Rückblick 2024

Beste Berliner Platten unter dem Radar – Rückblick aufs Musikjahr 2024

Berlin ist bis zum Rand voll mit fantastischer Musik. 2024 brachten Berliner Musiker:innen tolle Platten heraus. Angesichts der Masse an Veröffentlichungen bekommen längst nicht alle die verdiente Aufmerksamkeit. Hier kommt darum eine Annäherung mit ein wenig unter dem Radar fliegenden Alben von R’n’B bis Hip-Hop, Soul bis Jazz, Post-Punk bis Alternative, Krautrock bis Ambient, Electronica bis Trip-Hop.

Auf Entangled Grounds durfte Abase natürlich nicht fehlen, aber der Berliner hat mit „Awakening“ ein eigenes Album veröffentlicht. Foto: Stanislav Bendarjevsky
Auf Entangled Grounds durfte 2024 Àbáse natürlich nicht fehlen, aber der Berliner hat mit „Awakening“ ein eigenes Album veröffentlicht – eine der besten Berliner Platten, die im Musikjahr 2024 unter dem Radar gelaufen sind. Foto: Stanislav Bendarjevsky

Figub Brazlevič läuft unter Radar, aber ist hochproduktiv

Figub Brazlevič produziert seit über zehn Jahren nimmermüde Beat um Beat. Alleine in diesem Jahr veröffentlichte der Moabiter Boom-Bap-Spezialist unter anderem mit zwei Alben mit Parental und Galv, releaste drei Instrumental-Alben neu, dazu eine EP mit Alyssa und einzelne Tracks z.B. mit MC Rene. Sein 2024er-Opus Magnum aber ist „Triumvirat“ von der Galv-Platte, auf dem er Ära-umspannend Deutschrap-Legenden wie Torch, Samy Deluxe und Morlock Dilemma den Beat-Teppich ausrollt. Figub Brazlevič als hyperaktiv zu beschreiben ist eine Untertreibung.

Die Berliner Alternative R’n’B-Sängerin Mulay hat eigentlich alles, was es für eine große Karriere braucht: eine Wahnsinnsstimme, zeitgemäße Beats, universelle und doch klare Themen, komplexe Arrangements, dazu ein Gesamtkonzept, das visuelle Ästhetik und Roll-Out mitdenkt. Mit ihrer Debütplatte „Lavender“ reiht sie sich musikalisch in die erste Reihe künstlerisch anspruchsvolle R’n’B-Künstlerinnen ein. Und genau dort gehört sie auch hin.

Eine der interessantesten musikalischen Häutungen hat dieses Jahr Public Display Of Affection rund um Sängerin Madeleine Rose erlebt. Vom schroffen Postpunk mit noisigen Einflüssen hin zu sphärischem, atmosphärisch dichtem Alternative Pop, der sich Elemente des Trip-Hop und Electronica bedient, nur um dann ab zwei Dritteln des Albums doch noch in Richtung Postpunk zu kippen. Die ganze Platte ist ein Wahnsinnsritt und trägt eine unvorstellbare Tragik in sich: Bassistin Amanda Longo starb vor wenigen Wochen kurz nach der Veröffentlichung bei einem Unfall. Möge die Erde ihr leicht sein.

Einen ganz eigenen Flavour bringt Marie Antoinette auf ihrer „Das süße Nichtstun“-EP mit. Verschiedene Facetten des Souls und R’n’B werden hier genauso aufgefächert, wie Ausflüge in Richtung Rap und House unternommen. Textlich changiert Marie Antoinette zwischen persönlichen Geschichten und Female Empowerment.

Dem XJazz Festival ging es zwischenzeitlich nicht besonders gut. Nach einem Wegfall einer großen Förderung war das stilprägende Berliner Jazz&mehr Festival in seiner Existenz bedroht. Mittlerweile ist das Festival vorerst gerettet und hat für 2025 ein vielversprechendes Line Up vorgelegt. Wie schade es wäre, wenn dieses Festival wegfiele, zeigt sich auf der in diesem Jahr erschienen Compilation „Entangled Grounds – The Sound of XJazz Berlin“. Von Free Jazz über Jazzpop bis hin zu polyrhtymischen Afrojazz  Berliner Künstler:innen ist hier vieles vertreten, was die Jazzstadt Berlin so spannend und relevant macht.

Auf Entangled Grounds durfte Àbáse natürlich nicht fehlen, aber der Berliner hat mit „Awakening“ ein eigenes Album veröffentlicht, das seine Stellung als Ausnahmeproduzenten weiter festigt. Seine Melange aus Afrobeat, Jazz, Hip-Hop und Electronica mit einem speziellen Gespür für Spannungskurven arrangiert. Dabei berührt er sowohl was Sounds als auch was Qualität angeht immer wieder Vorbilder des Spiritual und Cosmic Jazz. Tolle Platte.

Fast möchte man die Musik von SOPHE als Post Jazz bezeichnen. Der Jazz-„State of Mind“ ist auf ihrer EP „Hey, Calm Down“ an allen Ecken zu hören, nur Jazz als Musikstil eher nicht. Schon eher polyrhythmischer Alternative Pop, der sich ein paar Ästhetiken aus dem Afrobeat, Indie oder TripHop leiht. In jedem Fall komplexe Musik, in der es sehr viel zu entdecken gibt.

Ganzheitlichkeit, die Schönheit und Leid nicht mehr als Gegensätze sieht

Der Assistent ist der Künstlername von Tom Hessler, der als Sänger und Gitarrist der Indieband Fotos unterwegs war und jetzt seine zweite Solo LP „Amnesie am Amazonas“ vorgelegt hat. Einflüsse sind Soft Rock, Dub, 80’s Soul, Lo-Fi-Pop, gerne brasilianischer Prägung. Gerne mittels leichtfüßiger Synthies und Percussions aus dem Drumcomputer. Im Gegensatz zu diesem fast schon zuckrigen Soundkonzept kommt Der Assistent eben mit melancholischen, fast schon unterbewusst wabernden Texten um die Ecke, die eine diffuse Angst und Abgründe einfangen. Und so ergibt sich eine eigene Ganzheitlichkeit, die Schönheit und Leid nicht mehr als Gegensätze sieht, sondern längst als Teil eines Ganzen verstanden hat.

Ins atmosphärisch Dunkle, fast Düstere steigen Lucy Kruger & The Lost Boys herab. Die Südafrikanerin reflektiert auf „A Human Home“ noch einmal die Pandemiezeit und all ihre Abgründe. Die Platte entwickelt mit ihrem eigenwilligen Art Pop mit Punk, Ambient und Psychedelic-Einflüssen einen ganz eigenen Sog. In dessen Abgründigkeit liegt eine seltsame Behaglichkeit.

Delving ist das Soloprojekt von Nick di Salvo (Elder), verstärkt unter anderem von Elder-Gitarrist Michael Risberg. Noch stärker als bei ihrer Ursprungsband scheinen hier elektronisch untersetzte Krautrock der 70er Jahre und breit ausgerollter Prog Rock durch, was sich auch in der Länge der Songs zeigt: kein Track unter sechs Minuten, „All Paths Diverge“ ist eben eine ausgiebig trippende Erfahrung. In diesem Zusammenhang auch zu empfehlen ist „Roter Traum“ von WEITE, dem dritten Projekt von Nick di Salvo und Michael Risberg.

Atmosphärisch in ähnlichen Gefilden, aber noch sanfter ist Perilymph unterwegs. Auf „Progressives Imaginaires“ entsteht ein kunterbuntes Kaleidoskop, das geschmeidige Polyrhythmik, Riffs und groovende Lieblichkeit verbindet.

Ebow hat dieses Jahr etwas gemacht, was es so im Rap einfach noch nicht gab: ein Konzeptalbum über lesbische Liebe. Ausgehend von der eigenen Biografie beschreibt Ebow auf „FC Chaya“  in bildhaften Texten, die hier und da zu Spoken Word-Kurzgeschichten werden, alle Facetten ihres Aufwachsens und Lebens als queere Frau. Und sie rappt und singt eindringlich über den Schmerz der Krisen im Inneren und Außen.

Cosey Mueller katapultiert sich in ein düsteres Vorwende-Berlin

Cosey Mueller katapultiert sich und die Hörerschaft mit ihrer Platte „Softcore“ in ein düsteres Vorwende-Berlin. Drumcomputer, die so Retro klingen als wären sie so groß wie ein Badezimmer im Plattenbau. Dazu erzeugt Mueller eine kühle Synthieästhetik und ist damit am ehesten im Cold Wave und Postpunk anzusiedeln. Allerdings ohne zu sehr die Klischee-Klaviatur zu spielen und doch stringent genug um zu überzeugen.

Spirit Design machen in Sachen Postpunk auch so ziemlich alles richtig. Eine raubeinige Schrammel-Produktion, dazu noisige und spontan wirkende Details, trotzdem eingängige Melodien und explosive Riffs. Die „Auto Tunes“-EP unterstreicht dies eindrucksvoll. Und deswegen: Hypeprognose für 2025!

Die Berliner Afar sind seit vielen Jahren als eine der spannendsten Livebands für elektronische Musik unterwegs. Zwar gab es dieses Jahr keine neues Album, stattdessen aber eine Remix-Platte, auf der Produzenten wie Acid Pauli, Kerala Dust oder Hainbach drei Afar-Tracks neu mischten. Die Remixes sind so unterschiedlich, dass man fast glauben könnte, sieben komplett unterschiedliche Songs vor sich zu haben.

Platten unter dem Radar: Die Übersicht

  • Figub Brazlevič Métro-Bahn mit Parental
  • Figub Brazlevič Transrapid mit Galv
  • Mulay Lavender
  • Public Display Of Affection Expressions Of Obsessions
  • Marie Antoinette Das süße Nichtstun
  • Compilation Entangled Grounds – The Sound of XJazz Berlin
  • Àbáse Awakening
  • SOPHE Hey, Calm Down
  • Der Assistent Amnesie am Amazonas
  • Lucy Kruger & The Lost Boys A Human Home
  • Delving All Paths Diverge
  • WEITE Roter Traum
  • Perilymph Progressives Imaginaires
  • Ebow FC Chaya
  • Cosey Mueller Softcore
  • Spirit Design Auto Tunes
  • Afar The Refuge Remixes

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