Interview

„Die Jury ist der Star“: M.C. Lücke über die radioeins-„Sommersonntage“

Die „Sommersonntage“ sind die erfolgreichste Sendung auf radioeins. An sieben Sonntagen in den Sommerferien wählt eine riesige Jury aus Menschen, die in der Musikbranche tätig sind, die jeweils 100 besten Songs zu Themen wie „Essen“, „Verbrechen“ oder „Weltraum“. In diesem Jahr ist das Format auch erstmals in der ARD-Audiothek zu finden. Wir sprachen mit Michael C. Lücke (M.C. Lücke), Moderator und Projektleiter der radioeins-„Sommersonntage“, über die Anfangszeit, das Erfolgsrezept, die Kunst, neue Themen zu finden und warum Listen wie „Songs zum Autofahren“ nicht funktionieren.

Michael C. Lücke, Moderator und Projektleiter der radioeins-"Sommersonntage". Foto: Privat
Michael C. Lücke, Moderator und Projektleiter der radioeins-„Sommersonntage“. Foto: Privat

M.C. Lücke über die „Sommersonntage“ auf radioeins: „Das sollte eine einmalige Aktion sein“

tipBerlin M.C. Lücke, du bist Projektleiter der radioeins-„Sommersonntage“, wie hat die Sache eigentlich angefangen?

M.C. Lücke 2017 ging es los. Im Sommer gab es schon länger besondere Aktionen, die mit Musik zu tun hatten. Zum Beispiel Kooperationen mit Arte, die machten so Sachen wie der „Sommer der Rebellen“ oder dieses Jahr der „Sommer der Champions“ und wir machten mit. Aber ich wollte 2017 diese Charts umsetzen, ich dachte, das könnte richtig Spaß machen und dann habe ich den Zuschlag bekommen. Das sollte eine einmalige Aktion sein, aber der Erfolg war gleich so groß, dass es weiterging.

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tipBerlin Bevor wir zum Erfolg kommen. Wie lief die erste Sendung ab und welches Thema war das?

M.C. Lücke Wir hatten als erstes Thema „deutschsprachige Lieder“ und danach „Berlin“, also Songs, die um Berlin gehen und noch die großen Themen wie „Rock“, „Liebe“, „Elektro“ und „Filmmusik“. Das waren die ersten sechs Rubriken. Nach drei Jahren hat man das dann auf sieben erweitert und seitdem gibt es immer sieben „Sommersonntage“.

tipBerlin Du hast gesagt, der Erfolg war gleich sehr groß. Hat dich das überrascht?

M.C. Lücke Es ist die erfolgreichste Sendung auf radioeins, wenn ich mich nicht irre. Wenn keine Katastrophe oder ein Attentat passiert, dann ist die letzte Stunde der „Sommersonntage“, also jeweils die Top Ten, die erfolgreichste Sendung. Die schlagen alles. Auch die Zugriffe online sind immens. Weil die Leute so gerne mitdiskutieren und tippen, teilweise gibt es auf unseren Social-Media-Kanälen über tausend Posts.

tipBerlin Die „Sommersonntage“ sind auch Stadtgespräch. Die Leute reden drüber, das ist ein Stück Stadtkultur geworden. Siehst du das auch so?

M.C. Lücke Ja, das ist wirklich so. Das ist Talk of the Town. Mein liebstes Beispiel, das ich habe, das hat Torsten Groß, der „Soundcheck“-Moderator, mir erzählt, gleich im ersten Jahr: Er war auf einem Sommerfest und die Leute sind immer ins Haus reingelaufen, aber nicht, weil es geregnet hat, sondern weil die hören wollten, welcher Song als nächstes kommt. Torsten sagte, er hat das noch nie so empfunden, dass Radio so relevant sein kann wie in diesem Moment.

Ebenso verrückt ist ja, dass wir jetzt Marktführer sind, radioeins ist das erfolgreichste Radio in Berlin.

Michael C. Lücke, Moderator und Projektleiter der radioeins-„Sommersonntage“

tipBerlin Das ist wie so ein „Wetten, dass..?“-Gefühl, dass am Montag alle im Büro kommen über die Top 100 reden. Das ist verbindend.

M.C. Lücke Verrückt! Ebenso verrückt ist ja, dass wir jetzt Marktführer sind, radioeins ist das erfolgreichste Radio in Berlin. Jetzt will ich nicht sagen, dass allein die „Sommersonntage“ dafür verantwortlich sind, aber die sind auch ein gutes Stück dafür verantwortlich. Ich würde sagen, sie sind eine Trademark von radioeins geworden.

tipBerlin Wird das Konzept eigentlich kopiert von anderen Radiosendern irgendwo in Deutschland oder in anderen Ländern?

M.C. Lücke Wir sind jetzt auch in der ARD-Audiothek, die auch auf uns aufmerksam geworden ist. Und der SWR hat mal die „1000 besten Songs“ wählen lassen und die sind auch in der ARD-Audiothek. Aber die haben das als einmalige Aktion gemacht und wir haben eine Serie. Aber das Konzept ist nicht so leicht zu kopieren, wir haben schon ein paar Erfolgsgaranten. Da ist zum einen die Zusammenstellung der Jury, die nicht nur aus Musikkritiker:innen besteht, sondern aus allen möglichen Leuten aus der Musikbranche, also auch Menschen von den Labels, Clubs, Roadies, Fotografen, die machen alle bei uns mit und dazu noch prominente Musikerinnen und Musiker wie Bela B oder Dota Kehr. Durch diese Mischung sind die Listen nicht so speziell, sie sind zwar immer noch von gutem Geschmack geprägt, aber schon mainstream-lastiger.

tipBerlin Am Anfang, in den ersten zwei oder drei Stunden, also die Plätze 100 bis 70, ist es meist recht experimentell, später wird es mainstreamiger. So ließe sich die Dramaturgie der „Sommersonntags“-Charts erklären, oder?

M.C. Lücke Absolut! Am Anfang ist es sehr speziell, da fragen die Leute manchmal, was ist das denn, kannte ich überhaupt nicht oder wie kann man sowas wählen? Aber je höher du kommst, spätestens aber Top 40, wird es immer populärer. Und dadurch auch relevant, dass die Leute sich dann damit identifizieren können und trotzdem Freude an diesen experimentellen Stunden am Anfang haben. So vergrößert man sein Musikwissen, das ist die beste Fortbildung, die man haben kann. Auch durch die tollen Geschichten der Jury natürlich. Also die drei Erfolgsgaranten, die würde ich nochmal beschreiben.

„Ich glaube, dass das den Leuten mehr Spaß macht als die rein musikjournalistischen Themen wie Genres oder Dekaden“

tipBerlin Es ging ja darum, warum das Konzept der radioeins-„Sommersonntage“ nicht einfach so zu kopieren ist.

M.C. Lücke Das ist eben, wie ich gerade gesagt habe, das ist erstens die spezielle Zusammensetzung der Jury. Zweitens hat sich herausgestellt, auch zu meiner Überraschung, dass die bunten Themen, ich apostrophiere, am besten funktionieren. Also die „100 besten Städte“, die „100 besten Farben“, „100 beste Namen“. Da kommen skurrile Listen bei raus. Ich glaube, dass das den Leuten mehr Spaß macht als die rein musikjournalistischen Themen wie Genres oder Dekaden. Die haben auch immer eine große Rolle gespielt, aber noch beliebter sind eben die bunten Themen. Und das dritte ist die Online-Darstellung, die sozialen Medien und die Online-Auftritte und was da im Netz passiert. Allein die ganzen Fotos von den Jurorinnen und Juroren, die sind pünktlich um 9 Uhr da und man klickt die an und dahinter ist die persönliche Top Ten. Das ist so ein schönes spielerisches Element, was gut zu den Charts passt. Das sind die drei Erfolgsgaranten.

tipBerlin Es ist auch so, dass ihr mit einer 150-köpfigen Jury tief in der Stadt drin seid, irgendjemand kennt immer irgendwen aus der Jury. Ich bin auch dabei und werde privat darauf angesprochen.

M.C. Lücke Das ist schon verrückt, es gibt Jurymitglieder, die sagen, so schön, bei euch mitzumachen, weil meine Freunde in Hannover hören das auch und die reagieren dann immer sofort auf meine Geschichten. Oder Thees Uhlmann hat mich angerufen und gesagt, Micha, hör mal, irgendwie läuft das komisch. Ich habe vor sechs Wochen meine neue Platte veröffentlicht, aber ich kriege nur Anrufe wegen meiner Gastbeiträge bei den „Sommersonntags“- Charts. Das sind alles super Geschichten, wo du dann auch merkst, da ist wirklich was Tolles entstanden, womit ja keiner gerechnet hat.

M.C. Lücke: „Ich würde zum Beispiel sehr gerne Dark Wave machen“

tipBerlin Wie findet Ihr eigentlich Eure Themen?

M.C. Lücke Es wird immer schwieriger. Bei den Dekaden gibt es nur noch die 1950er-Jahre, dann hätten wir alle Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Genres haben wir auch eigentlich alle. Man kann zum Beispiel leider nicht Jazz machen. Die Stücke sind einfach zu lang und wir müssen ja bei dem „Top 100“-Format bleiben und John Coltrane ausblenden, wäre natürlich auch scheiße. Reggae würden wir total gerne machen, aber es gibt ja nicht einen zweiten Künstler, der auch nur annähernd an Bob Marley rankommt und von den 100 Songs sind wahrscheinlich 50 von Bob, das ist auch schlecht. Also haben wir da Grenzen, aber sonst haben wir alle Genres der populären Musik abgeklappert. Jetzt kann man nur noch spezielle Sachen machen. Ich würde zum Beispiel sehr gerne Dark Wave machen.

tipBerlin Aber du entscheidest darüber nicht allein?

M.C. Lücke Festgelegt wird das innerhalb der radioeins-Musikredaktion, da sind dann etwa zehn Leute beteiligt und da muss man dann immer für sein Thema kämpfen. Das wird schon demokratisch entschieden. Unser Juror Christian Seidl von der „Berliner Zeitung“ ist einer, der unheimlich kreativ ist. Er schickt mir jedes Jahr zig Vorschläge, die er mit seiner Familie im Urlaub ausgetestet hat. Die fahren im Auto und haben die Themen und gucken, ob sie dazu Songs finden.

tipBerlin Ich schlage auch mal ein Thema vor. Was sagst Du zu: 100 Songs über „Gegenstände“?

M.C. Lücke Finde ich gut, ist jetzt nicht so sexy vom Titel her. Aber an sich ist das Thema sehr gut. Aber genauso ist es, du machst mir einen Vorschlag und ich habe eine Longlist oder wir haben eine allgemeine Longlist und so kommen die Themen zusammen. Auch über die sozialen Medien kamen hunderte von Vorschlägen. Also ich habe schon die Hoffnung, dass das weitergeht, aber es ist auch schwierig: ist das Thema zu speziell, wird es der Jury gefallen, kommen genug Songs zusammen. Du brauchst ein Thema, das größere Schnittmengen von Songs hat. Das heißt, es gibt Themen, die geben das nicht her, etwa abstrakte Listen wie „Songs zum Autofahren“. Also ich glaube schon, dass es dünner wird, aber im Gegensatz dazu würde stehen, dass wir die letzten zwei, drei Jahre eigentlich die beste Auswahl präsentiert haben, wo die Juroren am meisten Spaß dran hatten.

tipBerlin Dieses Jahr ist die Auswahl mit „Arbeit“, „Verbrechen“ oder „Britpop“ auch nicht schlecht.

M.C. Lücke Ja, dieses Jahr ist auch gut, aber wir können immer noch viele Themen gebrauchen und werden immer mit den Hörern und Hörerinnen zusammenarbeiten. Da kommst du manchmal gar nicht auf so verrückte Sachen wie zum Beispiel „Ja-Nein-Songs“ oder sowas. Aber dann stellt man sich wieder die Frage: Ist das irgendwie für die Jury machbar? Die Jury, das möchte ich auch mal sagen, ist für mich der eigentliche Star und natürlich die Listen, die von der Jury erstellt werden. Die sind richtig gut. In diesem Jahr kommt noch der „Sommersonntag“ zum Thema „Eat it – 100 beste Songs über Essen“. Da packst du dich weg! Ich war anfangs dagegen, weil die Songs, die mir dazu einfielen, mir öde erschienen. Und dann bin total geflasht von dieser „Top 100“-Liste, die da zusammengekommen ist, die ist so skurril und so bunt und so lustig.

David Bowie war der Running Gag, am Anfang jedenfalls

tipBerlin Man muss vermutlich auch aufpassen, dass sich innerhalb der Listen nicht zu viele Songs doppeln. Nach dem Motto, jetzt gewinnt schon wieder David Bowie …

M.C. Lücke Bowie war der Running Gag, am Anfang jedenfalls, jetzt ist es Joy Division, die haben auch schon zweimal gewonnen. Einmal haben wir die „100 besten Filmsongs“ gemacht und die Filmsongs sind teilweise wieder bei den „100 besten Instrumentalsongs“ aufgetaucht. Da hört die Fangemeinde genau zu und die wollen keine Doppelungen. Deswegen haben wir jetzt auf radioeins.de eine Leiste mit allen Rubriken und allen Gewinnern der letzten Jahre und außerdem sind die Sendungen ab sofort auch in der ARD-Audiothek zu finden.

Anmerkung: tip-Musikredakteur Jacek Slaski ist Juror bei den radioeins-„Sommersonntagen“

  • Die „Sommersonntage“ laufen bis zum 1. September jeden Sonntag auf radioeins. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite des Senders.

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