Interview

Jean-Michel Jarre: Virtuelle Realität wird die Musik verändern

Jean-Michel Jarre ist einer der international erfolgreichsten Vertreter der elektronischen Musik. Seine Alben wie „Oxygene“ und „Equinoxe“ haben sich millionenmal verkauft. Er veranstaltete gigantische Konzerte, unter anderem in Peking, Moskau und natürlich immer wieder in seiner Heimatstadt Paris. Mit „Oxymore“ ist gerade eine neue Platte des 74-jährigen Franzosen erschienen. Es ist eine Hommage an den 2017 verstorbenen Komponisten Pierre Henry. Wir sprachen mit Jean-Michel Jarre über Virtuelle Realität, die europäischen Wurzeln der Elektronik, das Berghain und die Zusammenhänge von historischen Brüchen und Innovation.

Auch mit 74 immer noch extrem cool: Jean-Michel Jarre. Foto: Promo
Auch mit 74 immer noch extrem cool: Jean-Michel Jarre. Foto: Promo

Jean-Michel Jarre: „Als Musiker sind wir Lockdown-Situationen gewohnt“

tipBerlin Jean-Michel Jarre, wie geht es Ihnen?

Jean-Michel Jarre Ich bin etwas erkältet, wegen der Klimaanlagen überall, und auch müde. Lange Tage, kurze Nächte. Ich komme gerade aus Mailand, jetzt Berlin, morgen geht es wieder nach Paris. Alles etwas hektisch.

tipBerlin Nicht nur die letzten Tage waren hektisch, in den letzten sechs Jahren haben Sie sechs Alben veröffentlicht, dieser Tage erscheint das nächste. Sie sind ein sehr beschäftigter Mann.

Jean-Michel Jarre Das stimmt, ich habe niemals so viel gearbeitet wie jetzt. Während der Pandemie bekamen viele Leute aus der Musikbranche das Gefühl, die Welt hätte aufgehört sich zu drehen. Für mich war es fast umgekehrt. Mein Glück war aber auch, dass ich meine Welttournee fünf Tage vor dem ersten Lockdown beendet habe. Dann zog ich in mein Studio. Als Musiker sind wir Lockdown-Situationen gewohnt. Was das Privatleben angeht, war es natürlich etwas ganz anderes.

tipBerlin Sie waren in Ihrem eigenen Studio?

Jean-Michel Jarre Ja, ich habe ein Studio außerhalb der Stadt und ein kleines Heimstudio in Paris, wo ich ja wohne. Wenn man ein Musiker ist, der elektronische Musik produziert, ist man fast so etwas wie ein Maler im Atelier oder ein Schriftsteller in der Schreibstube. Sehr zurückgezogen, isoliert, allein. Das ist ein großer Unterschied zu Rock oder Jazz, wo man meist mit einer Band arbeitet und von Leuten umgeben ist. Bei mir ist es ein einsamerer Prozess.

tipBerlin Fehlt Ihnen nicht der kreative Austausch?

Jean-Michel Jarre Doch, deshalb begann ich mich mit anderen Musikern auszutauschen. Gerade jetzt, für das neue Album „Oxymore“, habe ich eine Reihe von Kooperationen angeregt. Die Idee sind Erweiterungen der einzelnen Stücke vom Album gemeinsam mit anderen Künstlern. Mit Martin Gore von Depeche Mode, dem sehr geheimnisvollen Projekt Deathpact und auch mit Brian Eno, dessen Arbeit ich sehr verehre. Das ermöglicht einen neuen Prozess. Dieses neue Material wird in den kommenden Monaten nach und nach erscheinen und vielleicht entsteht daraus irgendwann ein neues Album.

„Wir haben als Menschen eine sehr frontale Beziehung zu Musik“

tipBerlin Lassen Sie uns über Ihr neues Album „Oxymore“ sprechen. Wie kam es zu dieser Hommage an den Pionier der elektronischen Musik, Pierre Henry?

Jean-Michel Jarre Die Idee kam aus meiner Begeisterung für Virtual Reality, die mich seit etwa fünf Jahren intensiv beschäftigt. Mir fiel auf, dass wenn man über immersive Welten spricht, es fast immer nur um die visuellen Aspekte und fast nie um den Klang geht. Also dachte ich, das wäre doch interessant, ein Projekt zu entwickeln, mit einem 360-Grad-Klangerlebnis.

tipBerlin Es geht darum, die Musik aus jeder Richtung zu hören, sozusagen inmitten der Musik zu sein?

Jean-Michel Jarre Richtig. Wir haben als Menschen eine sehr frontale Beziehung zu Musik. Wenn man in einem Konzert ist, dann ist vorn die Bühne, wo das Orchester spielt oder die Rockband, der Klang kommt von vorn und wir stehen davor und hören zu. Mir schwebte aber etwas anderes vor, und ich wollte in einer neuen Perspektive komponieren, indem ich schon bei der Entwicklung der Stücke die Klänge im Raum positionierte. Dieser Ansatz ist von Anfang an so anders, dass er am Schluss zu sehr besonderen Ergebnissen führte. Diese Technologie wollte ich mit „Oxymore“ erforschen.

Der französische Komponist und Mitbegründer der Konkreten Musik Pierre Henry (1927-2017) in der Cite de la Musique, Foto von 2008. Foto: Imago/Leemage
Der französische Komponist und Mitbegründer der konkreten Musik Pierre Henry (1927-2017) in der Cité de la musique, Foto von 2008. Foto: Imago/Leemage

tipBerlin Aber wie passt dazu die Arbeit von Pierre Henry, dem Vorreiter der konkreten Musik?

Jean-Michel Jarre Die Stücke auf dem Album sind meine Kompositionen, ich habe sehr wenige Sounds von Pierre Henry benutzt, die aber bei der Arbeit wichtig waren. Es gab zwei Gründe, warum ich  entschieden habe, dass „Oxymore“ eine Hommage an Pierre Henry sein soll. Als ich über Räumlichkeit und Klang nachdachte, stellte ich fest, dass Henry der erste Komponist war, der sich mit der Verräumlichung beschäftigt hat – und das bereits in den 1940er-Jahren. Damals in einer sehr simplen Art und Weise, in Multi-Mono, aber er ist der Vorreiter dieses Denkens.

Der andere Grund war, dass wir vor einigen Jahren eine Zusammenarbeit angedacht haben und er kurze Zeit später, im Jahr 2017, verstarb. 2018 bekam ich dann einen Anruf von seiner Witwe und sie sagte: „Pierre hat dir einige Sounds hinterlassen“.

tipBerlin Es war sein Vermächtnis an Sie, eine Sammlung von Klängen von Henry an Jarre?

Jean-Michel Jarre Ja, und es waren nicht einfach nur Samples, wie man sie aus dem Hip-Hop kennt, wo kleine Schnipsel aus einem existierenden Stück herausgenommen werden. Das waren einzelne Fragmente, die er für mich ausgewählt hat. Das war sehr besonders, denn ich hatte vorher nicht viel mit ihm zu tun. Mein Lehrer und Mentor war der andere Pierre der französischen Elektronik-Avantgarde, Pierre Schaeffer. Die beiden Pierres haben in den 1940er-Jahren gemeinsam ein Klangstudio für elektroakustische Musik gegründet, ihre Wege haben sich aber in den 1950er-Jahren getrennt. Schaeffer wollte ein Laboratorium für Klänge erschaffen und Henry interessierten nur seine eigenen Kompositionen, an denen er im eigenen Heimstudio arbeitete. Dem vielleicht ersten Heimstudio überhaupt! Ich kannte natürlich Henrys Musik und habe ihn einige Male gesehen, aber wir kannten uns nicht. Mich hat aber beeindruckt, wie wichtig sein Betrag zur Entwicklung der modernen Musik war.

„Oxymore“ ist eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft

tipBerlin Können Sie auf diesen Beitrag Henrys etwas mehr eingehen?

Jean-Michel Jarre Pierre Henry und auch Schaeffer waren mit ihrem Konzept der konkreten Musik, die ersten Komponisten, die Geräusche in Musik integrierten. Sie waren in dem Sinne die ersten Sounddesigner und beschäftigten sich intensiv mit den Texturen von Klängen. Heute arbeiten wir in der Elektronik nicht mehr so viel mit Texturen, es existieren unendlich viele Klangbibliotheken, Voreinstellungen, Software.

Damals gab es nur rohen Klang, und so erschufen sie eigene Evolutionen der Klänge. Die Idee, dass sich jeder Sound entwickeln kann, ist sehr wichtig für meine eigenen Kompositionen. Also dachte ich, es könnte interessant sein, diese französischen Pioniere der elektroakustischen Musik zu würdigen. „Oxymore“ ist eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, es reicht zu den Anfängen der Elektronik zurück und benutzt gleichzeitig innovative Sound-Tools, die teilweise noch in der Entwicklungsphase stecken.

tipBerlin Sie sprechen über die französischen Wurzeln der elektronischen Musik. Nun sind wir jetzt in Berlin, Hauptstadt der elektronischen Tanzmusik. Verfolgen Sie das, was hier passiert?

Jean-Michel Jarre Natürlich! Im Prinzip ist die Idee von „Oxymore“ eine Entwicklung von, vielleicht nicht dunklen aber doch rohen Klängen zu einer tanzbaren Situation. Techno, gerade der Berliner Techno, steht in diesem Sinne der konkreten Musik recht nah. Es gibt hier diese Rohheit. Hier existiert ein Zusammenhang zum Fall der Mauer. Ich spreche von den Überbleibseln des Chaos, so wie die Anfänge der konkreten Musik eine Reaktion auf die Überbleibsel des Chaos aus dem Zweiten Weltkrieg waren. Es gibt da eine Verbindung von Brutalismus und Innovation. In Japan gab es nach den Atombomben von Hiroshima eine ähnliche Entwicklung. Diese Rohheit, die aus dem Trauma des Chaos kommt. „Oxymore“ trägt ein Echo dessen in sich. Und ich denke, dass Techno und Clubs wie das Berghain ebenfalls in dieser Kontinuität stehen. Ich meine das nicht anmaßend, aber elektronische Musik stammt aus Kontinentaleuropa. Sie hat ursprünglich nichts mit den USA zu tun.

tipBerlin Für die Entwicklung des Techno ist zumindest Detroit relativ wichtig.

Jean-Michel Jarre Für Techno schon. Ich war 2018 mit Pedro Winter, dem Electro-House-DJ und Manager von Daft Punk, auf dem Coachella Festival unterwegs. Es kam jemand von „Billboard“ auf uns zu und fragte: „Was sind für Euch die Ursprünge der elektronischen Musik?“ Und Pedro sagte: „Detroit“. Detroit ist der Ursprung von Techno, das stimmt, aber die Szene dort war zum Beispiel stark von Kraftwerk beeinflusst. Und die elektronische Musik reicht viel weiter zurück. Ich sagte also: „Machst Du Witze? 40 Jahre davor hattest du Luigi Russolo, du hattest Stockhausen, du hattest Leon Theremin, du hattest Pierre Schaeffer.“ Ich wollte an die Bedeutung dieser Ära erinnern. Auch, weil heute niemand mehr Pierre Henry kennt. Wäre er Amerikaner, wäre er so bekannt wie John Cage. Dabei denke ich, dass Henrys Einfluss viel wichtiger ist als der von Cage, den ich natürlich auch liebe.

„Psyché Rock“ von Pierre Henry und Michel Colombier

tipBerlin Heute kennt man vor allem „Psyché Rock“ von Pierre Henry, den Titelsong der Zeichentrickserie „Futurama“.

Jean-Michel Jarre Die Tragik von „Psyché Rock“ ist, dass das Stück Pierre Henry zugeschrieben wird, es aber tatsächlich von seinem musikalischen Partner Michel Colombier stammt und Henry dazu nur einige Sounds beigetragen hat. Er ist für etwas bekannt, was er gar nicht gemacht hat.

tipBerlin Die Pandemie ist vorerst vorbei und ein neues Album von Ihnen da, gehen Sie demnächst wieder auf Tour?

Jean-Michel Jarre Ja, es wird eine Hybrid-Show geben. Halb live und halb Virtual Reality. Das ist ein Konzept, das ich in Zukunft weiter verfolgen will. Die Musik kommt aus einer Multikanal-Anlage, 360 Grad, man steht mittendrin. Am besten, das Publikum befindet sich in einer Arena, und der Sound kommt von allen Seiten. Und ganz wichtig: Keine Visuals, es soll um den Klang gehen, die Ohren sollen die Augen eröffnen – nichts soll vom Hören ablenken.

tipBerlin Das haben Sie mal anderes gesehen. Denkt man an Ihre spektakulären Konzerte der 1970er- und 1980er-Jahre mit gewaltigen Lichtshows, Videoprojektionen und Laserstrahlen, hat da schon viel vom Sound abgelenkt.

Jean-Michel Jarre Ich sehe die Ironie, wenn gerade ich darüber spreche. Das Visuelle soll in der Virtuellen Realität bleiben, es wird live auf Headsets oder auf das Smartphone gesendet.

„Ich bin absolut davon überzeugt, dass das Metaverse und Virtuelle Realität eigenständige Ausdrucksmittel werden“

tipBerlin Noch einmal kurz zu den gewaltigen Shows mit denen Sie berühmt geworden sind. Denken Sie, solche Projekte sind heute überhaupt noch möglich. Konzerte mit einer Million Zuschauern?

Jean-Michel Jarre Umweltschutz, Energie, Sicherheit, all das hat sich verändert. Ich denke, diese großen Konzerte sind ein Relikt der Vergangenheit, wir sind jetzt weiter. Es gab mehrere Paradigmenwechsel und auch deshalb interessiert mich heute so sehr die Virtuelle Realität. Wir sind global und gleichzeitig – nicht nur während der Pandemie – voneinander aus verschiedenen Gründen isoliert. Es ist faszinierend, etwas in VR zu erschaffen, was sich über diese Grenzen hinwegsetzen kann. Ich bin absolut davon überzeugt, dass das Metaverse und VR eigenständige Ausdrucksmittel werden, die die Kultur revolutionieren werden.

So wie einst das Kino eine Revolution war. Am Anfang sagten die Leute, das sind ja keine echten Schauspieler, die sind im Theater. Aber das Kino wurde die bedeutendste Kulturform des 20. Jahrhunderts. Und VR wird das Konzept des Live-Konzerts verändern. Sie wird es nicht ersetzten, sondern erweitern und verstärken. So wie das Kino am Ende das Theater verändert und auch verstärkt hat, aber nicht ersetzt.   


Jean-Michel Jarre "Oxymore" (Sony)
Jean-Michel Jarre „Oxymore“ (Sony)

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