Interview

Throbbing Gristle – Live at the Volksbühne. Gespräch mit Christoph Gurk

20 Jahre nach dem längst legendären Doppelkonzert der englischen Industrial-Pioniere Throbbing Gristle in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz veröffentlicht Mute die Aufnahmen. Anlässlich von Throbbing Gristles „Live at the Volksbühne Berlin, New Year’s Eve 2005“ sprachen wir mit Christoph Gurk, der damals in seiner Funktion als Musikkurator an der Volksbühne das Konzert der kultisch verehrten und bis heute extrem einflussreichen Formation um Genesis P-Orridge initiierte.

Throbbing Gristle live in der Volksbühne, 2005/2006. Foto: Paul Heartfield
Throbbing Gristle live in der Volksbühne, 2005/2006. Foto: Paul Heartfield

Throbbing Gristle fanden nach 20 Jahren wieder zusammen

2004 fanden sich Throbbing Gristle – Chris Carter, Cosey Fanni Tutti, Genesis Breyer P-Orridge (1950-2020) und Peter ‚Sleazy‘ Christopherson (1955-2010) – nach 20 Jahren wieder zusammen. Nach Konzerten in London und Turin kam es zu einem Auftritt in Berlin. Neben zwei Konzerten zum Jahreswechsel 2005/06, einem „regulären“ mit Stücken aus dem Oeuvre der Band und einem mit einem improvisierten Set zu Derek Jarmans experimentellen Sci-Fi-Film „In the Shadow of the Sun” fanden parallel eine Ausstellung in den Kunst-Werken sowie ein Filmscreening im Arsenal statt. Christoph Gurk, der damals unter anderem das Musikprogramm in der Volksbühne verantwortete, hat das Projekt angestoßen.

tipBerlin Herr Gurk, wieso sind Throbbing Gristle wichtig?

Christoph Gurk Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Einfluss dieser Gruppe auf nachfolgende musikalische Entwicklungen nicht geringer war als im Falle von, sagen wir, Velvet Underground. Genres wie Industrial, Techno oder Noise wären ohne ihre Vorarbeit in dieser Form undenkbar. Gleichzeitig ist ihre Ästhetik aus heutiger Sicht nur noch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Ihre Musik das Produkt einer Zeit war, in der es musikalisch und kulturell sehr viel um Zuspitzung, Überschreitung, Tabubruch ging. Throbbing Gristle wurden 1976 gegründet, kurz bevor sich Punk und New Wave durchsetzten. Vorher hatten die Protagonist:innen eine mehr im Bereich der Bildenden Kunst angesiedelte Performancegruppe betrieben, COUM Transmissions. Was hier passierte, war ein Aufstand gegen die Tristesse, gegen die öde, normierte Alltagskultur der Nachkriegszeit. Der deutsche Faschismus war erst vor gerade mal 21 Jahren besiegt worden. Die Traumata dieser Ära wurden sorgfältig bemäntelt.

tipBerlin Das Londoner Studio von Throbbing Gristle hieß in den Anfangstagen Death Factory, ein Begriff, der die NS-Zeit ahnen lässt. Geht es Ihnen um solche Verbindungen?

Christoph Gurk Ja, bei Throbbing Gristle gab es immer wieder Anspielungen und Referenzen, ähnlich wie etwa bei Joy Division. Deren Bandname verweist bekanntlich auf die sogenannte „Vergnügungsabteilung“, die Bordelle in den Konzentrationslagern. Throbbing Gristle waren noch ambivalenter und abgründiger. Ihrem Label gaben sie den Namen Industrial Records. Es ging ihnen, verkürzt gesagt, um die industrialisierte Moderne als dystopischem zeitgeschichtlichem Raum. Vielleicht ein wenig im Sinne von Theodor W. Adorno oder Giorgio Agamben. In der Aufklärung, in der Emanzipation des bürgerlichen Subjekts, war ihr vermeintliches Gegenteil, die Barbarei, das Lager, die Fähigkeit zum massenhaften Genozid, latent angelegt.

Throbbing Gristle live in der Volksbühne, 2005/2006. Foto: Paul Heartfield
Throbbing Gristle live in der Volksbühne, 2005/2006. Foto: Paul Heartfield

tipBerlin Die dunkle Seite der Moderne?

Christoph Gurk Throbbing Gristle haben selbst nie nationalsozialistische Ideologie vertreten. Das ist wichtig. Die Gruppe war an Transgression im weitesten Sinne interessiert. Nicht zu vergessen, sie waren Teil einer queeren, schwul-lesbischen Szene, in einer Welt von SM und Fetischkultur unterwegs, in der es immer einen Umgang mit darken Zeichen, mit Dominanz und Unterwerfung gegeben hat und gibt. Transgeschlechtlichkeit war für Throbbing Gristle ein ständig wiederkehrendes Thema und für die Mitglieder mit hohem existentiellem Einsatz verbunden. Velvet Underground haben das, zehn Jahre zuvor, vielleicht als erste, in die Sprache der Rockmusik eingeführt. Explizite Bezüge zum Nationalsozialismus und seiner Symbolik gab es bei denen meines Wissens aber nicht.

tipBerlin Throbbing Gristle ist auch für West-Berlin von Bedeutung gewesen, es gab frühe Konzerte um 1980 im SO36, der Regisseur Jörg Buttgereit war ebenso von der Wirkung der Auftritte beeinflusst wie der Mitbegründer von Die Tödliche Doris, Wolfgang Müller. Sehen Sie eine solche Berlin-Verbindung bei Throbbing Gristle?

Christoph Gurk Absolut. Man darf ja nicht vergessen, dass die amtliche Fassung von „Discipline“, dem Stück, „I want some discipline in here“, ein Live-Mitschnitt aus dem SO36 ist. Der Mythos Berlin, die Mauer und die Schrecken der Vergangenheit, das war für die natürlich interessant. Wenige Jahre zuvor hatte ja David Bowie hier seine „Thin White Duke“-Phase ausgelebt. Unser Event in der Volksbühne – 2005/06 – war wiederum stark in die inzwischen entstandene Nachwende-Elektronik-Techno-Welt eingebunden. Darf ich auch hier ein wenig aus den Tagebüchern erzählen?

tipBerlin Ja, bitte.

Christoph Gurk Als ich an der Volksbühne begann, das Musikprogramm zu machen, ging es natürlich auch darum, einerseits die Szene der Laptop-Musiker:innen zu berücksichtigen, die nach der großen Techno-Hause im Berlin der Nachwendezeit entstanden war. Es gab eine minimalistische Schule, die von, sagen wir, Pole über Carsten Nicolai zu Jan Jelinek reichte. Hartgesottene Noisegruppen wie Panasonic waren aus dem hohen Norden in die Stadt gezogen. Gleichzeitig gab es eine heute als Label fast vergessenen Strömung namens Electroclash mit Protagonist:innen wie T. Raumschmiere, der auch eine Schlagseite in Richtung Noise und Industrial hatte. Es gab immer mehr als weibliche gelesene Protagonist:innen – Gudrun Gut, sowieso, die war ja von Anfang an dabei, Ellen Alien, Barbara Preisinger, Leute wie Miss Kittin oder natürlich Peaches, die in der queer-feministischen Bewegung verwurzelt war und ist. Hinzu kam, dass Mute Record zuvor eine Dependance in Berlin eröffnet hatten und das bereits mit einem riesigen Event in der Volksbühne gefeiert hatten. Ich denke, es ist nicht zu viel gesagt, dass in dem Auftritt von Throbbing Gristle all diese Fäden und Linien ein stückweit zusammenliefen. Alle waren da. So kam es mir zumindest vor.

Throbbing Gristle live at the Volksbühne Berlin, New Year’s Eve 2005

tipBerlin Berlin als Techno-Stadt, die harte elektronische Musik aus den postindustriellen Ruinen, sozusagen. Ist das der Bogen zu Throbbing Gristle?

Christoph Gurk Ja. Hinzu kam, dass ich bereits 2002 ein Konzert mit Coil in der Volksbühne gemacht hatte. Das waren Peter „Sleazy“ Christopherson, der die legendäre Grafikagentur Hipgnosis betrieb, und der Sänger Jhonn Balance. Mit den beiden hatte ich also schon bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft geschlossen, als sie in weißen Hasenfellkostümen mit nachgebildetem Anus auf die Bühne kamen

„Es ging auch um Geld, das war damals gar nicht so wenig, was gefordert wurde“

tipBerlin So führte eins zum anderen und Throbbing Gristle kamen Ende 2005 nach Berlin?

Christoph Gurk Es gab um 2004 herum einen Reunion-Auftritt in London, den ich gesehen habe, genauso wie ein Konzert in Turin. Da war klar, die sind jetzt wirklich wieder aktiv. Paul Smith, der Manager der Band, kam auf mich zu und sagte irgendwann: „Okay, da könnte was möglich sein.“ Die geforderte Gage kam mir riesig vor. Heute wäre es ein Witz. Am Ende hat es geklappt.

tipBerlin Es war von Anfang an klar, dass es zwei Konzerte in der Volksbühne geben wird?

Christoph Gurk Genau. Sehr schnell ging es auch um die begleitende Ausstellung in den Kunst-Werken, die Markus Müller auf die Beine stellte und unmittelbar vor dem Event eröffnete. Stefanie Schulte-Strathaus vom Arsenal, das nicht zuletzt die in der Volksbühne verwendete Kopie des Derek-Jarman-Films imBestand  hatte, zeigte, ebenfalls vorher, „In The Shadow Of The Sun“ mit dem Originalsoundtrack von Throbbing Gristle und anschließender Diskussion. Am 31. Dezember selber begann der Abend mit einem bestuhlten Konzert von Big Bottom, einer in der Tradition der Minimal Music stehenden Londoner Band mit illustrem Line-up. Neben Susan Stenger, früher bei der Band of Susans, J. Mitch Flacko und dem Choreographen Michael Clark, in der Welt der Popkultur auch durch seine Projekte mit The Fall bekannt geworden ist, waren international renommierte Künstler:innen wie Angela Bulloch und Cerith Wyn Evans mit von der Partie. Im Anschluss wurde das Publikum auf die Hinterbühne gebeten. Da spielten Throbbing Gristle ein Stehkonzert, das seit kurzem auf Youtube recht gut dokumentiert ist. Am Neujahrsabend ging es weiter. Throbbing Gristle improvisierten in der bestuhlten Volksbühne zu einem Film von Derek Jarman, der in den späten 70er und frühen 80er Jahren in der gleichen Londoner Künstlerszene aktiv war.

tipBerlin Ganz banal gefragt, wie war das Konzert?

Christoph Gurk Ganz einfach: super, hochinteressant! Das kann man nun alles auf der nun bei Mute erschienenen Dokumentation hören. Es war eine Vollversammlung von allen möglichen Leuten, die damals mit elektronischer und experimenteller Musik hatten. Aber auch die Leute aus den 80er-Jahren, der Zensor, Jörg Buttgereit. Und dann haben wir alle Foyers aufgemacht und bis fünf oder sechs Uhr morgens Party gemacht. Es war ja Silvester.

  • Throbbing Gristle „Live at the Volksbühne Berlin, New Year’s Eve 2005“, Mute Records

Das 11-Track-Livealbum war zuvor ausschließlich als Teil der kürzlich erschienenen, vielfach gelobten Box „TG Berlin“ erhältlich, die unveröffentlichtes Material mehrerer Auftritte der Band in der Berliner Volksbühne rund um den Jahreswechsel 2005/2006 präsentierte.

Die Aufnahme entstand am 31.12.2005 bei der legendären Silvestershow von Throbbing Gristle – ein Auftritt, bei dem bereits fünf neue Songs vorgestellt wurden, die später auf dem 2007 erschienenen Comeback-Album „Part Two: The Endless Not“ veröffentlicht wurden – dem ersten Studioalbum der Band nach 27 Jahren.


Mehr Musik

Ausblick aufs Musikjahr 2025 in Berlin – die wichtigsten Konzerte des Jahres. Die Berliner Jazzszene pulsiert: Diese Jazz-Clubs und Jazz-Bars in Berlin servieren beste Klänge. Berlin und Musik passen einfach zusammen, wie die Berliner Hip-Hop-Geschichte in Bildern zeigen. Immer gut über das Leben in Berlin informiert: Abonniert jetzt unseren wöchentlichen tipBerlin-Newsletter. Was ist noch los? Hier sind die besten Veranstaltungen heute in Berlin. Bisschen vorplanen: Alle Konzert-Tipps fürs Wochenende in Berlin findet ihr hier. Zelt einpacken und los: Die Infos zu Musikfestivals in Berlin und rund um die Stadt.

Tip Berlin - Support your local Stadtmagazin