Interview

Emilio Winschetti über Kunst, Mythen in Tüten und seine Arbeit als Location Scout

Emilio Winschetti ist das Sinnbild eines Schöneberger Bohemiens, ganz in schwarz, mit Hut und gelbgetönter Brille schlendert er zum Alten St.-Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße. Dort, zwischen den Gräbern von Rio Reiser, Françoise Cactus und Graciano Rocchigiani spricht er über sein Leben. Der frisch gebackene 70-Jährige hat als radikaler Performancekünstler in Hannover begonnen, landete in Belgien im Knast, brachte (vielleicht) den Punk in seine Heimatstadt, gründete 1979 die NDW-Band Mythen in Tüten, löste als Radiomoderator in Bremen einen mittelschweren Skandal aus und gehört seit den 1980er-Jahren zur Berliner Subkultur: als Labelchef von Hidden Records, Musiker und zwischenzeitlich Impresario in der Szenekneipe Trompete. Seit 25 Jahren arbeitet er als Location Scout für Filmproduktionen.

Wir sprachen mit Winschetti über seinen Gefängnisaufenthalt in Belgien, Kontakte zu New Yorker No-Wave-Bands und nach Ost-Berlin, den „Gewaltaufruf bei Radio Bremen“ und die Frage, wie man einen Ford Fiesta in eine Galerie bekommt und die Kunst, das alte Hotel Adlon in Brandenburg zu finden.

Musiker, Labelchef, Impresario und Location Scout: Emilio Winschetti am Grab des Boxers Graciano Rocchigiani. Foto: Jacek Slaski
Musiker, Labelchef, Impresario und Location Scout: Emilio Winschetti am Grab des Boxers Graciano Rocchigiani. Foto: Jacek Slaski

Emilio Winschetti: „Ich hatte Mitte der 1970er-Jahre in Hannover eine Künstlergruppe. Der grüne Hirschkäfer“

tipBerlin Emilio Winschetti, brachten Sie den Punk nach Hannover?

Emilio Winschetti Angefangen habe ich aber nicht als Musiker, Punk gab es da noch gar nicht, sondern als Performance-Künstler. Ich hatte Mitte der 1970er-Jahre in Hannover eine Künstlergruppe. Der grüne Hirschkäfer. Zusammen mit Lutz Worat, mit dem ich später unter dem Namen Mythen in Tüten musiziert habe. Gerade raus aus der Schule und mit 20 Jahren Performances gemacht, das nannten wir Multimedia-Aktionstheater, inspiriert von den Wiener Aktionisten, Fluxus und als Hannoveraner natürlich von Dada und Kurt Schwitters. Wir waren international ganz gut vernetzt. Stichwort: Mail Art. Und haben dann mit einem alten Postbus Touren gemacht, sind in Galerien aufgetreten, in Skandinavien zum Beispiel und dann nochmal in Belgien. Und da bin ich dann 1975 im Knast gelandet. 

tipBerlin Weil die Performances so radikal waren?

Emilio Winschetti Eigentlich gar nicht. Bei uns lief viel mit Spontan-Aktion ab, es gab kein wirkliches Drehbuch und es passierte einfach, dass ich mich ausgezogen habe. Das war in so einem erzkatholischen Kaff in Belgien und da hat mich ein Vater von zwei minderjährigen Mädchen angezeigt. Also kam ich erst mal in den Dorfknast, einen Tag später in die nächstgrößere Stadt und dann ins Zentralgefängnis nach Gent. Da saß ich dann mit zwei anderen in einer Zelle zusammen. Beide hießen Lucien. Der eine wurde beschuldigt, ein Fluchtfahrzeug bei einem Raub gefahren zu haben und der andere war angeklagt, weil er was mit seiner 13-jährigen Cousine gehabt haben soll. 

tipBerlin Schöne Gesellschaft, und Sie saßen wegen einer Kunstperformance. Wie lange waren Sie verhaftet?

Emilio Winschetti Insgesamt zehn Tage, dann hatten meine Kollegen einen Rechtsanwalt besorgt, es gab eine Verhandlung und ich wurde freigesprochen wegen Freiheit der Kunst. Ich fuhr zurück nach Deutschland und bekam ein Vierteljahr später Post aus Belgien. Der Kläger hatte Revision eingelegt und ich sollte zu einem weiteren Gerichtstermin erscheinen, aber das habe ich nicht gemacht, und seitdem bin ich nie wieder in Belgien gewesen. 

tipBerlin Mittlerweile dürfte die Sache verjährt sein. Kam die Musik dann nach der Belgien-Affäre?

Emilio Winschetti Nicht sofort. Wir hatten in Hannover das Glück, dass wir für unglaublich wenig Geld in einem Stadthaus mitten in der Altstadt zwei Etagen mieten konnten. Dort haben wir in der vierten Etage als Kommune gewohnt und in der dritten Etage war unser Aktionsraum. Das Haus haben wir „DADhAnova“ genannt. Da haben wir Ausstellungen gemacht, Performances, kleine Konzerte, Lesungen und Super-8 Filme gedreht. Über die Filmerei bin ich Jürgen Gleue und Christian Henjes begegnet, die später als 39 Clocks bekannt wurden. Die haben vor monochrom roten und grünen Vor- Abspannfilm mit Gitarren und Drummachine performt. Das war 1975 und wahrscheinlich eine der ersten Punkbands in Deutschland. Genau wie Hans-A-Plast, noch ohne die Sängerin Annette Benjamin, hatten sie auch einen Probenraum bei uns im Haus. Um 1977 war das dann zu Ende und daraufhin bin ich in die Nordstadt in Hannover gezogen und hab Leute wie Hollow Skai kennengelernt, der damals das Fanzine „No Fun“ und später auch das gleichnamige Plattenlabel betrieb.

Legenden des Hannover-Undergrounds: 39 Clocks

tipBerlin Das war dann die Zeit der legendären Werkstatt Odem in Hannover?

Emilio Winschetti Das war eigentlich eine Galerie, ein ehemaliger Pferdestall. Betreiberin war Gesine Weise, die sich international einen Namen als Kuratorin für Performancekunst einen Namen gemacht hatte. Der Künstler Bruno Hoffmann arbeitete mit ihr zusammen, er hatte eine starke Affinität zu neuer Musik, und die Galerie wurde zunehmend auch für Konzerte genutzt. 1980 hatten wir aus Düsseldorf die ganz frühen DAF, Deutsch-Amerikanische Freundschaft, noch bevor die LP „Die Kleinen und die Bösen“ herauskam, sie spielten zusammen mit Mania D. aus West-Berlin. 1980 war ich mit meiner damaligen Freundin in New York, auch wegen der Musik, weil mich damals diese ganzen „No New York“-Bands wie Contortions, D.N.A., Mars, Teenage Jesus and the Jerks interessiert haben. Das haben wir auch journalistisch verwertet und vier Seiten über den New Yorker Underground für den tip geschrieben. 

tipBerlin Haben Sie Kontakte zu den New Yorker Bands?

Emilio Winschetti Wir haben zum Beispiel zwei Bands mit Musikern der Contortions kennengelernt: die Bush Tetras und The Raybeats. Als wir hörten, dass die Bush Tetras in Deutschland auftreten, haben wir Kontakt aufgenommen und konnten sie in die Werkstatt Odem einladen. Das war natürlich großartig. Aber ich konnte nicht dabei sein, weil ich mir beim Ausbau unseres ersten Übungsraum eine schwere Augenverletzung zugezogen hatte. Ich war dann so circa drei Monate in verschiedenen Krankenhäusern. Als die Bush Tetras gespielt haben, war ich in einer Spezialklinik in Essen und habe vorher ganz viele Markstücke gesammelt. Als das Konzert anfing, bin ich in eine Telefonzelle, hab da angerufen, die haben den Hörer hingelegt und so konnte ich das Konzert per Ferngespräch mithören. 

Als plötzlich diese ganze NDW-Sache durch die Decke ging, war es für uns durch. Die Majors haben alles unter Vertrag genommen, wo Deutsch gesungen wurde und ein Synthesizer dabei war

Emilio Winschetti

tipBerlin Ihre Band Mythen in Tüten gab es da auch schon.

Emilio Winschetti Ja, Mythen in Tüten gab es ab 1979 bis Anfang 1983. Als plötzlich diese ganze NDW-Sache durch die Decke ging, war es für uns durch. Die Majors haben alles unter Vertrag genommen, wo Deutsch gesungen wurde und ein Synthesizer dabei war. Wir waren auf No Fun Records, bei dem auch Hans-A-Plast, 39 Clocks und Bärchen und die Milchbubis Platten veröffentlichten. Das war so das relevante Label in Hannover. Aber das war 1983 auch am Ende, weil der Vertrieb pleiteging. Das heißt, unsere zweite LP landete schon zwei Wochen, nachdem sie raus war, für zwei Mark auf dem Grabbeltisch. Mit dem Mythen-in-Tüten-Schlagzeuger Rüdiger Klose sowie zwei weiteren Musikern, die wir in der Werkstatt Odem kennengelernt hatten, gründeten wir MINT, später Mint Adddicts. Parallel, da war ich ja dann schon in Bremen, wurde ich The Hidden Gentleman und habe mit Tom The Perc Redecker das Duo-Projekt The Perc Meets the Hidden Gentleman gestartet.

Mythen in Tüten, 1982 (rechts Emilio Winschetti). Foto: Joachim Peters

tipBerlin In Bremen waren Sie beim Radio und galten mit Ihrer Musiksendung ein bisschen als der norddeutsche John Peel.

Emilio Winschetti Genau, das kam so, dass wir bei Radio Bremen mit Mythen in Tüten für ein Radiokonzert eingeladen waren, und da habe ich den Chefredakteur Pop und Jazz kennengelernt, der mich gefragt hat, ob ich nicht auch mal eine Sendung machen will. Die hatten mehr Platz für „Jugendfunk“, wie das damals hieß. Also habe ich meine ersten Sendungen gemacht, und die gefielen ihm. Von 1984 bis 1987 war ich mit meiner eigenen Sendung „Emilios Rohmix“, in der so independent, industrial, experimental, nowave alles lief, praktisch voll dabei und moderierte nebenbei aber auch andere Sendungen. Und da ist mir dann ein kleiner journalistischer Schnitzer unterlaufen. 

tipBerlin Das klingt nach einem Skandal. Was ist da passiert?

Emilio Winschetti Das war eine Freitagabend-Sendung, 19 bis 21 Uhr, und freitags gab es nicht so die brisanten politischen Themen, eher Veranstaltungstipps. Der Redakteur, der eigentlich sonst immer hinter der Scheibe dabeisaß, war schon nach Hause gegangen. Dann klingelt der Empfang und sagt, hier ist ein junger Mann, der sagt, er hat einen Beitrag für Sie. Ich weiß von nichts, aber sage, schicken Sie ihn mal hoch. Er wollte über die aktuelle Situation der Hausbesetzungen in der Hafenstraße sprechen. Hafenstraße war immer ein Thema für uns gewesen, also habe ich ihn auf Sendung genommen. Dann sagt er irgendwann, es war ja eine Livesendung, er lädt alle Hörer zu der Wiederbesetzung eines Hauses ein und man möge noch was zu trinken und Decken und was zu essen mitbringen. Mir war in dem Moment nicht bewusst, dass ich mich davon  sofort hätte distanzieren müssen.

tipBerlin Was wurde Ihnen vorgeworfen, die Verbreitung eines Aufrufs zu einer Straftat?

Emilio Winschetti So ungefähr, doch erst einmal war Ruhe. Zwei Wochen später gehe ich zum Bäcker Brötchen holen und da war ein Zeitungsladen nebenan und in der „Bremer Morgenpost“ sehe ich die Schlagzeile: „Gewaltaufruf bei Radio Bremen“ und lese dann meinen Namen. Da war natürlich die Kacke am Dampfen. Ich wurde zur Intendantin zitiert, die mir sofort ein Mikrofon-Verbot erteilte. Das heißt, mit der moderierten Magazinsendung ‚Rizz’ war es aus. Ich durfte zwar noch „Emilios Rohmix“ machen, aber ohne Worte. Ich habe das zweimal gemacht, dass ich einfach nur Platten aufgelegt habe, und dann dachte ich, nicht mit Maulkorb. Zwei Wochen später war ich in West-Berlin. 

Emilio Winschetti: „Ein Zimmer, Küche, Klo auf halber Treppe, ohne Bad, Kachelofen, 120 Mark Miete“

tipBerlin Das war 1987. Zurück nach Hannover wollten Sie nicht?

Emilio Winschetti Hannover war 1984 kreativ am Ende. Ich war schon vorher oft in Berlin und wir konnten mit Mint Addicts im Übungsraum von Element of Crime in Kreuzberg proben. Unser Keyboarder Peter Stephan war in einer frühen Besetzung von EoC.  Im Herbst 1987 fand ich am Kleistpark in Schöneberg meine erste Wohnung. Ein Zimmer, Küche, Klo auf halber Treppe, ohne Bad, Kachelofen, 120 Mark Miete. Hinterhaus, Erdgeschoss. Die Kälte kroch immer schön von unten hoch. Der Kachelofen zog nicht richtig. Zum Glück machte dann das Ex’n’Pop in der Mansteinstraße auf, das war gleich um die Ecke, da war ich natürlich Stammgast, dort war es wenigstens warm. 

tipBerlin Und Sie wurden vom Musiker und Moderator zum Labelchef.

Emilio Winschetti Meine damalige Freundin und jetzige Frau, die bildende Künstlerin Eva Licht und ich waren Ende der 1980er-Jahre, noch vor dem Mauerfall, oft in Ost-Berlin. Dort haben wir auch einige Leute aus der Musik-, Literaten- und Kunstszene kennengelernt, darunter Christoph Tannert, den langjährigen Leiter am Künstlerhaus Bethanien. Über ihn lernten wir auch die Band Ornament und Verbrechen der Brüder Ronald und Robert Lippok kennen und parallel reifte schon der Plan, ein eigenes Label zu gründen. Also dachten wir, als erste Platte bringen wir eine Ost-Berliner Band raus. 1990 erschien dann „On Eyes“ von Ornament und Verbrechen und „In A Parallel World“ von The Mint, die ersten beiden Veröffentlichungen auf Hidden Records.

tipBerlin The Mint war Ihre neue Band nach Mint Addicts?

Emilio Winschetti Genau, The Perc Meets The Hidden Gentleman gab es parallel auch noch, aber The Mint waren Uwe Bauer, Schlagzeuger von Fehlfarben, der Bassist Harry Schröder, Eva Licht und ich, beide Gitarren und Gesang. Das war ziemlich Grunge-mäßig. Es gab Leute in Ost-Berlin, die wollten, dass wir da spielen. Das hat immer nicht geklappt, weil die Behörden da nicht mitgespielt haben und dann am 9. November 1989, morgens um halb acht, klingelt mich ein Telegramm-Briefträger aus dem Bett und liefert die Erlaubnis der Künstleragentur der DDR aus. Abends ging die Mauer auf und eine Woche später hatten wir auf einmal vier Konzerte in der DDR, Cottbus, Stahnsdorf, Neuruppin und in Ost-Berlin im Jugend- und Kulturzentrum „Gérard Philipe“ in Treptow.

tipBerlin Das Label blieb aber eine Liebhaberei?

Emilio Winschetti Das war uns schon klar, dass man damit nicht reich werden konnte, die Sache lief aus dem Schlafzimmer. Aber das Konzept war eigentlich, wir machen einerseits das Label, haben dann auch so ein paar Platten von Max Goldt und Soloplatten von Jürgen Gleue von den 39 Clocks rausgebracht. Aber das Hauptgeschäft war Tonträgerherstellung und Grafik. Wir waren für andere Labels und Künstler eine Art Schnittstelle zwischen Druckereien und Presswerken. Aber alles in allem war das nicht so eine gute Idee. 

Emilio Winschetti: „Also wurde ich Booker in der Trompete und hab das etwa anderthalb Jahre gemacht“

tipBerlin Ende der 1990er-Jahre war es vorbei mit Hidden Records.

Emilio Winschetti Ja, spätestens als jeder seine CDs selbst brennen konnte. Und dann wurde ich durch Zufall wieder Konzertmanager. Ich traf Dimitri Hegemann im Ex’n’Pop, der gerade dabei war, mit Ben Becker einen Musikclub aufzumachen, die Trompete, und Dimi sagte: „Wir wollen jeden Abend Livemusik präsentieren. Wir haben einen coolen Raum am Lützowplatz mit Historie.“ Der wurde nämlich früher von dem Kabarettisten Wolfgang Neuss betrieben. Ich hab mir das alles angehört und sagte, „ich kenne viele Musiker und habe auch Konzertmanagement gemacht“, und Dimi sagte: „Ja, super, dann steigt doch ein.“ Also wurde ich Booker in der Trompete und hab das etwa anderthalb Jahre gemacht, um 1999/2000 herum. Zu der Zeit traf ich zufällig eine Bekannte von einer Freundin einer Freundin und sie war Location Scout.

tipBerlin Was Sie dann auch wurden. Location Scout.

Emilio Winschetti Da wusste ich noch gar nicht, was das ist, Drehorte für Filmproduktionen zu suchen. Früher war das die Aufgabe der Szenenbildner, aber in dem Maße, wie die Produktionsvorläufe immer kürzer wurden, hatten die Szenenbildner gar nicht mehr die Zeit, auch noch die Motive zu suchen. Sie mussten an ihrem Szenenbild arbeiten. So entstand ein neuer Job. In den USA gab‘s das natürlich schon länger, aber das hat sich hier auch so entwickelt. Jedenfalls erzählte mir Claudia Menge, so hieß die Bekannte, sie gründe jetzt mit anderen eine gemeinsame Firma: Location Networx, dann bin ich da so reingerutscht und jetzt mache ich das seit 25 Jahren.

tipBerlin Was muss man eigentlich können, um Location Scout zu sein?

Emilio Winschetti Auto fahren und eine Kamera bedienen können. Gewisse Ortskenntnisse sollte man haben und neugierig sein. Und man sollte mit Leuten sprechen können. Ein souveräner Auftritt ist wichtig, dass die nicht denken, was ist denn das für ein Spinner, was will der von mir? Man muss auch mal bei wildfremden Leuten klingeln und fragen, ob es interessant für sie wäre, wenn man in ihrem Haus mal einen „Tatort“ drehen würde. Im ersten Jahr habe ich aber ausschließlich die Datenbank gefüttert, die Fotos der Kollegen eingepflegt und verschlagwortet, alles von der Einzimmerwohnung bis zur Villa.

tipBerlin Erinnern Sie sich an Ihre erste Location, die Sie vermittelt haben?

Emilio Winschetti Das war ein Werbefilm für Ford. Die Produktionsfirma brauchte einen Autosalon, in dem ein Dialog zwischen einer Kundin und einem Verkäufer stattfinden sollte. Das sollte natürlich nicht so ein stinknormaler Autosalon sein, sondern etwas Spezielles. Und da habe ich den absoluten Volltreffer gelandet. In dem Haus in der Fasanenstraße Ecke Kantstraße, auf dem oben das Segel drauf ist, war damals im Souterrain die Galerie Raab. Die gibt es heute noch, aber nicht mehr an dem Ort. Heute ist dort ein Club drin, jedenfalls habe ich mit der Galeristin Ingrid Raab gesprochen und gefragt, ob sie ihre Galerie für einen Autowerbefilm zur Verfügung stellen würde. Sie sagte zu und es gab nur die Schwierigkeit, wie man diese drei Ford Fiestas in die Galerie reinkriegt. Aber die hatten eine relativ breite Tür und es hat geklappt. 

Emilio Winschetti: „Das Schloss Ganz in Kyritz war wieder so ein Volltreffer, genau dieselbe Bauzeit wie das Adlon“

tipBerlin Nach 25 Jahren als Location Scout kennen Sie die Stadt vermutlich so gut wie kaum jemand, oder?

Emilio Winschetti Stimmt, wobei man ja oft Orte finden muss, die es gar nicht gibt. Als Beispiel: Es gab mal so einen ZDF-Dreiteiler über das Hotel und die Familie Adlon. Das Adlon gibt es zwar wieder, aber es sieht natürlich ganz anders aus als früher. Also musste ich das alte Adlon finden und da habe ich dann Glück gehabt, denn ich fand die sogenannte Siemens-Villa in Lankwitz. Dort war vorher das Deutsche Musikarchiv drin, und die waren gerade ausgezogen. Das hat alles gepasst, denn das Adlon wurde in der Kaiserzeit zwischen 1905 bis 1907 gebaut und genauso war es bei der Siemens-Villa. Das war also schon mal sehr gut, reichte aber noch nicht. Also habe ich weiter recherchiert und bin auf einen Verein gestoßen, den Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark. Die habe ich dann aufgesucht und eine ältere Dame hat mir dann drei Adressen von Schlössern gegeben, die privat bewohnt waren. Das Schloss Ganz in Kyritz war wieder so ein Volltreffer, genau dieselbe Bauzeit wie das Adlon. Dann hat das Team vier Wochen in der Siemens-Villa und sechs Wochen auf Schloss Ganz gedreht. 

tipBerlin Als Sie als Location Scout angefangen haben, war das Berufsbild fast unbekannt, hat sich die Branche stark verändert, gibt es heute mehr Konkurrenz?

Emilio Winschetti Konkurrenz kann man nicht sagen, man kennt sich und arbeitet auch gelegentlich zusammen. Es gibt in ganz Berlin und Umgebung vielleicht 35, maximal 40 Leute, die das professionell machen. Man hilft sich und holt sich gegenseitig in Projekte rein. Gerade hat mich jemand angerufen, es geht um einen Mercedes-Spot mit einer international bekannten Regisseurin, da arbeiten schon zwei Scouts für und die wollen mal wieder den Werbefilm komplett neu erfinden. Die haben auch das Geld. Dann haben sie mich noch in das Projekt reingeholt. Einfach damit sie noch mehr Input kriegen. Wir müssen auch nicht jedes Mal losgehen und suchen, viele Locations haben wir ja in unserer Datenbank. Also, wenn da jemand eine Altbauwohnung im ersten Geschoss mit einer offenen Küche sucht, dann muss ich nicht losfahren, so was haben wir dann schon im Archiv.

tipBerlin Sie sind gerade 70 geworden. Sie waren Performance-Künstler, Musiker, Radiomoderator, Labelbetreiber, Konzertmanager und sind jetzt Location Scout. Bleiben Sie das auch? 

Emilio Winschetti Ich mache das gerne. Aber ich mache immer noch Musik, gerade ist eine neue Platte von The Perc Meets the Hidden Gentleman herausgekommen, Konzerte will ich nicht mehr spielen, aber ich schreibe wieder mehr. Letztens habe ich mir eine Kladde neben das Bett gelegt und einen Stift. Ich träume in einer Nacht manchmal drei Spielfilme und das, was hängen bleibt und irgendwie skurril ist oder interessant ist, versuche ich festzuhalten. Aber so lange für Kino, Fernsehen und Werbung gedreht wird, habe ich als Location Scout zu tun. Auch wenn man gerade nicht weiß, wie sich jetzt die künstliche Intelligenz auf unsere Branche auswirken wird. Vor etwa anderthalb Jahren haben wir einen Vortrag dazu bei uns im Bundesverband organisiert, das war damals aber lächerlich, was technisch möglich war. Da dachten wir, wir brauchen uns erstmal keine Sorgen zu machen. Aber wenn man heute schaut, was möglich ist, ist das schon sehr beeindruckend und das wird in zwei Jahren nochmal ganz anders aussehen. Es bleibt spannend.


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