Interview

Tara Nome Doyles Album „Værmin“: Schatten und Spinnen

Auf ihrem neuen Album „Værmin“ singt Tara Nome Doyle über Tiefenpsychologie und unerwünschte Tierchen – der nächste Schritt der Berliner Musikerin mit norwegisch-irischen Wurzeln Richtung Weltkarriere. Wir haben den Nachwuchsstar in einer Berliner Raucherkneipe getroffen.

Tara Nome Doyle singt auf ihrem neuen Album „Værmin“ über Tiefenpsychologie und unerwünschte Tierchen. Foto: Sonja Stadelmaier

Tara Nome Doyle: Vom Café in die Raucherkneipe

Damals veganes Café, jetzt Raucherkneipe. Fast auf den Tag genau zwei Jahre her ist das letzte tipBerlin-Interview mit Tara Nome Doyle; das Ambiente könnte kaum unterschiedlicher sein. Die heutige Ortswahl – eine Notlösung. Die 24-Jährige, die an einem Fensterplatz sitzt und Bergtee bestellt, wirkt wie ein exotischer Fremdkörper neben den älteren Herren mit Bart, die qualmen, Zeitung lesen, manchmal neugierig herüberäugen.

Ihre Haare sind anders als früher: cooler Vokuhila statt mädchenhafter Hochsteckfrisur. Ansonsten scheint die Songwriterin angenehm unverändert. Freimütig und mit fast kindlicher Aufgeregtheit erzählt sie von „Værmin“, dem Nachfolger ihres hochgelobten 2020er-Debüts „Alchemy“. Es ist ihr erster internationaler Release. Vielleicht der nächste Schritt zur Weltkarriere. Und zugleich ein forderndes, vielschichtiges Werk mit ungewöhnlichen Protagonisten: krabbelnden, kriechenden, flatternden.

Musik dient Tara Nome Doyle als Therapie

Schon als Kind habe sie gerne Schnecken und Spinnen gesammelt und nach Hause getragen, erinnert sich Tara Nome Doyle, die als Tochter irisch-norwegischer Eltern im Stadtteil Kreuzberg aufwuchs. Später entwickelte sie eine Faszination für Psychologie. Und für Konzeptkunst. Auf „Værmin“ – eine Verschmelzung des englischen „vermin“ (Ungeziefer) und des norwegischen „vær min“ (sei mein) – trifft all das aufeinander. Schon „Alchemy“ folgte einer Erzählung: Im Fokus stand die Angststörung, die Tara Nome Doyle seit ihrer Teenagerzeit begleitet und derentwegen sie als 16-Jährige kaum das Haus verlassen konnte. In theatralen, aber nicht überladenen Artpop-Stücken zeichnete sie an Gesang und Klavier ihren Heilungsprozess nach und bediente sich beim Vokabular des Psychoanalytikers C.G. Jung.

Tara Nome Doyle geht mit ihrem neuen Album „Værmin“ einen weiteren Schritt in Richtung Weltkarriere. Foto: Imago/Votos-Roland Owsnitzki

Für „Værmin“ greift sie nun zu Jungs Vorstellung von den widerstreitenden Seiten einer Persönlichkeit: der „öffentlichen“, die wir der Welt präsentieren (Persona), und der „geheimen“, die wir verdrängen und verstecken (Schatten). Beider Verhältnis wird bei Tara Nome Doyle zu einer Liebesbeziehung ohne Happy End, metaphernreich erzählt anhand von Kriechtieren und Insekten, oft unerwünscht und doch unverzichtbarer Teil unseres Ökosystems. Da verkörpern Blutegel eine co-abhängige Beziehung, flattert die Motte um eine Flamme, umschlingt die Spinne mit langen Beinen ihr Gegenüber.

Neues Album „Værmin“: Gegen die Angst

Doyles anmutiger Sopran klingt stellenweise überraschend tief und rau. Um die gegensätzlichen Charaktere zu vertonen, mobilisierte sie für „Værmin“ eine neue, noch wenig erforschte Kraft: ihre Bruststimme. Für die Musikerin, gewohnt mit ihrer luftigen Kopfstimme zu singen, war die Entdeckung dieses härteren, körperlicheren Tons eine Offenbarung. „Weil sie am Anfang total untrainiert war, fühlte es sich an, als ob eine andere Person singt“, sagt sie. Auch heute noch vergleicht sie ihre Bruststimme mit einem „ungebändigten Tier“, das nicht immer das mache, was sie wolle. Perfekt also als Sprachrohr des „Schattens“. Diesen lässt Nome Doyle gleich im Opener mit einer selbstvergessenen Wildheit von der Leine, die einen wegbläst.

Noch mehr als zuvor wird ihre Stimme auf „Værmin“ zum schillernden Fixpunkt, der autoritär fordert, sanft schmeichelt oder als sakraler Mücken-Chor umherschwirrt. Nach dem von David Specht (Isolation Berlin) aufgenommenen „Alchemy“, das innerhalb einer Woche mit Band eingespielt wurde, schwebte Nome Doyle für Album Nummer zwei ein weniger indierockig grundierter Sound vor. Sie fand ihn beim englischen Produzenten und Multiinstrumentalisten Simon Goff, in dessen Studio beide über Monate hinweg an Taras neuen Kompositionen feilten.

Tara Nome Doyle im Gespräch: „Ich bin keine Band“

Nur für Cello und Schlagzeug lud der gut vernetzte Goff Gäste aus Berlins internationaler Musikerszene hinzu. Ein Prozess, den sich Nome Doyle auch über Pandemie-Zeiten hinaus bewahren möchte. „Ich spiele meine Musik sehr gerne mit anderen Leuten. Aber ich bin keine Band.“ Und so sind die Gitarren aus dem Klangbild verschwunden, stattdessen verströmt „Værmin“ mit feierlichem Gothic-Pop, kammerorchestralen Chansons und Ambient-haften Drones noch mehr Weite und Majestätik als sein Vorgänger.

Dass Nome Doyle lieber im kleinen Rahmen und ohne Zeitdruck arbeitet, wundert nicht. Ihre Angststörung hat die Berlinerin dank Meditation und mehr Achtsamkeit inzwischen ganz gut im Griff. Und doch lauert sie wie ein Schatten oder ein lichtscheues Krabbeltier im Hintergrund, leicht aufgescheucht durch viel Tumult.

Als Corona im Frühjahr 2020 die Geschäftigkeit um den Debüt-Release jäh ausbremste, brachte die Zwangspause für Tara Nome Doyle auch ein Gefühl der Erleichterung. „Das war stressmäßig hart an der Grenze“, sagt sie. Gleichzeitig barg der Lockdown Gefahren. „Don’t try to flee / Embrace quarantine / You don’t need friends /  You just need me“, flüstert die Raupe im Lied „Caterpillar“, stellvertretend für die Verführungskraft einer Depression. Ist Zuhausebleiben das Gebot der Stunde, hat sie besonders leichtes Spiel. „Normalerweise ist ein Druck da: ‚Okay, um mein normales Leben zu führen, muss ich hier raus.‘ Aber diesen Alltag gab es nicht.“

Tara Nome Doyle: „Alles hat einen Fluss. Und ich glaube, den muss man ehren“

Die Treffen mit Simon Goff verliehen ihrem Leben wieder Struktur. Und während geplante Seitenprojekte wegbrachen, erschienen neue auf der Bildfläche. Mit dem italienischen Neoklassik-Komponisten Federico Albanese veröffentlichte sie die EP „The Moments We Keep“. Und für die Netflix-Produktion „Munich – The Edge of War“ schrieb sie ihren ersten deutschsprachigen Song.

Tara Nome Doyle beim Pop-Kultur-Festival in Berlin. Foto: Imago/Votos-Roland Owsnitzki

In einer Filmszene trägt sie „Du träumst“ sogar live vor und ist mit kinnlanger, lockiger Bob-Frisur kaum wiederzuerkennen. „Wie eine Zeitreise“ seien die Dreharbeiten gewesen, schwärmt sie. Gerne erinnert sie sich auch ans letztjährige Pop-Kultur-Festival in Berlin, bei dem sie „Værmin“ gleich sechs Mal aufführte, mit Begleitband und einem selbstentworfenen Bühnendesign aus Spiegeln. Ein Sinnbild für den Facettenreichtum des Ichs.

Künftige Liveshows stehen dagegen noch in den Sternen. Ein Release-Konzert wurde wieder abgesagt. Dafür erscheint die aktuelle Platte über einen Majorvertrieb auch im Ausland und Nome Doyle beantwortet neuerdings E-Mail-Interviews aus Japan. „Alles hat einen Fluss. Und ich glaube, den muss man ehren“, sagt sie an einer Stelle des Gesprächs. Keine Frage: Bei Tara Nome Doyle ist vieles im Fluss. Und weder Pandemie noch Schatten können das aufhalten.

  • Tara Nome Doyle „Værmin“, veröffentlich am 28.01. über Modern Recordings/BMG

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