Interview

Herbert Grönemeyer: „In Berlin gilt eine Stimmung der liebevollen Ignoranz“

„Das ist los“ heißt das neue Album von Herbert Grönemeyer, in Berlin spielt er in der Mercedes-Benz Arena und in der Waldbühne. Wir sprachen mit dem Superstar der deutschsprachigen Popmusik über die Weite von Berlin, die Ähnlichkeiten zum Ruhrgebiet, Dankbarkeit und das Wir-Gefühl in seinen Songs.

Herbert Grönemeyer, 2023. Foto: Victor Pattyn
Neues Album und Tour: Herbert Grönemeyer, 2023. Foto: Victor Pattyn

Herbert Grönemeyer: „1977 habe ich schon in Berlin gewohnt und den tip gelesen“

Herbert Grönemeyer sitzt in der Ipanema Lounge im zweiten Stock der Universal Music-Zentrale direkt an der Spree. Vor ihm stehen ein koffeinfreier Kaffee und ein Obstkorb. Er spricht seit Stunden mit Journalisten über sein Ende März erschienenes neues Album „Das ist los“. Zwischendurch kam noch der Labelchef vorbei, die Terminplanung ging durcheinander. Ein langer Tag für den Popstar, der am 12. April 67 geworden ist. Er ist gut drauf. Als Grönemeyer erfährt, dass das nächste Interview für den tip ist, sprudelt es geradezu aus ihm heraus.

Herbert Grönemeyer 1977 habe ich schon in Berlin gewohnt und den tip gelesen. Ich war neu in der Stadt und der tip repräsentierte für mich das wilde Berlin. Ich spielte Theater an der Freien Volksbühne im Pariser Viertel. Abends habe ich Musik gemacht, im Folk-Pub und im Quartier Latin. Danach holte mich eine Freundin ab, so gegen eins in der Nacht, und wir gingen auf die Piste. Das war mein Berlin-Bild und wenn ich in der Wohnung in der Güntzelstraße saß, habe ich im tip geblättert und geguckt, was abgeht.

tipBerlin Waren Sie in West-Berlin, weil Sie dem Wehrdienst entgehen wollten?

Herbert Grönemeyer Nein. Nach Berlin kam ich aus dem Ruhrgebiet durch das Theater, wir spielten „Die Geisel“ en suite, da war ich 20. Ich fand das wild, etwas bekifft, aber sehr verwegen. Das hatte bei mir nichts mit dem Wehrdienst zu tun, ich war schon im dritten Semester Musikwissenschaften, da konnte man mich nicht rausziehen. Nach einem Jahr war ich weg. Wieder hergezogen bin ich 1993, dann 1998 nach London und 2008 wieder zurück. Berlin ist schon meine Stadt.

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„An Berlin finde ich angenehm, dass es nicht ums Geld geht“, sagt Herbert Grönemeyer

tipBerlin Sie könnten überall in der Welt leben, warum Berlin?

Herbert Grönemeyer An Berlin finde ich angenehm, dass es nicht ums Geld geht. Im Vergleich zu anderen Städten in Deutschland ist es hier weniger geldbetont. Natürlich geht es auch ums Geld, aber in den Gesprächen ist es nicht das elementare Thema. Das erinnert mich sehr stark ans Ruhrgebiet. Und wir haben auch ähnlich große Klappen. Im Kohlenpott sind wir vielleicht einen Hauch freundlicher. Eventuell.

tipBerlin Freundlichkeit gehört vielleicht nicht zu den vornehmsten Tugenden der Berliner, aber doch eine gewisse Gelassenheit.

Herbert Grönemeyer Ja, genau! Ich habe in Hamburg gelebt, in Köln, München, Stuttgart, im Ruhrgebiet. Jede Stadt hat ihre Qualitäten, aber in Berlin gilt wirklich die Devise: Leben und leben lassen. Du kannst im Pyjama auf die Straße gehen und keinen kümmert es. Diese Gelassenheit weiß ich zu schätzen. Auch wenn die Leute einen auf der Straße erkennen, was mir passieren kann, gilt in Berlin eine Stimmung der liebevollen Ignoranz.

Wildes West-Berlin: Herbert Grönemeyer in den 1980er-Jahren im Quartier Latin. Fotos: Imago/Brigani Art
Wildes West-Berlin: Herbert Grönemeyer in den 1980er-Jahren im Quartier Latin. Fotos: Imago/Brigani Art

tipBerlin Und wie empfinden Sie das Stadtbild selbst? Berlin gilt nicht unbedingt als eine „schöne“ Stadt.

Herbert Grönemeyer Dieses Weite und Offene, wenn ich vom Theodor-Heuss-Platz den Kaiserdamm runterblicke, das ist schon großartig. Ich fahre die Strecke oft runter, weil mein Studio am Potsdamer Platz ist. Das erinnert mich dann an Caracas oder Buenos Aires. Dieser Himmel! Ich habe lange in London gewohnt, da guckt man nie in den Himmel. Und in Berlin guckt man automatisch in den Himmel, weil die Architektur flacher ist und die Straßen breiter.

tipBerlin Der Himmel über Berlin, wie bei Wim Wenders?

Herbert Grönemeyer Mit Wenders hat das nichts zu tun, aber der Himmel ist in Berlin extrem präsent und ich finde es auch beeindruckend, wie schnell man sich in Berlin heimisch fühlen kann. Die Stadt macht es vielen Menschen sehr leicht, sich hier schnell zuhause zu fühlen. Es mag an den Kiezen liegen, man kommt schnell an.

tipBerlin Zugehörigkeit ist ein wichtiges Thema in Ihrem Werk, auch in den neuen Songs. Aber noch etwas anderes scheint für Sie wichtig zu sein, Dankbarkeit. Können wir über dieses Gefühl sprechen?

Herbert Grönemeyer Absolut. Ich bin zum Beispiel wahnsinnig dankbar dafür, dass ich Musik machen darf. Nicht, dass der Staat mir das erlaubt hat, aber dass ich auf die Bühne gehen darf und mir eine Riesenfreude damit machen kann und den Menschen scheinbar auch. Das ist schon ein großes Geschenk, das ich habe. Diese Dankbarkeit für die Musik ist sehr prägend in meinem Leben und für Freundschaften, dafür bin ich auch dankbar.

tipBerlin Sind Sie jemand, der Freundschaften über lange Zeit pflegt?

Herbert Grönemeyer Interessanterweise bin ich jemand, der keine Bekanntschaften hat. Diese in Deutschland berühmte Unterscheidung von Freund und Bekannter, das kenne ich nicht, dafür sehr viele lange Freundschaften. Mein Vater sagte immer: Freundschaften sind das Einzige im Leben, das Sinn macht. Völlig anders als Erfolg oder Geld, außer vielleicht noch die Gesundheit. Er hatte auch außergewöhnlich viele Freunde.

tipBerlin Diese Einstellung haben Sie von Ihrem Vater übernommen?

Herbert Grönemeyer Zumindest zum Teil. Ich habe das große Glück, dass ich solche Freunde habe, die man auch mal vier Jahre nicht sehen muss, und wenn man sich trifft, ist es sofort wie immer und da ist niemand beleidigt.

tipBerlin Die Dankbarkeit ist eine christliche Grundtugend. Ist Religion ein Konzept, aus dem Sie Ihre Kraft schöpfen?

„Wir hatten jedenfalls in Bochum eine tolle Kirchengemeinde“

Herbert Grönemeyer Erstmal komme ich aus einem gut evangelischen Haushalt. Mein Vater wollte mal Pfarrer werden, kannte die Bibel und war dazu auch noch Calvinist.

tipBerlin Ein calvinistischer Menschenfreund!

Herbert Grönemeyer Genau, ein calvinistischer Menschenfreund! (lacht) Wir hatten jedenfalls in Bochum eine tolle Kirchengemeinde, in der ich teilweise meine frühe Jugend verbracht habe, in der ich im Chor gesungen habe, wo ich konfirmiert wurde, wo der Pfarrer sich später sehr um meine Eltern gekümmert hat. Als meine erste Frau starb, bin ich dort auch hingefahren und saß dort nachts stundenlang. Diese Form von Seelsorge ist wichtig. Bibelfirm bin ich nicht, aber die Zeit in der Kirche hat mich geprägt und am Ende bastelt sich jeder Mensch sowieso seine eigene Religion zusammen.

tipBerlin In Ihren Texten geht es um Zuversicht, den Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens und Gemeinschaft. All diese Themen, die auf dem neuen Album zentral sind, scheinen sich aus den Erfahrungen in dieser Gemeinde zu speisen.

Herbert Grönemeyer Das stimmt. Eine Sache kommt noch hinzu. Bis in die 1970er-Jahre existierte in der Bundesrepublik Deutschland eine gemeinschaftliche Sozialdemokratie. Das Ruhrgebiet war damals von einem starken Gemeinschaftssinn geprägt, einer Verantwortlichkeit, die man für jeden einzelnen verspürte. In den 1980er- und 1990er-Jahren ging das weltweit verloren. Doch diese Dopplung von Religion und gesellschaftlichem Zeitgeist prägte mich. Dann kam noch der Fußball dazu, zehn Jahre im Verein. Heute sind das deshalb die Fragen, mit denen ich mich beschäftige. Wo ist die Gemeinschaft, wo findet sie statt und machen wir uns darüber Gedanken, wo wir als Gesellschaft hinwollen und in 30 Jahren stehen werden?

„Ich lebe dieses Grundgefühl von einem Miteinander“

tipBerlin Hört man die aktuellen Nachrichten, schaut man ins Internet, sieht es nicht sehr gut aus. Klimakrise, Pandemie, Krieg, Gentrifizierung, all die aktuellen Probleme prasseln auf einen ein. Braucht es einen Herbert Grönemeyer, der mit seiner Musik den düsteren Blick etwas optimistischer stimmt?

Herbert Grönemeyer Das klingt fast so, als würde ich einen Lehrauftrag verspüren und den Menschen erklären wollen, was richtig und was falsch ist. So ist das nicht, aber ich lebe dieses Grundgefühl von einem Miteinander. Auch das kommt aus meiner Jugend. Damals kamen die Menschen aus Polen, der Türkei, Italien, Spanien zu uns ins Ruhrgebiet und da waren wir stolz. Denn in Deutschland redeten damals alle über das Ruhrgebiet, als wäre es das letzte Drecksloch und dann kommen da die Leute aus der großen weiten Welt zu uns. Da haben wir uns gefreut!

tipBerlin Lehrauftrag oder nicht. Ihr neues Album könnte man mit einem Wort beschreiben: „Empathie“. Die Musik soll Kraft geben, über schwere Zeiten hinweghelfen. Sind Sie der Psychotherapeut der Nation?

Herbert Grönemeyer Oh Scheiße! Boah. Ich schreibe doch keine Durchhaltelieder, aber ich verstehe Kunst als eine Form der Stimulierung, sie muss Menschen bestärken, auch in ihrer Trauer. Dabei geht es nicht um die Nation oder sowas, aber so eine Platte schreibe ich nicht im luftleeren Raum. Ich frage mich da schon, wo sind die Anker, was ist dir wichtig und wie steht es im Moment um den Zusammenhalt? Letztlich versuche ich, an ein Wir-Gefühl zu appellieren.

tipBerlin So wichtig das „Wir“ sein mag, sind Sie zugleich ein Superstar, haben Millionen von Platten verkauft und füllen ganze Stadien. Ganz frei von Pop-Eitelkeit können Sie nicht sein, oder?

„Die Zweifel werden dramatischer von Platte zu Platte“

Herbert Grönemeyer Wenn ich nicht eine gewisse Eitelkeit hätte, könnte ich mich da vorne nicht hinstellen. Aber trotzdem ist die eigene Wahrnehmung eine ganz andere als die Außenwahrnehmung. Ich stehe nicht vor dem Spiegel, putze mir die Zähne und denke: Warum klatscht denn jetzt hier keiner? Ich kriege mit, wenn Menschen mir erzählen, was ihnen das alles bedeutet, aber selbst sehe ich mich so nicht.

tipBerlin Ein Herbert Grönemeyer zweifelt auch?

Herbert Grönemeyer Zweifelt? Zweifel ist gar kein Ausdruck! Die Zweifel werden dramatischer von Platte zu Platte. Da hilft alles nicht. Es ist diese Mischung aus Selbstzweifel und Alter. Du misst dich immer selbst und ich frage mich dann: Gelingt dir da irgendwas, ist das was Vernünftiges, was du da zu Papier bringst? Auf der Bühne geht das etwas besser, da fühle ich mich mehr zuhause, als wenn ich allein an irgendwelchen Texten herumschreibe. Dort mag es sein, dass der Applaus kurzzeitig hilft, dann denke ich: Vielleicht bin ich doch nicht der größte Vollpfosten in der Prärie.

  • Herbert Grönemeyer „Das ist los“ (Vertigo)
  • Mercedes-Benz Arena Mercedes Platz 2, Friedrichshain, So 21.5., 20 Uhr, Tickets ab 77 €, weitere Infos und Tickets hier
  • Waldbühne Berlin Glockenturmstraße 1, Westend, 5.6.+6.6., 18:30, Tickets für Montag ausverkauft, Dienstag 81 €, weitere Infos und Tickets hier

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