Subkultur

Coretex forever: 35 wilde Jahre für den Hauptstadt-Punk

Von der Szene für die Szene: Die Kreuzberger Institution Coretex ist mehr als ein Platten- und Klamottenladen. Seit 1988 wird hier die Berliner Punk-Kultur gefördert. Wir haben den Geschäftsführer David Strempel zwischen Hardcore-Shirts, Stickern, Patches und Plattenkisten getroffen. Ein Rückblick und Geburtstagswünsche für einen Ort, der nicht mehr aus dem Kiez, nicht mehr aus Berlin wegzudenken ist. Coretex forever!

David Strempel vor Coretex. Foto: Lennart Koch

Coretex-Eröffnung 1988: Zwischen Brachen und besetzten Häusern

Alles begann mit den Suicidal Tendencies. Zumindest für David Strempel, der sich als junger Punk aus dem bürgerlichen Charlottenburg ins heruntergekommene Kreuzberg wagte. Ende der 1980er-Jahre war die Oranienstraße noch keine Flaniermeile für Touristen aus aller Welt, sondern türkischer Wohnkiez mit Gemüseläden und Kohlenhandlungen, proletarischen Kneipen und einer links-alternativen Szene, die in besetzten Häusern und dem SO36 zusammenkam. Bei Straßenschlachten flogen Steine und Molotowcocktails.

In den 80ern sah Kreuzberg noch ganz anders aus. Hier übrigens das SO36, eine benachbarte Punk-Institution von Coretex. Foto: Imago/Detlev Konnerth

Mitten im Durcheinander, in der Adalbertstraße 89, öffnete im Februar 1988 Coretex Records. Der kleine Plattenladen versorgte die West-Berliner Punk- und Hardcore-Fans mit den heißesten Neuerscheinungen. David Strempel stand irgendwann an der Ladentheke und fragte nach seinen Helden aus Kalifornien, den Suicidal Tendencies. Doch die US-Pressung kam nicht an. Immer wieder tuckerte er nach Kreuzberg. Irgendwann erbarmte sich ein Plattenverkäufer und überspielte ihm das Album auf Kassette. Ohne Geld dafür zu verlangen. Ein prägendes Erlebnis und eine inoffizielle Einladung in die Subkultur.

Coretex-Geschäftsführer David Strempel trommelte unter anderem bei den Berliner Straight-Edge-Pionieren Charley’s War. Foto: David Strempel Archiv

Die Säulen des Punk

35 Jahre später ist David Strempel einer der drei Coretex-Chefs. Von dem Tape erzählt er immer noch gern: „Ich wusste sofort, dass es nicht ums Verkaufen ging, sondern um die Liebe zur Musik“, sagt er, „mein Laden sollte immer genau das verkörpern.“ Die Entwicklung vom Kunden zum Kollegen erfolgte 1996 durch den Zusammenschluss von Funrecords, Coretex und M.A.D. Tourbooking, wo Strempel arbeitete. „Wir wollten alle Säulen des Punk unter ein Dach bringen“, sagt er.

Neuer Standort in der Oranienstraße: Coretex in den 90ern. Foto: Imago/Lem

Ein neues Zuhause fand der Laden in einem ehemaligen besetzten Haus in der Oranienstraße 3. Auf die Geschichte der Straße im Wandel der Zeit blicken wir hier. Strempel importierte Platten, Merchandise und gestaltete Coretex-Shirts. In einer Szene, die sich nicht zuletzt über Kleidung definiert, schlagen die DIY-Designs ein. „Ich habe einfach Sachen gemacht, die ich selber gerne tragen wollte“, sagt Strempel, „mal hat’s geklappt, mal nicht, aber wenigstens ich hatte am Ende immer ein cooles Shirt.“

Der Flyer von der Coretex-Eröffnung 1988 hängt auch heute noch im Laden. Foto: Lennart Koch

Lieblingsbands sind Coretex-Fans

Inzwischen kümmern sich Grafik-Profis um die Fan-Artikel. Im vollgepackten Coretex hängen hunderte Shirts, Pullover, Jacken und Mützen: Klassisch schwarz mit weißem Schriftzug, bunt mit detailreichen Rückenprints, Anspielungen an ikonische Designs von den Bad Brains oder Agnostic Front. Die Bands haben nichts dagegen, sondern freuen sich, wenn der alte Kumpel David aus Berlin wegen einer Idee anruft.

Anti-Flag und die Coretex-Crew vor dem Laden. Foto: suzimue

Die Fan-Artikel sind ein lukrativer Geschäftszweig. Nicht nur in Kreuzberg trifft man ständig Leute mit dem Coretex-Panther auf der Brust. „Ich bin jedes Mal mega stolz, wenn ich jemanden mit unseren Sachen sehe“, sagt Strempel, „und wenn Bands die Shirts auf der Bühne tragen, ist das natürlich ein Traum.“ Bei Coretex gehen aufstrebende und etablierte Bands ein und aus. Judge, Brian Fallon, Frank Carter, ZSK und Slime spielten bereits zwischen den Plattenkisten. Legenden wie Gorilla Biscuits, Dropkick Murphys und sogar die Suicidal Tendencies fühlen sich bei Coretex zuhause.

Die Coretex Stage „Hold Your Ground“ beim Myfest war immer legendär. Foto: Imago/Frank Brexel

„Anti-Flag meinten mal, sie könnten niemals nach Berlin kommen, ohne uns zu besuchen“, sagt Strempel, „das berührt einen wirklich.“ Auch Bela B ist Stammkunde und Riesenfan der Hausband Troopers. Die Beatsteaks sollten am 1. Mai sogar mal als Secret-Act vor dem Laden spielen. David Strempel und seine Partner Udo Flütter und Andreas Gindullis sind von Anfang an beim Myfest involviert. Auf der Coretex-Bühne standen schon die Lokalhelden Bad Brians neben Newcomern und Initiativen. Moshpits und politische Redebeiträge schließen sich nicht aus: „Zum Punk gehört, Dinge zu hinterfragen, seine Meinung zu sagen und dafür einzustehen“, sagt Strempel, „in der Hinsicht bleibt man für immer Punk.“

Von der Szene für die Szene, Coretex aus Liebe zur Musik. Foto: Linus Karstädt 

35 Jahre Coretex: Aus dem Kiez für den Kiez

Coretex engagiert sich für den von der Gentrifizierung bedrohten Kiez. Das Motto „Hold Your Ground“ ist eine Aufforderung, die Verdrängung in Kreuzberg nicht hinzunehmen. Auch wenn die Oranienstraße resistenter scheint als andere Orte in Berlin, verschwinden benachbarte Institutionen – wie zuletzt die Buchhandlung Kisch & Co. Ein ähnlicher Laden wie Coretex, nie die große Geldmaschine aber fest verankert im Kiez. „Wir haben Macht, wir müssen nur machen“, sagt Strempel, „wir können jeder Bestellung einen Flyer beilegen, Slogans auf Shirts drucken, politisch sein.“

Platten, Bücher, Merchandise bei Coretex. Foto: Mike Auerbach 

Auch beim Plattenverkaufen geht es um Verantwortung. „Bei uns gibt’s nur Sachen, mit denen wir uns auskennen und musikalisch wie politisch identifizieren“, sagt er. Auch die Nachwuchsförderung sieht er als Pflicht eines guten Recordstores: „Bringt zehn Platten mit, vielleicht gehen sie ja weg“, sagt er zu den jungen Bands. Sprungbretter für Newcomer gibt es in Berlin immer weniger und nun wurde noch das Myfest abgesagt. Doch Strempel und seine Partner haben viel vor. Immerhin muss ordentlich Geburtstag gefeiert werden. 35 Jahre, von der Szene für die Szene, häufig kurz vorm Ende, aber immer noch da: „Wir sind ein Rädchen in diesem Riesensystem“, sagt er, „aber all das funktioniert, wenn wir zusammenarbeiten.“

Coretex in Kreuzberg: Viel mehr als ein Plattenladen

Zwei Generationen Coretex-Fans: Familie Wendlandt aus Spandau im Plattenladen-Merchandise. Foto: Sebastian Kreiß

Sebastian Kreiß aus Spandau, Kunde seit der ersten Stunde, freut sich aufs Jubiläum. Den Flyer von der Eröffnung 1988 hat er bis heute aufbewahrt. Inzwischen tragen seine Kinder Coretex-Shirts und begleiten ihn zu Punk-Gigs. „Die Band Verbal Assault hat mal gesungen: ‚it’s more than music, it’s more than fashion, it’s our life‘“, sagt er, „für mich war Coretex immer genau das. Mehr als Platten, mehr als T-Shirts, ein Teil unseres Lebens.“

  • Coretex Records Oranienstr. 3, Kreuzberg, Mo–Sa 11–20 Uhr, online

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