Ein erhebender Abend in der Verti Music Hall: Bob Dylan spielte am 5. Oktober 2022 das erste von seinen drei Berlin-Konzerten in diesem Jahr, mit neuer Band und vorwiegend Songs aus dem 2020 erschienenen Album „Rough and Rowdy Ways“. Der 81 Jahre alte Nobelpreisträger bleibt aktuell und ist ein Meister der Zeit – im Publikum drehten sich die Gespräche um Sylt und Richard Wagner.
Bob Dylan und die Originalität, eine komplexe Geschichte
Draußen auf dem Platz, der vorgibt, ein Stadtplatz zu sein, tatsächlich aber halb spießige Fußgängerzone, halb „Blade Runner“-Szenerie ist, dort zwischen den Monumenten des Kapitalismus (was als Umgebung für ein Dylan-Konzert längst kein Widerspruch mehr ist, vielleicht nie einer war), dort am Eingang, nicht zum Himmelstor, aber immerhin zur Verti Music Hall am Mercedes Platz, dort stand ein hipper Straßenmusiker im Hut und Röhrenjeans und sang Lieder von Bob Dylan. „Oh, Sister“, „Hurricane“ und viele andere, man hörte ihn noch gut, wenn man mit gelöstem Ticket in der Hand auf der Terrasse der Konzerthalle stand und sich die Wartezeit mit Bier und Zigaretten vertrieb.
Der Straßenmusiker war eine Kopie, die Kopie des mürrischen Nobelpreisträgers, auf den alle warteten, auf der Kopie des Platzes. Ein Vorspiel zum Original. Dabei klang die Kopie wie das Original, also das Original von einst, aus Dylans „großen“ Jahrzehnten, den 1960er- und 1970er-Jahren. Und das Original? Das weiß man eigentlich, das klingt schon lange nicht mehr wie das historische Original. Also nicht wie er selbst? Das ist verwirrend. Dylans erwartete und vermeintliche Originalität schichtet sich einfach bis zur Unkenntlichkeit übereinander, bis sie sich irgendwann auflöst, irrelevant oder zu etwas Größerem wird. Je nach Sichtweise. Dylan und die Originalität, das ist eh eine komplexe Geschichte.
Zufällig weiß ich, dass die Tickets für die vier „Ring“-Aufführungen bei etwa 1.100 Euro liegen
Kurz bevor es losgeht, schnappe ich ein Gespräch in der Reihe hinter mir auf. Ein Mann fragt eine Frau, ob sie sich in der Staatsoper den „Ring des Nibelungen“ ansehen wird, zufällig weiß ich, dass die Preise der Tickets für die vier Aufführungen bei etwa 1.100 Euro liegen. So, so. Aber nein, antwortet sie, da sei sie auf Sylt. Dieser Dialog hat sich tatsächlich so ereignet. Schön! Dann die Fanfare und aus dem orangen Halbdunkel erscheinen sechs in Schwarz gekleidete Figuren, sie spielen elektrische, akustische und mit Pedal betriebene Gitarren, Kontrabass, Schlagzeug, Klavier.
Es erklingt ein längeres Intro, wie aus einem Honky-Tonk im Zwischenreich, ein oder zwei Minuten rumpelt, stampft und dröhnt es. Dann raunt der kleine Mann in der Mitte der Bühne, der hinter dem schwarz abgehängten Klavier steht. Man sieht nur ein Stück seines Gesichtes und auch das wird vom Mikrofon verdeckt. Es ist Bob Dylan. I’m Not There. Er ist da und er ist nicht da. Das kann er.
Kein Bildschirm stört die Situation, die Handys stecken in fest verschlossenen Säckchen, ein analoger Abend, dem zwei weitere folgen werden, die vermutlich sehr ähnlich, vielleicht gleich ausfallen dürften. Sind sie dann Kopien? Schon wieder die Originalität. Die Instrumente bekommen schon früh viel Raum. Die Band spielt eine Musik, die nichts mit den Sechzigern zu tun hat, nichts mit den Siebzigern, nicht mal etwas mit den vergangenen Jahren, in denen sich Dylan am Great American Songbook und Frank Sinatra abgearbeitet hat. Diese Musik ist zeitgenössisch, sie schöpft natürlich aus dem Folk, Blues, Country und manche würde sie als zeitlos beschreiben, aber das stimmt nicht ganz. Zeitlosigkeit dürfte etwas sein, was Dylan nur bedingt interessiert.
Bob Dylan ist aktuell, er war das eigentlich immer und das verstörte immerzu die Fans
Dylan ist aktuell, er war das eigentlich immer und das verstörte immerzu die Fans, die einen anderen Dylan erwarteten. Und das verstört die Welt, die ihn schon längst ins Museum gesteckt hat, mit Orden behängt wie einen Weihnachtsbaum. „When you go your way and I go mine“, ächzt Dylan in „Most Likely You Go Your Way (And I’ll Go Mine)”. Der Song gehört zur Setlist, 1966 hat er ihn geschrieben, einer der wenigen Rückgriffe auf das alte Repertoire. Doch es ist irrelevant, wann der Song entstand. Wie ein postmoderner Philosoph dekonstruiert er seine eigenes Werk, fragmentiert die Musik, die Worte aber halten die Songs zusammen, verleihen ihnen eine, wenn auch schwer fassbare, Struktur. Alchemisch ändern sie ihre Aggregatszustände.
„I have no apologies to make“, singt er direkt im Anschluss in „I Contain Multitudes“, einem der insgesamt neun Songs vom aktuellsten Album „Rough and Rowdy Ways“. Nur das sehr lange Songepos „Murder Most Foul“ über JFK, die USA und den Pop fehlt. Auch hier ist er wieder aktuell, der 81-Jährige spielt an diesem Abend zur Hälfte Songs, die keine drei Jahre alt sind.
Einst sang Dylan, das sich die Zeiten ändern, heute ändert er die Zeit
Ein Dylan-Konzert lässt sich vielfältig erleben, das geht natürlich auch ohne Vorbildung und kann großartig sein. Keine Frage. Doch die Feinheiten, Nuancen und Besonderheiten erschließen sich erst durch das Studium der Materie. Dylanonlogie nennt sich der Fachbereich. Eine Welt, in der alles registriert wird und alles eine Bedeutung hat: Die Abfolge der Songs, die Zwischentöne, ob immer noch die alten Roadies dabei sind, ob er Mundharmonika spielt (tat er nicht), ob die Oscar-Statue auf dem Verstärker steht (tat sie nicht) oder das kurze „Thank you“ und ein kurzes „Oh“ davor, alles was Dylan an jenem Abend zum Publikum sagen sollte, jenseits der Vorstellung der Band.
Wirklich spannend ist aber etwas anderes, Dylan tut irgendetwas mit der Zeit. Er dehnt und verdichtet sie, lässt Lücken zu und eine Langsamkeit, die im Grunde keine ist. Die Songs sind, auch wenn sie langsam und sanft klingen, hart. Diamanten ähnlich. Harte Songs, die sich in einem eigenen Zeit-Kontinuum befinden. Nach 60 Jahren auf der Bühne, ist Dylan der Meister der Zeit. Vor Jahren sang er, dass sich die Zeiten ändern, heute ändert er die Zeit.
Mal ist er der „Shakespeare of our Times“, mal der Puck
Und am Anfang steht der Blues, zu ihm kehrt er zurück, immer wieder, und geht über den Rubikon. Es sind biblische Wahrheiten, existenzielle Tiefen, die sich in einen weltumfassenden Sound legen, der so amerikanisch ist wie nur irgendetwas. Ein oder zweimal lugt Dylan hinter seinem Klavier hervor, dann steht er da, mit steifer Hüfte, im schwarzen Western-Anzug und dunkelgrünen Satinhemd, das halb aus der Hose hängt, der Haarschopf seltsam dunkel, kein Hut auf dem Kopf, und blickt in den Raum wie ein alter Zauberer.
Mal ist er der „Shakespeare of our Times“, mal der Puck aus dem „Sommernachtstraum“, ein kauziges Wunderwesen, das über die Bad Boys Rolling Stones singt, über den Bluesmusiker Jimmy Reed und über Ginsberg und Kerouac und die anderen Beatniks. Er ist der Song and Dance Man und philosophiert in „Key West“, einem weiteren mythischen Ort auf seiner Karte mit der nur er navigieren kann. Später am Abend tritt er in den direkten Dialog mit Gott. Die Band spielt „Gotta Serve Somebody“ aus seiner so genannten christlichen Phase. Dylan singt: „Well it may be the Devil. Or it may be the Lord. But you’re gonna have to serve somebody.“ Dylan selbst dient aber nur einem Meister, dem Song. Und in flüchtigen Momenten der Transzendenz scheint es, als würde der Song ihm dienen.
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