Interview

Gewalt-Sänger Patrick Wagner: „Du musst stumpfer werden“

Kaffeetrinken mit Patrick Wagner, dem Sänger der Berliner Noise-Rock-Band Gewalt, ist eine intensive Erfahrung. Der exzentrische Musiker hat nicht nur auf der Bühne eine raumeinnehmende Ausstrahlung. Ein gemütliches Café in Friedrichshain wird zum Schauplatz eines spannenden Gesprächs über nihilistische Gesellschaftsbilder, markerschütternde Songs, manische Performances und die Kunst des Überlebens an sich.

Richard-Wagner-Theatralik: Auch schon mit seiner Band Surrogat konnte Patrick Wagner seine exzessive Bühnenpräsenz ausleben. Foto: Imago/Brigani-Art

tipBerlin Patrick Wagner, lange haben wir überlegt: Kommt noch ein Album, geht das so weiter mit immer neuen Singles? Am fünften November erscheint nun endlich euer Debütalbum „Paradies.“ Schön, dass es jetzt doch geklappt hat.

Patrick Wagner Ja, wir waren alle so ein bisschen gelangweilt von dieser Single-Sache. Bei der Kunst geht es ja allgemein immer darum, dass in dir selbst was zu beben beginnt. Wenn das nicht passiert, braucht man auch nichts tun. Es wird wahrlich genug produziert. Es gibt genug Produkt auf der Welt. Aber wenn man anfängt zu zittern, Angst hat, sich freut, durchdreht, dann hat man ne Berechtigung vor sich selber, das auch rauszulassen. Und wenn dann schon ein Debütalbum dann richtig. Also gleich mit Album, Best Of und Buch.

Interview mit Gewalt-Sänger Patrick Wagner: „Entweder du gibst deine Gewalt darein oder go home“

tipBerlin Man merkt bei dem Album, dass viel zusammengekommen ist, dass viel gesagt werden musste.

Patrick Wagner Das ist ja eigentlich die Grundidee bei Gewalt, dass jeder, der da arbeitet, die Aufgabe hat, seine eigene Gewalt, seine eigenen Ängste und seine eigenen Emotionen dazu beizutragen. Wenn die Personen nur Erfüllungsgehilfen sind oder denken sie machen nur einen Job, dann halt nicht. Entweder du gibst deine Gewalt darein oder go home!

tipBerlin Vor ein paar Tagen habt ihr in Wien euer erstes Konzert nach langer Zeit gespielt. Wie war das?

Patrick Wagner Wir haben halt nur die zehn neuen Stücke gespielt. Es war fast ausverkauft, knapp 200 Leute, mit so einem riesigen Kronleuchter, so voll hochkulturmäßig, gute Anlage und es war richtig laut.

tipBerlin Dieser Mix aus Hochkultur, Theater, Krach und Brutalität zeichnet euch ja auch aus…

Patrick Wagner Ja, natürlich hat die Band ja auch etwas theatralisches, vor allem in meinem Gestus. Aber insgesamt, auch mit Helen und Yasmin und mir, ist das schon so ein Richard-Wagnerhaftes, beideutsches Bild. Live war das echt kraftvoll. Gerade weil wir nur die neuen Sachen gespielt haben, die die Leute vorher noch überhaupt nicht gehört haben. Es ist ja noch nichts raus, aber die Leute haben es direkt richtig verstanden. Bei dem Song „Paradies“, der ja so funktioniert wie ein Can-Stück oder wie so eine Techno-After-Hour um 7 Uhr morgens, hat dann der ganze Raum angefangen, selbstverloren zu tanzen.

tipBerlin Und dann kommt so ein heftiges Stück wie „Stumpfer werden“…

Patrick Wagner Ja, das ist natürlich ein Extrembeispiel. Da war klar, es gibt diesen Text und dahinter steckt diese echt schlimme Geschichte, wie man auf die Idee kommt, sich selbst abtöten zu wollen oder zu müssen, um überhaupt in dieser echt seltsamen Gesellschaft lebensfähig zu sein. Das ist auch der Kern dieses Albums. Und wenn man so einen Text hat, kann ich auch nicht so einen coolen Indie-Swagger oder ein cooles Noise-Stück daraus machen, sondern dann muss das marschieren! Dann kam die Idee mit diesem künstlich, ekelhaften Kinderchor. Der ist echt schlimm.

„Das, was wir in der Musik gemacht haben, machen wir alle jeden Tag. Wir töten uns ab“

tipBerlin Erschütternd und echt unangenehm.

Patrick Wagner Ja (lacht). Natürlich haben wir dann auch überlegt: „Boah, das ist schon echt eklig das ganze Stück.“ Das Riff, der Beat, alles ist so seltsam. Aber inzwischen denke ich, genau so muss das sein. Es geht ums stumpfer werden. Das, was wir in der Musik gemacht haben, machen wir alle jeden Tag. Wir töten uns ab. Alles, was mal an Schönheit in uns war, cutten wir weg, um in dieser Gesellschaft zu überleben. Hier bin ich und wie soll ich das alles verstehen, wie soll ich hier sein dürfen? Darum gehts eigentlich.

Und dann fliegt Jeff Bezos ins All und es findet in allen Medien statt. Er denkt, er hätte es geschafft, wäre im Paradies, aber um ihn herum sind lauter Sklaven, die für ihn arbeiten, und er schwebt da rum. Das ist echt die Hölle. Wir alle schaffen uns die seltsamsten Paradiese, setzen uns die weirdesten Ziele und wenn wir sie erreicht haben, merken wir: „It’s fucking hell!“

Gewalt-Sänger Patrick Wagner: „So einen Abend wird es danach nie wieder geben“

tipBerlin Am 6.11. feiert ihr eure Release-Party im Zukunft am Ostkreuz. Worauf können wir uns freuen?

Patrick Wagner Eigentlich wollten wir auch in Berlin wieder so ein hochkulturellen Rahmen machen. Dann hat mir aber ein Freund, der das Zukunft betreibt, erzählt, dass er den Laden bald dicht machen muss. Wir haben da nie gespielt und es war uns dann echt wichtig, das noch zu machen.

An dem Abend werde ich erst mal ne halbe Stunde lesen. Ein bisschen was aus der Hauptgeschichte und kürzere Sachen aus dem Buch. Dann spielt Florian Pühs neue Band Sex Work. Das ist so ordentlich „auf die Fresse“, aber rappelt auch, er ist ein toller Sänger und das wird richtig wild. Danach spielen wir die zehn Stücke unseres Albums, in der richtigen Reihenfolge. So einen Abend wird es danach nie wieder geben, da wir natürlich an so einem Punkt sind, wo wir uns immer noch alles erspielen, wir sind noch nicht ganz fest und eingeölt, sondern es ist immer noch das Gefühl wie im Studio. Du merkst dann richtig, wie es dich mitreißt, wie geil es sich anfühlt, wenn etwas funktioniert. Das ist dann ein echt heiliger Moment.

„Wir spielen zwar unsere Platte, aber wir spielen nicht unsere Platte nach“

tipBerlin Das probiert ihr euch ja generell zu bewahren, oder? Also dass nicht alles zu perfektioniert ist, dass sich Strukturen noch verändern…

Patrick Wagner Also 99 Prozent der aktuellen Bands sind einfach scheisse. Da ist es so selten, dass sich irgendwas regt. Wir spielen zwar unsere Platte, aber wir spielen nicht unsere Platte nach. Das ist ein riesiger Unterschied. Wir machen Dinge anders, es ist wilder, es ist krachiger, es ist freier. Wir schießen drüber hinaus oder bleiben auch mal unten. Wir präsentieren nicht unsere Platte, sondern spielen unsere Lieder und die sind in dem Moment da. Das ist der Unterschied zu fast allen Bands, die es heutzutage gibt

tipBerlin Bands, die einfach so ihre Songs runterrattern, und die Leute wollen auch genau das hören, was sie kennen.

Patrick Wagner Genau, das ist natürlich auch ein Risiko. Weil die Leute natürlich auch erkennen, dass das bei „Paradies“ bei zwei Stücken funktionieren würde und bei acht Stücken nicht. Das ist natürlich auch nicht so einfach. Wir sind halt einfach eine neue Band. Aber wir wollen das so machen, weil wir ja jetzt auch die anderen Sachen viel gespielt haben und lange damit auf Tour waren, aber jetzt ist der „Paradies“-Moment. Das macht uns total Spaß. Wir schauen uns die Leute an und merken, da passiert was.

Gewalt bewegt sich ausdrucksstark und schonungslos zwischen „Techo-After-Hour“, Can und Richard Wagner. Foto: Magnus Winter

tipBerlin Besonders durch die lange Corona-Pause müssen diese Gefühle noch intensiver sein. War es seltsam für euch, wieder vor so vielen Leuten zu spielen?

Patrick Wagner Ultra seltsam. Aber nach ein paar Sekunden fühlt es sich wieder normal an und man merkt sofort: Das ist richtig! Leute zu umarmen ist richtig und wichtig. Schlimmer war es vorher, als wir geprobt haben und uns gefragt haben: „Was soll das überhaupt?“ Da lag alles soweit zurück, dass man nicht mehr wusste, wofür man das alles eigentlich macht. Bis inklusive Soundcheck stehst du da und kannst das nicht abstrahieren: „Ah, da sind dann viele Leute und es wird hot.“ Das konnte man nicht sehen, bis zu dem Moment, wo es dann so war.

„Man will halt nicht unbesungen sterben“

tipBerlin Ich fand es selbst super schwierig, Kreativität zu finden, wenn man nicht weiß wofür. Wenn keine Konzerte anstehen, man keine Möglichkeit hat, seine Kunst zu präsentieren, fühlt sich alles so abstrakt an. Ihr habt es trotzdem geschafft, dieses wunderbare Album zu machen. Meinst du, die ganze Entschleunigung hat euch dabei sogar geholfen?

Patrick Wagner Ne, helfen tut da Garnichts. Ganz im Gegenteil, die Schwelle ist einfach viel höher, sich in Musik reinzudenken und sich aufzuraffen. Man sagt zwar immer so als Künstler: „Ich mache das so Gerhard-Richter-mäßig. Ich male nur für mich.“ Das stimmt auch teilweise. Wenn es um das reine Ergebnis geht, blenden wir auch immer ein imaginäres Publikum aus. Aber wenn es um die Motivation geht, sieht das anders aus. Man stellt sich auf die Bühne, um vor Leuten zu spielen, ansonsten könnte man auch einfach immer im Proberaum sein und die beste Band der Welt im Proberaum sein. Es gibt immer dieses Maß an Narzissmus und deswegen macht man das ja auch. Man will halt nicht unbesungen sterben, aber gleichzeitig wollen wir uns dem auch nicht vollständig ausliefern. Wahrscheinlich werde ich mich jetzt nach den ganzen Interviews und Konzerten erstmal ins Bett legen und zwei Wochen weinen. Warum auch immer. Einfach alles wegheulen.

tipBerlin Man merkt, dass dir das alles wirklich auf dem Herzen liegt.

Patrick Wagner Ja, ich glaube auch, dass es einfach so eine Kraft entfalten kann. Wie die Leute da so getanzt haben vor der Bühne, ohne das unsere Musik so ein blödes Olé-Olé-Zeug ist. Es ist ja klar, dass die Leute jetzt Halligalli wollen, so den cheapen Exzess nach dieser Corona-Sache, aber es gibt halt auch den emotionalen, zerstörerischen Exzess, der die ganze Zeit auch nicht ausgelebt werden konnte. Diese reine Körperlichkeit, der innere Schrei: Dafür ist dann nun mal Gewalt da.


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