Gitarrenrock mit feministischem Einschlag: Gerade erschien mit „Mondscheinpsychose, Bordsteinrose“ das dritte Album von Sandra und Kersty Grether aka The Doctorella. Wir trafen die Schwestern zum Gespräch über ihre musikalische Neuorientierung, Einflüsse von Aggro Berlin bis Nirvana, die Bedeutung weiblicher Sichtbarkeit in der deutschen Musikszene und die persönlichen Geschichten, die ihre neuen Songs prägen.
The Doctorella: Raus aus der Verniedlichung
tipBerlin Von Doctorella zu The Doctorella – warum habt ihr euren Namen geändert?
Sandra Grether Wir wollten dem Namen ein bisschen mehr Nachdruck verleihen. Doctorella ist irgendwie so ein kleiner Name. Dabei haben wir ihn ursprünglich als ganz groß empfunden – das weibliche Pendant zu den Ärzten vielleicht! Wir wollten uns aus dieser Verniedlichung lösen.
tipBerlin Geht mit dem neuen Namen auch in eine gewisse künstlerische Neuorientierung einher?
Sandra Grether Auf jeden Fall. Der Witz an dieser Neuorientierung ist, dass wir live schon immer viel härter waren als auf Platte. Die letzten Platten waren ein bisschen poppiger, mehr Americana, Folk. Die erste Platte erschien 2012, die zweite 2016, damals war Gitarrenrock einfach out. Aber ich spiele einfach immer schon total rockig Gitarre. Das klingt auf der neuen Platte wie eine Art Neuorientierung, aber eigentlich ist es für mich das, was ich schon immer machen wollte.
Kersty Grether Unser neuer Schlagzeuger und Produzent Daniel Benyamin war von der emotionalen Bandbreite und Melodiosität unserer ersten beiden Platten geflasht, und er meinte: „Wenn ihr das jetzt in Noise-Rock und Garage packen würdet, wärt ihr nicht mehr zu toppen.“ Bei früheren Alben haben wir oft viele Instrumente gleichzeitig eingesetzt, was die einzelnen Sounds jedoch abgeschwächt hat. Jetzt konzentrieren wir uns darauf, die Musik roher und kraftvoller zu halten, sodass die Emotion und die Poetik besser zum Ausdruck kommt.
Was auf der neuen Platte wie eine Art Neuorientierung klingt, ist eigentlich für mich das, was ich schon immer machen wollte. – Sandra Grether, The Doctorella
tipBerlin Welche Einflüsse haben euren Sound am meisten geprägt?
Sandra Grether Ich würde sagen, bisher sind diese Zwanziger fast mein Lieblingsjahrzehnt in der Musik! Ich habe das Gefühl, dass gerade Frauen so viel experimentieren und auch viel weirdes Zeug machen. Ich bin zum Beispiel riesiger Fan von Wet Leg, Dry Cleaning und Illuminati Hotties.
Kersty Grether Ich bin schon immer Fan von Deutschrap, also alle Richtungen. Ich habe auch Aggro Berlin gern gehört. Im Indie-Bereich mag ich die Texte in der Regel einfach nicht, die Hamburger Schule mal ausgenommen. Die reimen immer noch „blue“ auf „true“. Dann habe ich irgendwann ein Interview gelesen mit Butch Vig, dem legendären Produzenten von Nirvana. Er wurde gefragt, wie würden denn Nirvana heutzutage klingen? Würden die sich überhaupt noch unterscheiden von anderen Bands? Er hat gesagt, ja, aber die müssten heute total vom Hip Hop beeinflusst sein und das irgendwie in Rockmusik überführen. Zudem müsste der Sänger auch noch als Schriftsteller tätig sein. Ich dachte: Wow, das ist ja genau das, was ich bin, was wir machen.
Sandra Grether Dann geschah ein kleines Wunder: Plötzlich trafen wir ständig Leute, die Verbindungen zur Szene in Seattle hatten. Jemand meinte: „Ihr wolltet doch ein neues Album machen und habt von dieser Nirvana-Geschichte erzählt. Ich kenne jemanden, der die Gitarren produzieren könnte – Craig Gray von der Band Lazy Giants – und zufällig ist er diesen Sommer in Berlin.“ Tatsächlich war Craig Gray dann mit uns im Studio. Die Gitarren klangen so krass, diese Feedbacks! So laut habe ich es im Proberaum noch nie erlebt.
Musik und Aktivismus: Wo bleibt die deutsche Riot-Grrrl-Bewegung?
tipBerlin Apropos laut: Eure Musik und euer politischer Aktivismus sind schon immer eng miteinander verbunden. Wie blickt ihr auf die Veränderungen der letzten Jahre, gerade was die Sichtbarkeit weiblicher Künstler:innen betrifft?
Sandra Grether Ich würde da erst mal einen Riesenunterschied machen zwischen der internationalen Szene und Deutschland. Wenn wir jetzt mal in unserem Segment bleiben, im deutschsprachigen Indie, sind weibliche Acts noch immer krass unterrepräsentiert. In London gibt es die tolle Postpunk-Szene, in den USA gewinnen Bands wie Boygenius einen Haufen Grammys, und hier? Wir haben jetzt 23 Ausgaben von „Ich brauche eine Genie“ gemacht und suchen dafür ja immer nach coolen, innovativen Künstlerinnen. Es ist nicht so, dass es in Deutschland weniger gute Musikerinnen gibt, aber wo stehen die? Jedenfalls nicht auf den großen Festivalbühnen.
Ich habe das Gefühl, dass die Leute sich immer noch schwer damit tun, Frauen alles zuzugestehen. – Sandra Grether, The Doctorella
Kersty Grether Deutschland hat beim Feminismus Fortschritte gemacht, besonders seit den 2010er Jahren, als die Bewegung hierzulande an Stärke gewann. Doch es ist enttäuschend, dass Bereiche wie Kunst und Musik nicht hinterher kommen. In den 90ern haben wir versucht, eine Riot-Grrrl-Bewegung in Deutschland zu starten, da kamen die Impulse dafür aus der Kunst- und Musikwelt. Es ist erstaunlich, dass der Feminismus mittlerweile fast überall präsenter scheint, nur nicht in diesen Bereichen.
Sandra Grether Ich habe das Gefühl, dass die Leute sich immer noch schwer damit tun, Frauen alles zuzugestehen. Klar, es darf irgendwo eine Rapperin geben, irgendwer anders – vermutlich ein Mann – macht die Beats. Es darf irgendwo eine Rockband geben, aber wer genau hat die Songs geschrieben? Naja. Sichtbarkeit ist wichtig. Ich frage mich, ob gerade jüngere Feministinnen denken: Gitarrenmusik, das ist doch was für alte weiße Männer. Und dann sehen sie vielleicht eine Gitarristin auf der Bühne und denken: Oh, das ist ja doch geil!
tipBerlin Also, ich habe mit zwölf angefangen Gitarre zu spielen, weil ich Avril Lavigne so toll fand.
Kersty Grether Das ist so lustig, dass du Avril Lavigne erwähnst! Ich bin nämlich in meinem Songwriting für dieses Album total von Avril Lavigne beeinflusst worden. Ich finde ihre Texte wirklich toll. Der Song „Girlfriend“ zum Beispiel, oder „Complicated“ natürlich! Beziehungen auf Augenhöhe, das ist ja eigentlich ihr Thema. Diese Songs habe ich alle letztes Jahr wieder neu entdeckt und den ganzen Tag gehört.
Songwriting bei The Doctorella: Ist das Persönliche politisch?
tipBerlin Wie entsteht denn ein typischer The Doctorella Song? Spiegeln eure Texte persönliche Erlebnisse wider?
Kersty Grether Ich hatte für dieses Album schon vier oder fünf Stücke komplett fertig geschrieben. Dann hatte ich eine ganz große Erschütterung in der Liebe. In dieser Phase habe ich die alten Texte verworfen und komplett neu geschrieben. Das erschien mir dann einfach noch besser, dringlicher. Die Kreativität kam plötzlich wie ein unkontrollierbarer Wirbelsturm. Es ging nicht mehr darum, gute Songtexte zu schreiben, sondern ums Überleben.
Sandra Grether Mir fällt auf, dass ich Texte immer in dem Moment schreiben kann, wenn ich das Problem zum ersten Mal geblickt habe, aber noch völlig drin bin. Während meiner letzten beiden Beziehungen wollte ich keine Songs schreiben. Nach dem Ende der Beziehung habe ich sogar drei fertige Lieder weggeschmissen, weil es mich nicht mehr bewegt hat – auch wenn sie gut waren. Ich bin aber auch nicht der allergrößte Fan davon, so dezidiert am Biographischen entlang zu schreiben. Womit wir eigentlich auch schon wieder beim Gegenwartsdiskurs wären: Es nervt mich ein bisschen, dass es gerade so en vogue und selbstverständlich ist, dass Frauen Songs schreiben, als wäre es ihr Tagebuch. Denn eigentlich will man doch einen Song für die Ewigkeit – hast du das gestern nicht gesagt, Kersty?
Kersty Grether Ja, aber man kann auch aus dem Tagebuch für die Ewigkeit schreiben! (Lacht) Ich teile auf der Platte schon viel von mir und meinen Gefühlen. Der „Angstsong“ handelt von meiner Angststörung. In „Wer wagt, verliert“ versuche ich, meinem Vater das Patriarchat zu erklären. Männer leben oft nach dem Motto „Wer wagt, gewinnt“. Aber für Frauen ist es oft auch so: Wer wagt, verliert. Ich fand das geil, weil man ja immer denkt, eine feministische Band muss natürlich sagen, wer wagt, gewinnt! Das ist Empowerment! Aber manchmal kann es auch Empowerment sein zu sagen: Nein, es läuft immer noch scheiße.
- The Doctorella Mondscheinpsychose, Bordsteinrose (Bohemian Strawberry)
- Schokoladen Ackerstr. 169, Mitte, Mi 20.11., 20 Uhr, VVK 12,60 €
Männlich dominierte Festival-Line-ups: „Dass keine Frau dabei ist, fällt oft nicht mal auf“, sagt Rike van Kleef, die die erste Studie zur Repräsentanz auf deutschen Festivalbühnen durchgeführt hat. Die mächtigste Frau in der deutschsprachigen Musikbranche ist Berlinerin: Wir haben Spotify-Chefin Conny Zhang zum Interview getroffen. Die amerikanische Singer-Songwriterin Joy Oladokun sprach mit uns über Verletzlichkeit, Musik als Aktivismus und ihre Erfahrungen als queere Schwarze Person in der Country-Szene, einem Genre, das noch immer weiße Männer bevorzugt. „Das Album ist eine Liebeserklärung an Berlin, vielleicht noch mehr als das erste“, sagt Paula Hartmann. Wir trafen sie kurz vor der Veröffentlichung von „kleine Feuer“ zum Interview. Wie läuft’s in Dubai? Rapper Bushido im Interview über seine letzten Shows und die Zukunft im Rapgame. Bloß nicht verpassen: Unsere Konzerte der Woche und die schönsten Festivals in und um Berlin. Immer gut über das Leben in Berlin informiert: Abonniert jetzt unseren wöchentlichen tipBerlin-Newsletter. Was ist noch los? Hier sind die besten Veranstaltungen heute in Berlin. Bisschen vorplanen: Alle Konzert-Tipps fürs Wochenende in Berlin findet ihr hier.