Interview

Brezel Göring über Françoise Cactus, Berlin und Stereo Total

Stereo Total und Berlin gehörten fast 30 Jahre zusammen. Brezel Göring spielte auf ramschigen Gitarren und billigen Synthesizern vom ­Flohmarkt, Françoise Cactus trommelte stoische Rhythmen und sang in ihrem unnachahmlichen frankophonem Stil Songs, die vor Humor, Sex, Naivität und Perversion strotzten. Als Françoise Cactus im Februar 2021 an Krebs starb, war klar, dass dieses Kapitel der Musikgeschichte abgeschlossen ist. Nun erscheint ein opulentes Box-Set, auf dem die Alben aus den ersten zehn Jahren des Elektro-Pop-Punk-Trash-Duos versammelt sind, hinzu kommen Raritäten sowie ein Buch mit Bildern.

Es sollte kein Abschied werden, Françoise Cactus hat an dem Projekt noch mitgewirkt, dann kamen Corona, die Diagnose und der Tod. Anlässlich der Veröffentlichung von „Chanson Hystérique 1995-2005“ sprachen wir mit Brezel Göring, ihrem Lebenspartner und Verbündeten im Musikalischen wie im Privaten. In dem Gespräch blickt er auf die gemeinsame Zeit zurück, die in den frühen 1990er-Jahren irgendwo zwischen Kreuzberg und Mitte begann.

Françoise Cactus und Brezel Göring waren von 1993 bis 2021 Stereo Total. Foto: Promo
Françoise Cactus und Brezel Göring waren von 1993 bis 2021 Stereo Total. Foto: Promo

Für Brezel Göring war West-Berlin „wie in einem Traum“

tipBerlin Brezel Göring, Sie kamen 1988 nach West-Berlin, was hat Sie an der Stadt fasziniert?

Brezel Göring Das erste Mal, dass mich West-Berlin so richtig verzaubert hat, war noch vorher. Da kamen wir mit der Schule hierhin und ich bin mit einem Schulfreund zu dessen Cousine gegangen, die in einer Farbriketage wohnte. Da saßen wir auf einem Sofa rum und sie hat „O Superman“ von Laurie Anderson aufgelegt. Ich kannte die Musik nicht, aber das hat mich überwältigt und die Stadt erschien mir wie ein geheimnisvoller Ort. Auch später, wenn ich hier zu Besuch kam und an der Schlesischen Straße unterwegs war. Einmal habe ich mal nachts jemanden gesucht, es war kalt, irgendwann fanden wir diese schlecht geheizte Wohnung mit den wahnsinnig hohen Decken. West-Berlin war unglaublich spannend. Wie in einem Traum. Ich hatte in der ersten Zeit tatsächlich Wirklichkeitsverluste, weil alles so anders war als alles, was ich aus Kassel kannte.

tipBerlin Wollten Sie in Berlin Musik machen? Sie hatten schon in Kassel eine Band, die Sigmund Freud Experience hieß, das Internet sagt, Sie hätten Noise-Rock gemacht, stimmt das?

Brezel Göring Es war nicht Beethoven, wir haben experimentiert (lacht). Aber ich bin nicht unbedingt als Musiker hierher gekommen. Ich habe studiert, wollte Freunde treffen, ausgehen. Kassel war mir unsympathisch, dann lernte ich recht schnell Leute kennen, mit denen ich auch Musik gemacht habe. Das war alles nicht so ernst. Erst einmal wurde ich Hausbesetzer, noch vor der Wende, da wohnte ich in Dahlem in einem leerstehenden Institut, das zur FU gehörte.

Nach dem Mauerfall bin ich gleich in den Osten gezogen, in die Adalbertstraße, die auch durch Kreuzberg geht, aber eben auf die andere Seite, die zu Mitte gehört. Das war lustig, weil ich anfangs einen riesigen Umweg bis zum Grenzübergang gehen musste und die Grenzer dort immer meinen Pass sehen wollten. Irgendwann wurde nicht mehr kontrolliert, und dann hat jemand die Mauer eingerissen und ich konnte einfach die Straße lang gehen und war in Kreuzberg, so wie das heute ist.

„Es gab Wahnsinn, Konzerte, Technopartys“

tipBerlin Wie haben Sie die Stunde Null in Ost-Berlin erlebt?

Brezel Göring Mit der Grenzöffnung war im Osten die totale Anarchie, es gab leere Häuser, Ruinen, man konnte überall rein und alles machen. Es gab Wahnsinn, Konzerte, Technopartys. Ein überwältigendes Gefühl, dass die Systeme verschwinden können, dass die Mauer, die älter war als ich und von der man dachte, die wird immer stehen, einfach weg war, da dachte ich, alles ist möglich. Dazu kam auch dieser bestimmte Wertverlust, dass Dinge, die vor kurzem noch etwas Wert waren plötzlich weggeschmissen wurden. Man konnte in Müllcontainer steigen und irre Sachen finden, die die Leute weggeworfen haben und man wusste, vor ein paar Monaten waren das noch deren Sachen, die ihnen wichtig waren.

tipBerlin Das Alte wieder ausgraben, das fand auch in der Musikszene und Partykultur statt. In Berlin begann zwar sofort nach der Wende die Zeit des Techno, gleichzeitig entstanden aber viele Nischen. Schlager-Revival, Neo-Sixties, Soul-Allnighter, Easy-Listening. Stereo Total wurden da bald ein Teil davon. Woher kam dieses Interesse für obskure Musikphänomene aus der Vergangenheit?

Brezel Göring Sehr schnell kam auch ein Bedürfnis nach Tanzmusik von Leuten, die kein Techno mochten. In den Sechzigern und Siebzigern wurde auch einfach gute Musik zum Tanzen gemacht und die 1990er-Jahre waren so ein stilverliebtes Jahrzehnt. Es kam hinzu, dass viele Konzertorte, die es vorher gab, verschwunden sind. So kam es jedenfalls mir vor. Es gab Techno, aber wo waren die Orte für Konzerte? Am Anfang haben wir mit Stereo Total meistens bei Veranstaltungen gespielt, wo eigentlich Leute Platten aufgelegt haben. Das hat auch eine andere Art von Bands zutage gefördert. Auf einmal kamen Leute auf die Bühne, die nicht im klassischen Sinn einer Rockband in den Übungskeller gingen, Stücke einübten, Platten aufnahmen und dann Konzerte spielten, sondern vielleicht nur zwischendurch etwas Instrumentalmusik machen wollten. Das hätte es vorher so nicht gegeben.

Stereo Total bei einem Konzert, 1998. Foto: Imago/POP-EYE/Morlok

„Françoise war eine total lustige Erscheinung“

tipBerlin 1992 lernten Sie Françoise Cactus kennen, die zu jener Zeit als Grafikerin für die „taz“ arbeitete und mit ihrer Punkband Lolitas unterwegs war. Erinnern Sie sich an die erste Begegnung?

Brezel Göring Ich habe in der Adalbertstraße gewohnt im Osten und bin immer von Mitte nach Kreuzberg hin und her gegangen. Françoise wohnte auch in der Adalbertstraße, nur auf der Kreuzberger Seite. Ein paar Häuser auseinander. So haben wir uns getroffen, auf der Straße, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Françoise war ja eine total lustige Erscheinung, wahnsinnig gut im Gespräch, ich war eher eigenbrötlerisch und sie weltgewandt und eloquent. Dann fing es an, dass sie mich jeden Abend abgeholt hat und wir ausgegangen sind. Sie war eine Art Berühmtheit in Berlin, auch wegen ihrer Band, dann sind wir zusammen losgezogen, auf Konzerte oder Partys, durch irgendwelchen Hintertüren rein, und sie kannte dort alle. Wir haben immer viel getrunken und viel gelacht. Wir hatten wahnsinnig viel Spaß.

tipBerlin Wie schnell war Ihnen klar, dass Sie beide musikalisch und auch privat ein Paar werden?

Brezel Göring Sie hatte in der Anfangszeit noch einen Freund, der eine Weile nicht in der Stadt war, dann kam er irgendwann zurück, es gab einen Riesenstreit bei den beiden und am nächsten Tag kam sie zu mir, und von da an waren wir wirklich zusammen. Musik haben wir schon vorher gemacht, aber das war nicht einfach. Zum einen, weil sie viel erfahrener war, aber auch weil ich mich mit irgendwelchen Drumcomputern und Synthesizern versucht hab und sie sich daran anpassen musste und ich wiederum musste versuchen, mich an Rock’n’Roll oder Garagenrock, an dem sie sich viel mehr orientiert hat, anzupassen. Ich habe mir dann auch eine Gitarre besorgt und versuchte was in die Richtung zu machen, aber das anfangs nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick musikalisch gesehen. Aber wir haben weiter gemacht und hatten irgendwann die ersten Songs.

tipBerlin Das war die Geburtsstunde von Stereo Total?

Brezel Göring Genau, aber die Anfangszeit von Stereo Total war lustigerweise nicht in Berlin. Wir sind damals in die USA gegangen, nach New Orleans. Françoise ist da schon vorher gewesen, sie hat mit den Lolitas eine Platte in Memphis aufgenommen, zusammen mit Alex Chilton von Big Star und der wohnte damals in New Orleans bei seinem Bruder. So wohnten wir bei ihm im Gartenhaus und haben in seinem Heimstudio die ersten Stereo-Total-Stücke aufgenommen. In New Orleans gab es auch Kneipen, in denen man einfach spielen konnte, offene Abende und da sind wir oft hingegangen. Françoise war ziemlich gut, sie hatte eine alte Blechdose, auf der sie getrommelt hat und ich spielte meine Gitarre, und dann haben wir irgendwelche alten französischen Lieder nachgespielt.

„Dinge, die mal gut gewesen sind, waren es plötzlich nicht mehr“

tipBerlin Stereo Total stand seit Beginn an für eine musikalische Retrokultur, die Songs zitierten französischen Yé-Yé, Beat, Siebziger-Jahre-Soundtracks und viel mehr. Das kam alles von Françoise Cactus, oder?

Brezel Göring Das habe ich von ihr kennengelernt, das kannte sie alles, ich hätte gar nicht gewusst, wo man diese Musik damals in Berlin hätte finden können. Französischen Beat, Chansons, Yé-Yé und Serge Gainsbourg vorneweg natürlich. Die Kultur, die sich da aufgetan hat, war ein ganzes Universum. Françoise hat darin richtig gelebt. Das hat mich sehr beeinflusst und ich habe mit meinem musikalischen Unvermögen versucht, ihre Gedankenwelt zu instrumentieren. Diese Rhythmen von Billig-Orgeln zum Beispiel, die dann „Rock“ oder „Bossa Nova“ hießen, und die vorgaben, die Essenz aus einem ganzen Genre zu sein, die habe ich benutzt und empfand sie als einen lustigen und subversiven Kommentar auf die Anstrengung mit der Rockmusik ernsthaft betrieben wurde. Das war wie bei Punk. Die Umwertung der Werte, schlecht ist gut und gut ist schlecht.

tipBerlin Es gibt den Satz, dass man in den Rückspiegel schauen muss, wenn man vorwärts fahren will, galt das für Stereo Total?

Brezel Göring Bei Adorno stand irgendwo, wahrscheinlich in einem völlig anderem Zusammenhang, dass jedes gute Ding mal ein schlechtes Ding gewesen ist oder anders rum. So konnten sich Sachen aus der Vergangenheit verändern und Dinge, die mal gut gewesen sind, waren es plötzlich nicht mehr. Wir hatten am Anfang eine Gitarristin dazu genommen also spielte ich eine alte Orgel, die ich mir auf dem Flohmarkt gekauft habe. Das war eine der Sachen, die mir so gut an Berlin gefallen hat, dass sich hier Leute damit amüsieren, was andere Leute weggeschmissen haben.

tipBerlin Berlin als Stadt der Flohmärkte, Trödelläden und Schrottplätze hat ja eine gewisse Tradition.

Brezel Göring Genau. Das stimmt auch für die Musik. Wenn die Einstürzenden Neubauten zehn Jahre vorher sich ihr Instrumentarium auf der Straße zusammengesammelt haben, das fand ich wahnsinnig gut. Mich hat immer das interessiert, was andere Leute nicht gebrauchen konnten und deswegen habe ich immer die Instrumente und Platten gekauft, sie sonst niemand wollte. Ich bin dann aber mehrmals von einer Lawine überrollt worden, und musste erleben, dass das was ich für mich entdeckt habe, plötzlich Teil des Mainstreams geworden ist.

tipBerlin Sie verweisen auf die Einstürzenden Neubauten, die man historisch, zumindest in den frühen 1980er-Jahren, zu den Genialen Dilletanten zuordnen konnte. Stereo Total kamen zehn Jahre später, begreifen Sie sich trotz des historischen Abstands in dieser Berliner Tradition?

Brezel Göring Das war natürlich ein wichtiger Einfluss, nicht unbedingt musikalisch, aber als Strategie zu sagen: „bitte schön, ich kann’s!“ Françoise war auch mit Wolfgang Müller von der Tödlichen Doris befreundet, und auch Wolfgang war klar, dass Françoise sich eben nicht in irgendeine Schublade stecken ließ und sich immer sehr viel vorstellen konnte. Vielleicht hatte sie auch deshalb mit mir angefangen, Musik zu machen obwohl es für sie logischer wäre, sich nach dem Ende der Lolitas eine zweite Garagenrockband zu suchen.

Ich glaube schon, dass Stereo Total nur in Berlin entstehen konnte. Die Berliner gelten als schlecht gelaunt und unfreundlich, aber mir kam es nie so vor, in anderen Städten sind die Leute viel verstockter und unfreier. Und dass im Kiosk jemand nicht antwortet, wenn man „Guten Tag“ sagt, hat mich eher amüsiert. Viel von dem Berlinerischen ist mit einem großen Stück Sprachwitz verbunden, woanders ist Humor eher unbekannt.

Ich fand ein Buch von Françoise im Regal: „Eine Obsession über amouröse Delirien“

tipBerlin Humor und Freiheit, zwei Grundpfeiler von Stereo Total und von Berlin.

Brezel Göring Mit Françoise habe ich die ganze Zeit gelacht. Sie hat zum Beispiel Wörterbücher gelesen, um sich daraus lustige Wörter rauszuschreiben. Gerade habe ich noch ein französisches Buch von ihr im Regal gefunden, „Eine Obsession über amouröse Delirien“, das sind Interviews mit Leuten, die eigenartige Sexualpraktiken haben. Das ganze Buch ist voll mit Unterstreichungen, aber sie hat nicht Sätze unterstrichen, sondern einzelne Wörter. Man müsste mal untersuchen, in welchen Songs sie Worte aus diesem Buch benutzt hat (lacht).

Oder ein Argot-Lexikon, das ist ein französischer Jargon, eine Art Gossensprache der Bettler und Kriminellen, die auch in der Literatur kultiviert wird. Auch daraus hat sie sich Begriffe rausgesucht, die sie lustig fand, Schimpfwörter zum Beispiel. Da habe ich dann auch Vieles aus ihrer eigenen Sprache wiedergefunden, sie hat sich diese Argot-Worte gemerkt und sie im Alltag benutzt. Manche auch wortwörtlich ins Deutsche übersetzt und so eine irre Kunstsprache entwickelt, die nirgends auf der Welt gesprochen wird, nur von ihr.

Kitsch, schrille Farben und Rock'n'Roll: Françoise Cactus in ihrer Kreuzberger Wohnung, 2012. Foto: Imago/Wallmüller
Kitsch, schrille Farben und Rock’n’Roll: Françoise Cactus in ihrer Kreuzberger Wohnung, 2012. Foto: Imago/Wallmüller

tipBerlin Françoise Cactus, die als gebürtige Französin mit 17 nach Deutschland kam, hat durch ihre Herkunft einen ganz anderen Zugang zu deutschen Sprache gefunden. Aus dieser Zweisprachigkeit ging sie als Songwriterin eigene Wege, ist das das Geheimnis der Stereo-Total-Texte?

Brezel Göring Das hat ja schon mit ihrer Aussprache angefangen, das hat mir immer gefallen, wie Françoise aus dem Französischen kommend, die Worte gedehnt hat, sich auch bei den deutschen Texten geweigert hat, die vermeintlich korrekte Betonung und Diktion einzuhalten, sondern etwas ganz anderes daraus gemacht hat. Das war erfrischend und hat mich so beeindruckt, dass ich teilweise selbst damit begonnen haben, Sachen anders auszusprechen. Ich dachte, das ist ja so einfach sich das Leben interessant zu machen, einfach nur, indem man die Worte umstellt oder eins benutzt, mit dem niemand jetzt gerechnet hätte.

„Professionalität wollten wir nicht“

tipBerlin Vor Stereo Total waren Sie und auch Françoise Cactus zwar schon in einigen Bands aktiv, aber erst in dieser Formation kam der Ruhm. In den knapp 30 Jahren ihres Bestehens veröffentlichten Sie 17 Studioalben, dazu Singles, EPs und Videos. Sie gingen auf der ganzen Welt auf Tour. Waren Sie von dem Erfolg überrascht?

Brezel Göring Wir haben nie darüber nachgedacht. Bis in die 2000er-Jahre Jahre habe ich nie gesagt: „Ich bin Musiker“. Dieses Selbstverständnis, was wieder etwas anderes ausschließt, haben wir abgelehnt. Wir haben das eher spielerisch betrachtet, ah ja, es gibt ein Konzert in Japan, dann machen wir das eben, ist doch lustig. Ich habe nie gedacht, dass ich das mein Leben lang machen werde, auch Françoise nicht, sie hat noch Ewigkeiten bei der „taz“ als Grafikerin gearbeitet, und diese Anstellung behalten, weil sie gar nicht gedacht hat, dass sie von der Musik leben kann.

tipBerlin Aber irgendwann war doch klar, dass Sie es jetzt können.

Brezel Göring Das stimmt, aber es gibt eine bestimmte Korruption, die im Kopf stattfindet, wenn man sich als professioneller Musiker betrachtet. Ich habe immer gesagt, ich bin im Körper eines Musikers gefangen, aber eigentlich bin ich etwas ganz anderes. Es sind plötzlich gedankliche Hürden da, die vorher nicht da waren, als man sagte, „wir machen mal jetzt einen Song“ und nicht, „ich bin Komponist und werde jetzt ein Stück schreiben“. Diese Professionalität wollten wir nicht. Vielleicht ist das auch so ein Erbe von unserer Auffassung der Genialen Dilletanten, weil wir uns nicht professionalisieren wollten. Françoise hat sich auch geweigert, besser Schlagzeug zu spielen. Sie konnte ihre drei Takte und das reichte ihr.

„Als ich sie kennengelernt habe, dachte ich, das ist die ideale Frau“

tipBerlin Verweigerung als musikalische Grundhaltung?

Brezel Göring Nicht nur Musik. In gewisser Weise hat sich diese Verweigerung, gut zu spielen, auch auf die sozialen Koordinaten übertragen, sodass Françoise sich auch in ihrem Leben geweigert hat, bestimmte Lehren anzuerkennen. Sie hat gesagt, sie will dieselben Fehler immer wieder machen. Wenn sie von jemandem kritisiert wurde oder ihr jemand etwas vorwarf, dann sagte sie immer: „Na und?“ Gleichzeitig war sie aber unglaublich großzügig und tolerant gegenüber den Fehlern anderer, und sie konnte mit jeder Situation umgehen, sie annehmen und negative Situationen auch umdrehen. Als ich sie kennengelernt habe, dachte ich, das ist die ideale Frau. Natürlich war sie auch irre und wir haben uns auch wahnsinnig gestritten.

tipBerlin Stereo Total war Ihre Band, aber Sie beide haben immer wieder an anderen Projekten gearbeitet, an Büchern, Filmen, Ausstellungen, Hörspielen, Theaterstücken. War es ein kreatives Bedürfnis oder mussten Sie aus finanziellen Gründen andere Dinge machen?

Brezel Göring Das war aus Spaß. Es war lustig und es war möglich und wir versuchten, die ganzen anderen Dinge mit der gleichen Leichtigkeit anzugehen, wie wir Musik gemacht haben. Irgendwann gab es schon die Routine, dass wir eine Platte gemacht haben und dann auf Tour gegangen sind. Aber wir haben das Spielerische beibehalten. Ich habe mir die Geräte besorgt und dann im Studio damit rumgespielt, bevor wir „Musique Automatique“ gemacht haben, ist zwei Jahre lang vorher nichts passiert. Dann kam Wolfgang Müller vorbei und sagte, er macht eine Tödliche-Doris-Ausstellung und fragte, ob wir einen Coversong machen wollen und es hat mich eine Viertelstunde gekostet, „Wir tanzen im Viereck“ zu machen. Wir haben es nicht sehr ernst genommen, ich hatte lange keinen Computer, aber es hat trotzdem funktioniert. Am Ende weiß niemand wirklich, was Lo-Fi und was Hi-Fi ist. Es ist heute nicht klar klassifizierbar.

tipBerlin Am 17. Februar 2021 starb Françoise Cactus im Alter von 56 Jahren. Können Sie über die letzte Zeit sprechen?

Brezel Göring Françoise bekam im September 2020 die Diagnose und hat danach nur noch ein halbes Jahr gelebt. Sie hatte schon vorher Krebs gehabt, war eigentlich genesen, aber dann kam er wieder und sie hatte dazu noch so viele andere Krankheiten, dass ihr Zustand eh nicht gut war. In ihren letzten Monaten war die Corona-Zeit, sie hat dann noch Freunde empfangen, aber es war nur eingeschränkt möglich. Davor war eigentlich der Plan, dass wir in Frankfurt unser Theaterstück „Lou Reed in Offenbach“ aufführen und danach nach Mexiko auf Tour gehen, aber wegen des Lockdowns ging das alles nicht.

Françoise ist im Sommer noch einmal für ein Vierteljahr nach Frankreich zu ihrer Mutter gefahren, kam dann zurück und dann kam die Diagnose. Wir waren in der Wohnung in Kreuzberg, sie konnte von dort noch ihre Sendung für radioeins machen, gab noch ein Interview über ihre Literatur und ich habe sie zu ganz privaten Dingen interviewt. Musik wollte sie aber keine mehr machen. Auch wenn wir nicht über den Tod gesprochen haben, gab es eine stille Übereinkunft, dass es keine neue Stereo-Total-Platte geben soll. 

„Das ist jetzt der Abschluss, das ist das Ende der Band“

tipBerlin Mit dem Tod musste das Ende von Stereo Total kommen, oder ist die Band ohne Françoise Cactus überhaupt denkbar?

Brezel Göring Es gäbe genug Material, um noch drei Platten zu machen, aber das bleibt jetzt, wo es ist, das bringe ich nicht mehr raus. Es ist völlig unmöglich, es ohne sie zu machen, das interessiert mich auch nicht. Ich bringe jetzt ein Lied auf einer Platte raus, die ich selber mache und auf der ganz andere Musik ist, wo sie aber singt. Das habe ich gemacht, um dieser Beklommenheit über ihre Abwesenheit, die nicht nur ich, sondern ihr ganzer Freundeskreis spürt, gerecht zu werden. Wenn ich dieses Lied höre, ist es für mich wie ein Erdbeben, weil mir dann sehr bewusst wird, dass da etwas fehlt. Sie ist nicht mehr da. 

tipBerlin Ist die aus Werkschau „Chanson Hystérique“ ein Abschiedsgruß?

Brezel Göring Nein, die Box war schon lange vorher geplant, noch vor der Diagnose. Françoise war an dem Projekt von Anfang an beteiligt. Wegen Corona haben wir aber gedacht, damit müssen wir uns nicht beeilen. Wir bringen die Sache raus, wenn es wieder Konzerte geben kann und gehen damit dann auf Tour. Anfangs gab es den Plan, zu den Platten aus den ersten zehn Jahren auch ein Buch über Stereo Total zu schreiben, aber ich dachte, das bringt es nicht, wir waren eine Band ohne Skandale, was soll in dem Buch drin stehen? Dafür haben wir ein Kunstbuch mit den Bildern und Zeichnungen von Françoise gemacht. Das liegt der Box jetzt bei. Das ist jetzt der Abschluss, das ist das Ende der Band.


Stereo Total "Chanson Hystérique 1995-2005", Limitiertes 7-CD / 7-LP Boxset inkl. Buch, Tapete Records, 75/130 Euro

Stereo Total „Chanson Hystérique 1995-2005“, Limitiertes 7-CD / 7-LP Boxset inkl. Buch, Tapete Records, 75/130 Euro


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