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Neues Buch von Jens Balzer: „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“

Jens Balzer hat schon über die 1970er-Jahre ein Buch geschrieben, in dem er das „entfesselte Jahrzehnt“ auf Pop, Politik und Diskurs abklopfte. In dem Nachfolger zu den 1980ern ging es um Dauerwellen und Pornoschnauzbärte und nun folgt mit „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ der dritte Band der popkulturellen Dekaden-Erörterung. Wir präsentieren daraus exklusiv einen Auszug aus dem Kapitel „Temporäre Autonome Zonen“ in dem Balzer Techno als Soundtrack der Wiedervereinigung und des Urlaubs von der Geschichte beschreibt. Im Deutschen Theater wird Jens Balzer am 20. Juni sein neues Buch gemeinsam mit Marion Brasch vorstellen.

Jens Balzer Autor von "No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit" . Foto: Roland Owsnitzki
Jens Balzer, Autor von „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“. Foto: Roland Owsnitzki

Temporäre Autonome Zonen: Techno wird zum Soundtrack der Wiedervereinigung und des Urlaubs von der Geschichte

Genau ein Jahr nach den ersten und letzten freien Volkskammerwahlen in der DDR, am 18. März 1991, eröffnet in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte der Technoclub Tresor. Vielleicht ist es auch nicht genau ein Jahr her, dass gewählt wurde, sondern ein paar Tage mehr oder weniger, darüber gehen die Meinungen auseinander, weil sich schon nach ein paar Monaten niemand mehr an alle Einzelheiten der Eröffnung erinnern kann, schon gar nicht an den exakten Tag. Wenn man die grob gehauene Treppe in den Tresor hinuntersteigt, kann man sich tatsächlich sofort so fühlen, als ob man sich außerhalb der sonstigen Zeitabläufe befindet. Es ist dunkel, laut, eng und neblig, manchmal wird der Nebel von grellen Blitzen erleuchtet.

Die Musik, die in dem Club gespielt wird, besteht aus sehr dunklen und lauten Bässen und hart geschlagenen Beats. Menschen, die an den ersten Abenden dort unten gewesen sind, beschreiben die Erfahrung als eine, die dem Abstieg in ein Stahlwerk gleicht oder in ein Bergwerk oder vielleicht in einen Berg, der ganz aus Stahl gebaut wurde. Die Bässe jedenfalls bringen die Hosenbeine und Röcke zum Flattern und die Nasenflügel zum Beben, man kann sich in der Musik und in der Gesamtsituation sofort verlieren und Stunden um Stunden darin verweilen. Nicht wenige glauben in diesen Tagen daran, dass sie in diesem Gebäude, das aus der Vergangenheit kommt, die Zukunft gehört und erfahren haben oder vielleicht sogar einen Zustand, in dem die Vergangenheit und die Zukunft in einer endlosen Gegenwart miteinander verschmelzen: Für sie ist Techno der Ausdruck des Posthistoire – oder, wie es bei Francis Fukuyama hieß, des Endes der Geschichte.

Leere Straßen und Gebäude im aufgelassenen Zentrum der ehemaligen Hauptstadt der DDR

Der Tresor befindet sich in einer Stahlkammer unter der Erde, im ehemaligen Tresorraum des Kaufhauses Wertheim, das noch von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht worden ist. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude bei Luftangriffen weitgehend zerstört, in der DDR-Zeit hat man darauf verzichtet, aus der Ruine etwas Neues zu errichten, der Keller bleibt in den folgenden Jahrzehnten unberührt. Er wird erst von einem west-ostdeutschen Männertrio wiederentdeckt, das nach dem Mauerfall durch die leeren Straßen und Gebäude im aufgelassenen Zentrum der ehemaligen Hauptstadt der DDR streift, um dort passende Räume zum Feiern zu finden.

„Als wir das erste Mal die Tür aufmachten und da hinunterstiegen, kam uns Luft entgegen, die vierzig bis fünfzig Jahre alt war, das war sofort eine extrem intensive Atmosphäre“, so hat sich Dimitri Hegemann, der den Ort gemeinsam mit Johnnie Stieler und Achim Kohlberger entdeckte, später erinnert, in einem Gespräch, das er mit Felix Denk und Sven von Thülen für ihr Buch „Der Klang der Familie“ geführt hat, eine Oral History der frühen Berliner Technokultur. Hegemann, Stieler und Kohlberger hatten schon vorher Clubnächte und Konzerte veranstaltet. Hegemann organisierte seit Anfang der Achtzigerjahre in Westberlin das Atonal-Festival, auf dem Gruppen wie Einstürzende Neubauten und Psychic TV auftraten, und betrieb später das dadaistische Fischbüro in Kreuzberg mit dem angeschlossenen Ufo-Club darunter.

Johnnie Stieler kam aus Ostberlin und war ursprünglich Punk. Gleich nach der Wende begann er wie viele andere, durch Westberlin zu streunen auf der Suche nach den sagenumwobenen Partys und Clubs, die man im Osten nur aus Erzählungen und aus gelegentlichen Sendungen im Westradio kannte – während das Partyvolk von der anderen Seite durch den Osten irrte, seinerseits auf der Suche nach Orten, an denen man irgendetwas veranstalten konnte, fasziniert von all den leerstehenden Häusern und Fabrikgebäuden. Ein Abenteuerspielplatz, auf dem alles möglich schien: so eine Formulierung, die für den westlichen Blick auf Ostberlin damals häufiger gebraucht wurde.

„No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ von Jens Balzer: Im Ufo-Club lief vor allem die elektronische Clubmusik

Im Ufo-Club lief vor allem die elektronische Clubmusik, die Ende der Achtzigerjahre aus Großbritannien nach Deutschland importiert wurde, der heitere, von der aufgekratzt und zutraulich machenden Ecstasy-Droge inspirierte Acid-House-Stil, dessen grafisches Erkennungszeichen ein gelbes Gesicht mit hochgezogenen Mundwinkeln war: der Smiley. Johnnie Stieler und sein Kompagnon Wolle Neugebauer alias Wolle XDP interessieren sich aber eher für den harten, dunklen, martialischen Sound, der in den Achtzigern von Industrialbands auf dem europäischen Festland entwickelt worden ist, von der Deutsch Amerikanischen Freundschaft (D. A. F.), von Front 242 und Meat Beat Manifesto – und von jungen DJs aus Detroit wie Jeff Mills, Blake Baxter und Kevin Saunderson, die wiederum diese europäische Musik mit afroamerikanisch geprägten Traditionen wie Disco und House verbinden. Die Detroiter DJs nennen ihren Stil „Techno“; in Berlin wird der Begriff übernommen, wenn auch anfangs mit einer anderen Orthografie. Techno hat Soul, so das Argument, aber die weißen Menschen, die in Berlin dazu tanzen wollen, haben diesen Soul eben nicht, darum nennen sie ihre Musik „Tekkno“, mit zwei knallenden, seelenlos deutschen „k“ in der Mitte.

  • Jens Balzer: „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“, Rowohlt, 384 S., 28 €

Buchpremiere

  • Deutsches Theater, Schumannstraße 13a, Mitte, Di 20.6., 20 Uhr, Karten 8/6 €

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