Marit Blossey sie zum Interview getroffen.

Albertine Sarges bei ihrer großen Leidenschaft: Vogelbeobachtung. Foto: Sibylle Fendt

„Das Album ist ein krasses Beispiel für etwas, was ökonomisch überhaupt keinen Sinn macht – das fühlt sich wie ein Triumph an“

tipBerlin Wie geht es dir gerade? 

Albertine Sarges Es ist gerade eine verrückte Zeit. Mein neues Album kommt raus, und gleichzeitig nehme ich schon das nächste auf. Ich bin also an vielen Fronten gleichzeitig, aber genau das macht mir Spaß. Ich mag es, wenn ich viele unterschiedliche Projekte habe und gar nicht dazu komme, mich zu langweilen. 

tipBerlin Wie kommt es dazu, dass du vor dem Release von „Girl Missing“ – worüber wir gleich sprechen werden – schon begonnen hast, an der nächsten Platte arbeitest?

Albertine Sarges Je mehr man über eine Sache nachdenkt, desto verkopfter wird es, besonders in der Kunst. Ich bin sowieso eher ein verkopfter Typ. An „Girl Missing“ habe ich drei Jahre gearbeitet. Neulich las ich von einem Dichter aus dem 17. Jahrhundert, der einen Spleen hatte, Äpfel vom Baum zu essen, ohne sie zu pflücken. Das hat mich total inspiriert! Ich dachte, es wäre cool, mal ein Album zu machen, das noch wie ein Apfel am Baum hängt – so richtig frisch. Ich gehe nur mit Skizzen ins Studio, die Songs sind noch unfertig. Normalerweise würde ich das nie machen, es ist der krasse Gegensatz zu dem Album, das jetzt erscheint. Okay, damit mache ich natürlich tolle Werbung für „Girl Missing!“ (lacht)

tipBerlin Wie lief denn die Arbeit zu „Girl Missing“ ab? 

Albertine Sarges Das Album ist ein sehr ehrliches Stück Musik. Wir erleben auch in der Musikindustrie, dass Arbeitsprozesse immer stärker ökonomisiert, Songwriting oder Produktionsschritte ausgelagert werden. Das ist keine kreative Zusammenarbeit, sondern ist Dienstleistung. Dieses Album ist das Gegenteil – es macht wirtschaftlich absolut keinen Sinn, aber es fühlt sich wie ein Triumph an. (lacht) Wir haben uns den Luxus gegönnt, intensiv und liebevoll zu arbeiten, ergebnisoffen und ohne Zeitdruck. Diese Arbeitsweise hat mich und die Leute, mit denen ich arbeite, mit Sinn erfüllt. Eine ganz untypische Arbeitsweise für unsere Zeit.

Platonische Trennungen finden in der Musik wenig Beachtung

tipBerlin Um welche Themen dreht sich das Album?

Albertine Sarges „Girl Missing“ handelt von einer Verlusterfahrung, die mich persönlich sehr geprägt hat. Es geht um eine enge platonische Freundschaft, die einfach beendet wurde, ohne Vorwarnung, ohne Erklärung – ich wurde geghostet. Das Album entstand als eine Art Verarbeitungsprozess dieses Verlusts. Es ist eigentlich ein Breakup-Album, nur dass es diesmal um eine platonische Beziehung geht, was in der Musik wenig Beachtung findet – im Vergleich zu den üblichen romantischen Themen.

tipBerlin Denkst du darüber, wie das Album ankommen wird – vielleicht sogar bei der Person, um die es geht?

Albertine Sarges Das ist natürlich total krass jetzt. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Person das wahrnimmt und versteht, was es damit auf sich hat. Aber es geht mir nicht darum, eine Reaktion zu provozieren. Für mich war dieser ganze Prozess der Trauerbewältigung sehr heilend. Ich habe viel in Gemeinschaft gearbeitet, war selten alleine mit den Emotionen, die in das Album eingeflossen sind. Für viele Chöre auf dem Album habe ich Freund:innen eingeladen. Musik ist auch eine soziale Praxis, die Trauerprozesse begleiten kann.

tipBerlin Das klingt schön. 

Albertine Sarges Das Album ist eine Form von Therapie. Trotz des traurigen Themas enthält es viel Positivität. Mein Vater ist gestorben, als ich 19 war, und obwohl er lange krank war und wusste, dass er sterben würde, hat er immer weiter Witze gemacht. Wir haben zusammen viel gelacht. Auch das wollte ich ins Album einfließen lassen: dass man lachen und weinen kann, dass beides nebeneinander existiert. Die Songs sind groovy, man kann sie gut beim Autofahren hören.

tipBerlin Ein guter Soundtrack also?

Albertine Sarges Genau. Musik für eine Reise. Viele Songs sind auf 93 BPM geschrieben, was das Geburtsjahr der Person ist. 

tipBerlin Oh, I see what you did there!

Albertine Sarges Es ist auch einfach ein sehr schönes Tempo.

„Ich wollte mit meiner Musik Kraft zeigen – aus feministischen Gründen“

tipBerlin Was wird beim nächsten Album anders? 

Albertine Sarges Die neuen Songs, an denen ich arbeite, sind ganz reduziert, nur Gitarre und sanfter Gesang. Das erinnert mich daran, wie ich früher Musik gemacht habe – oft zu Hause, weil man sich als Mädchen in Proberäumen nicht immer willkommen fühlt. Also habe ich mit meiner Akustikgitarre leise Lieder geschrieben, damit es niemanden stört. Das ist eine klassische Erfahrung. Ich glaube, viele Frauen neigen dazu, eher ruhige Musik zu machen, oft aus praktischen Gründen, weil sie nicht unbedingt die Räume oder Gelegenheiten haben, laut zu sein. Ich habe das lange abgelehnt – aus feministischen Gründen wollte ich mit meiner Musik auch Kraft zeigen. Mit meinem ersten Album habe ich mir eine Gibson-SG-Gitarre gekauft und dachte, ich könnte so Alabama-Shakes-Rockvibes rüberbringen – viel Körper, viel Energie. Aber mit diesem Album („Girl Missing“, Anm. d. Red.) habe ich das Gefühl, dass ich genug Kraft gezeigt habe. Ich habe total Lust auf etwas Zarteres, mit weniger Notwendigkeit, etwas zu beweisen. Es geht um Zurückhaltung, Leichtigkeit. Vielleicht hängt das auch mit meinem Hobby zusammen: Vogelbeobachtung.

tipBerlin Wie hängt das zusammen?

Albertine Sarges Birdwatching hat durch die Pandemie einen richtigen Trend erlebt. Vor allem, weil immer mehr Menschen merken, dass die Natur in der Stadt oft besser erhalten bleibt als auf dem Land. Durch die moderne Landwirtschaft mit Pestiziden ist die Natur in städtischen Gebieten manchmal besser geschützt. Zum Beispiel sind Grünstreifen an der S-Bahn oft wertvoller als Felder, weil sie nicht besprüht werden. In Städten wie Berlin gibt es sogar noch viele Hecken, die relativ unberührt sind. Das sind perfekte Lebensräume für Vögel. Wusstest du, dass es in Berlin im Sommer mehr Nachtigallen gibt als in ganz Bayern? 

Birdwatching als Hobby: „Tauben haben so ein schlechtes Image!“

tipBerlin Verrückt!

Albertine Sarges Leute kommen aus aller Welt nach Berlin, um Habichte zu beobachten. Die brauchen eigentlich tiefe Wälder mit alten Bäumen, aber in Berlin findet man sie in den Stadtparks, weil diese Gebiete nicht bewirtschaftet werden. Der Tiergarten ist bekannt für eine hohe Habicht-Dichte. Wenn du darauf achtest, wirst du viele Leute mit Ferngläsern sehen, die nach ihnen Ausschau halten. Es ist faszinierend, wie diese Tiere in der Stadt leben, obwohl sie eigentlich nicht dort zu Hause sind.

tipBerlin Das ist beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass Berlin so ein Vogelparadies ist.

Albertine Sarges Es ist natürlich nicht immer so paradiesisch. Wenn man sich intensiver mit Vögeln beschäftigt, entwickelt man ein Mitgefühl und möchte sie beschützen. Ich würde mich zum Beispiel gerne für Stadttauben einsetzen. Tauben haben so ein schlechtes Image, dabei sind das meistens gezüchtete Haustauben, die entflogen und in die Städte gekommen sind, da sie hier bessere Bedingungen finden. Leider werden sie oft verachtet und schlecht behandelt. Bei Hochzeiten lässt man schöne Tauben fliegen, aber wenn sie dann am Kotti sitzen, ekeln wir uns vor ihnen – eine Doppelmoral! Das ist ein bisschen wie mit den Straßenhunden in Rumänien: Eigentlich ist das unser Werk. Es zeigt, wie wenig wir uns mit der wahren Situation dieser Tiere auseinandersetzen. 

tipBerlin Also hat Birdwatching deinen Blick auf die Stadt – als Urberlinerin – verändert?

Albertine Sarges Wenn du erst mal in dieses Thema eintauchst, siehst du die Stadt mit anderen Augen. Du merkst plötzlich, dass Orte wie das Tegeler Fließ, der Tiergarten oder die Tempelhofer Freiheit völlig andere Dimensionen bekommen. Besonders früh morgens ist das eine ganz besondere Magie. Ein bisschen wie das Gefühl, das man manchmal hat, wenn man nach einer durchfeierten Nacht nach Hause geht und die Stadt plötzlich anders wirkt.

  • Albertine Sarges Girl Missing (Moshi Moshi Records)

Schöne Orte für Vogelbeobachtungen in Berlin stellen wir übrigens hier vor


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