Als „Gastarbeiter“ brachten die türkischen Einwanderer vor mehr als 60 Jahren neue Musik ins Land, seitdem hat sich viel getan. Eine musikalische Emanzipationsgeschichte von Metin Türköz bis Apache 207.
Die Tickets für das Konzert von Apache 207 in Berlin waren innerhalb weniger Minuten ausverkauft
Auf der Bühne schlagen Menschen Pow-Wow-mäßig die Marching Bass Drum und stoßen Schlachtrufe aus, die Menge schreit immer wieder „Apache!“, so lange, bis der Zwei-Meter-Mann mit den langen schwarzen Haaren auf die Bühne kommt. Was zunächst nach Cultural appropriation klingt, ist das erste Live-Konzert des Deutsch-Rap-Pop Shootingstars Apache 207 vor gut einem Jahr in der Schweiz. Vor 14.000 Fans singt Volkan Yaman, wie der Ludwigshafener mit bürgerlichem Namen heißt, es ist eine bestandene Feuerprobe. Wegen Corona waren Live-Auftritte lange nicht möglich, die erste Stadion-Tour musste mehrmals verschoben werden. Erst im Oktober 2022 trat Apache 207 in der Mercedes-Benz Arena auf, die Tickets waren innerhalb von Minuten ausverkauft. Genauso wie für die Zusatzshow, die er am 19. Januar am gleichen Ort in Berlin gibt.
Dass dem heute 25-Jährigen bei seinem Live-Debüt gleich eine volle Arena zu Füßen liegt, zeugt von dem Mega-Erfolg des Musikers, der sich nicht leicht in Genre-Schubladen stecken lässt. Stilistisch bewegt er sich irgendwo zwischen zuweilen misogynem Deutschrap, schmachtendem Pop und Synthie-80er-Retro-Sound. Damit reiht sich Apache 207 in die Reihe von Deutschrappern wie Bonez MC, Luciano oder RAF Camora ein, die seit Jahren die Spotify-Charts anführen. Gleichzeitig gehört er zu einer Gruppe überaus erfolgreicher Deutschrapper, die einen Migrationshintergrund haben, oftmals einen türkischen.
Apache 207: Im Plattenbau mit alleinerziehender Mutter aufgewachsen
Wenn man so will, ist die Karriere von Apache 207 eine Geschichte der Emanzipation. Zuerst eine persönliche. In der auf Amazon Prime erschienenen Doku „Apache bleibt gleich“ wird der Aufstieg von Volkan Yaman nachgezeichnet. Es war ein rasanter Aufstieg von dem Jugendlichen mit türkischen Wurzeln, der im Plattenbau mit einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs und im Keller den Nachbarn die Haare schnitt, um seiner Familie finanziell unter die Arme zu greifen, über die ersten Rap-Versuche auf dem Schulhof und die selbstgedrehten Musikvideos bis zu goldenen Schallplatten und ausverkauften Stadien. Andererseits ist Apaches Erfolg auch eine kulturelle Emanzipationsgeschichte, die der türkeistämmigen Community in Deutschland und ihrer Musik.
Angefangen hat sie vor gut 60 Jahren, mit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen von 1961, in dessen Folge türkische Arbeitskräfte zum Aufbau der bundesrepublikanischen Wirtschaft ins Land kamen. Da für die sogenannten „Gastarbeiter“ Kontakte in die Heimat damals deutlich schwieriger waren als in Zeiten von Internet und Billigfliegern, musste diese Verbindung auf andere Weise geschaffen werden: Neben kleinen Lebensmittelgeschäften und Imbissen, durch die die Türkei zumindest kulinarisch ein Stück näher war, fanden sich schnell auch Musiker zusammen, um für ein bisschen kulturelles Heimatgefühl zu sorgen.
So entstand eine eigene Musikszene, in der anfangs noch Folklore auf der Saz gespielt und gesungen wurde. Schon bald aber kamen Lieder hinzu, die vom schwierigen Leben in der Fremde handelten. Diese „Gurbetçi“-Songs kamen bei der türkischen Diaspora so gut an, dass in der Community eigene Labels für den Vertrieb gegründet wurden. Bei deutschen Labels fehlte jegliches Interesse, die türkischen Lieder zu veröffentlichen und die Musik blieb unter dem Radar der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dennoch erreichten die Tonträger großer deutsch-türkischer Labels wie Türküola oder Türkofon hohe Verkaufszahlen. Während die Griechin Vicky Leandros 1974 mit „Theo, wir fahr’n nach Lodz!“ die Hitparade stürmte, verkaufte sich „Beyaz Atlı“ von Yüksel Özkasap, der „Nachtigall von Köln“, mehr als doppelt so oft wie der Leandros-Schlager. Und wie der dieses Jahr auf der Berlinale prämierte Film „Liebe, D-Mark und Tod” von Cem Kaya zeigt, erhielt Yüksel Özkasap für ihre Singles und Alben auch zahlreiche goldene Schallplatten. Von der deutschen Bevölkerung und den Medien völlig unbemerkt.
Harte Arbeit am Fließband
Die Kultur blieb unbemerkt, die Menschen selbst waren oft nicht gewollt. Denn die hunderttausenden angeworbenen Arbeiter kehrten nicht wie zunächst gedacht nach einigen Jahren harter Arbeit in der Zeche oder am Fließband wieder zurück in die Türkei. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Nachfrage von Seiten der anwerbenden Unternehmen war die auf zwei Jahre angelegte Befristung der Aufenthaltsdauer schon früh gekippt worden, ebenso wie das Verbot des Familiennachzugs, doch die Bezeichnung der türkischen Arbeitskräfte als „Gastarbeiter“ prägte sich in den deutschen Köpfen ein.
Ein Einwanderungsland wollte man in den 1970er-Jahren (und auch noch später) nicht sein und so verschloss sich die Mehrheitsgesellschaft recht erfolgreich einer Integration und dem Kennenlernen der neuen Kultur. Die prekäre arbeitsrechtliche Situation tat ihr Übriges, um in der türkischen Community einen Protestgeist zu wecken, der unter anderem in Liedern wie „Deutsche Freunde“ von Ozan Ata Canani und „Es kamen Menschen an“ von Cem Karaca (der tatsächlich kein Gastarbeiter war, sondern exilierter Rockmusiker) Ausdruck fand.
Die Einwanderer sangen zunehmend auf Deutsch, denn wo in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren vor allem noch die Heimat und das Fremdsein in Deutschland besungen wurden, wurde die Musik ab Mitte der 1970er-Jahre eine Form des Protests. Sowohl Karaca als auch Canani griffen in ihren Liedern auf, was Max Frisch schon 1965 formulierte: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Als einer der Ersten besang Aşık Metin Türköz schon kurz nach seiner Ankunft als Ford-Arbeiter in den frühen 1960er-Jahren die Missstände der ausländischen Arbeiter, und zwar oft in einem türkisch-deutschen Sprachmix, mit dem er in Liedern wie „Guten Morgen Mayistero“ ironisch die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen anprangerte.
Aber auch hier hörte ihnen außerhalb der türkischen Community in Deutschland trotz der deutschen Texte immer noch fast niemand zu. Gleichzeitig stieg mit der Rezession und hohen Arbeitslosenzahlen die Fremdenfeindlichkeit. Schon Mitte der 1980er-Jahre kam es zu ausländerfeindlichen Brandanschlägen, mit der Wiedervereinigung erstarkte bundesweit eine rechtsextremistische Szene, deren Gewalt Anfang der 1990er-Jahre in den Anschlägen von Mölln, Solingen und Lichtenhagen einen beschämenden Höhepunkt erfuhr.
Unter diesen Eindrücken wuchs eine neue Generation Deutscher mit Migrationshintergrund heran. Um sich zumindest auf der Straße sicherer vor rechter Gewalt zu fühlen, schlossen sich viele Jugendliche in Straßengangs zusammen. Etwa die berüchtigten 36 Boys aus Kreuzberg, die später mit Schlägereien auf sich aufmerksam machten, anfangs aber ein identitätsstiftender Zusammenschluss deutsch-türkischer Jugendlicher waren.
Zur selben Zeit schwappte etwas Neues aus den USA nach Europa. Das neu aufgekommene Privatfernsehen und die im Westen stationierten G.I.s brachten einen in den USA nicht mehr ganz neuen Trend in die Kinderzimmer und Jugendzentren des Landes. Die Hip-Hop-Kultur wurde zur undergroundigen Freizeitbeschäftigung und fand vor allem bei Jugendlichen aus Einwandererfamilien großen Anklang.
In Breakdance, Sprühen und vor allem Rap konnten sie ihre Wut ausdrücken, so wie vor ihnen die diskriminierte afro-amerikanische Minderheit in den Vereinigten Staaten. Erst auf Englisch, später auch auf Deutsch und teilweise sogar Türkisch kanalisierten Gruppen wie $lamic Force und Cartel ihre Wut auf den Rassismus, der ihnen entgegenschlug. „Ahmet Gündüz“ von Fresh Familee wird oft als erster deutscher Rap-Song bezeichnet und hat eine klare Botschaft: „Du bist nicht besser als ich, ich bin nicht besser als du. Lass uns Frieden schaffen jetzt, heute hier im Nu. Das macht doch alles gar nichts ob Kopftuch oder nicht.“ Advanced Chemistry trugen 1992 mit „Fremd im eigenen Land“ zum ersten Mal die Musik des Conscious Rap in Abgrenzung von „Spaßrappern“ wie den Fantastischen Vier an eine breitere Öffentlichkeit heran.
Ab Mitte der 1990er gründeten sich erste Label, Deutschrap wurde kommerzialisiert und damit populär, und spätestens um die Jahrtausendwende explodierte die Szene. Postmigrantische Rapstars waren vorne mit dabei. Kool Savas, bürgerlich Savaş Yurderi, battlete sich öffentlichkeitswirksam mit Eko Fresh, bürgerlich Ekrem Bora. Das von Halil Efe mitgegründete Label Aggro Berlin machte Gangstarap salonfähig. In den 2010er-Jahren hatten Texte wie Haftbefehls, bürgerlich Aykut Anhan, „Chabos wissen wer der Babo ist“ einen enormen Einfluss auf die deutsche (Jugend-)Sprache. Tracks türkeistämmiger Rapper stehen seitdem regelmäßig in den Charts. Mittlerweile dominieren sie diese, Deutschrap ist längst Pop geworden und wird langsam auch diverser. So rappt zum Beispiel Ebow (ebenfalls ein „Gastarbeiter“-Enkelkind) über feministische und antirassistische Themen. Es ist nicht alles nur bling bling in der Rapwelt.
„Scheiße Mann, jetzt sind wir also fame“
Mehr als 60 Jahre nach dem ersten türkischen Arbeiter, der in Deutschland ankam, ist die Musik der türkischen Community untrennbar mit Pop Made in Germany verbunden. Dafür muss man sich nur die Biografien vieler Deutschrapper anschauen oder einfach nur ihre Texte hören. Zum Beispiel von Apache 207, der mit Zeilen wie „Scheiße Mann, jetzt sind wir also fame“ oder „Ich bring Brot nach Hause“ immer wieder den (eigenen) sozialen Aufstieg thematisiert und teilweise auch auf Türkisch singt.
Er und die anderen großen deutsch-türkischen Rapper bringen inzwischen deutlich mehr als nur Brot nach Hause. Genauso haben auch die türkischen Musiker der ersten und zweiten Generation in Deutschland oft mehr als Brot nach Hause gebracht. Ihre Erfolge waren nur außerhalb der Community nicht sichtbar. Das ändert sich gerade, wenn auch langsam, und ist vor allem der akribischen Archivarbeit von Imran Ayata und Bülent Kullukcu sowie Cem Kaya zu verdanken. Erstere versammelten auf inzwischen zwei Platten die „Songs of Gastarbeiter“, letzterer hat die deutsch-türkische Musikgeschichte mit einer Zusammenstellung alter Ton- und Videoaufnahmen grandios erfahrbar gemacht. Deutsche Freunde, es gibt noch viel zu entdecken!
Vorher kommt aber noch einmal Apache 207 in die Stadt, in der ausverkauften Mercedes-Benz Arena werden wieder Trommeln erklingen und die Menge wird ihm zujubeln. Es war ein langer Weg bis dorthin.
- Apache 207 Mercedes-Benz Arena, Do 19.1., 20 Uhr, ausverkauft, nächstes Konzert: Waldbühne, Sa 16.9.2023, 20 Uhr, VVK 75 €
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