Kommentar

Aida Baghernejad über Till Lindemann, Rammstein und den Skandal

Für diesen Artikel habe ich dutzende Male neu angesetzt. Nicht, weil nicht nur mir, sondern vielen Berliner:innen die Band Rammstein so wichtig war – das war sie mal, aber auch mindestens genauso lange nicht mehr, – sondern weil sich die Ereignisse so überschlagen, dass man kaum hinterherkommt.

Till Lindemann, Frontmann von Rammstein, bei einem Konzert in Odense, Dänemark am 2. Juni 2023. Foto: Gonzales Photo/Sebastian Dammar
Till Lindemann, Frontmann von Rammstein, bei einem Konzert in Odense, Dänemark am 2. Juni 2023. Foto: Imago/ Gonzales Photo/ Sebastian Dammar

Rammstein dominieren die Schlagzeilen. Oder genauer: Till Lindemann

Es ist wohl an kaum jemandem vorbeigegangen: Rammstein dominieren die Schlagzeilen. Oder genauer: Till Lindemann. Was passiert ist, lässt sich schnell zusammenfassen: Die junge Irin Shelby L. veröffentlichte auf Instagram und Twitter Fotos von blauen Flecken, die sie sich, so glaubt sie, bei einem Rammstein-Konzert in Vilnius zugezogen hat. Dort sei sie von Alena M., die sich auf Social Media als „Casting-Director“ für Till Lindemann ausgibt, in die sogenannte „Row 0“, also den Bereich zwischen Publikum und Bühne, und auf die private Pre- und Aftershowpartys für Lindemann eingeladen worden.

Schon nach Konsum sehr weniger Drinks wäre sie übermäßig betrunken gewesen und sei mitten in der Show in einen Raum hinter der Bühne geführt worden, wo Till Lindemann erwartete, mit ihr Sex zu haben. Dazu kam es nicht, weil sie ablehnte. Lindemann aber soll aggressiv reagiert haben, da ihm ein anderer Mitarbeiter wohl zugesagt hätte, dass sie mit intim werden würde. Shelby L. glaubt, dass ihr Drink mit K.O.-Tropfen versetzt gewesen sein muss. Sie veröffentlichte ihre Anschuldigungen, woraufhin sich weitere Frauen meldeten, und erstattete mittlerweile auch bei der litauischen Polizei Anzeige.

Es kam, wie es oft kommt: Fans der Band griffen Shelby L. an, auch Lindemann-Exfreundin Sophia Thomalla äußerte sich dahingehend in der BILD und Alena M. forderte via Social Media dazu auf, sich öffentlich hinter die Band zu stellen, inklusive vorgegebener Hashtags. Nach einigen Tagen äußerte sich endlich auch die Mitglieder der Band: In ihrem ersten, knappen und gleichzeitig verklausulierten Statement stritten sie kategorisch ab, dass derlei Vorfälle wie aus Vilnius berichtet in ihrem Umfeld stattfinden konnten. Das zweite, einige Tage später, versprach für Sicherheit auf den Konzerten zu sorgen, rief die eigenen Fans dazu auf, die Frauen, die mit diesen Vorwürfen an die Öffentlichkeit gingen, nicht anzugreifen und bat darum, auch für Rammstein die Unschuldsvermutung geltend zu lassen.

Schnell waren mehrere Investigativteams deutscher Medien an der Recherche dran, unter anderem das Team von SZ und NDR, aber auch die WELT und weitere, die andere mutmaßlich Betroffene gesprochen haben. Und auch Frauen, die auf diesen Partys gelandet sind, melden sich, zuletzt etwa die Influencerin und Modeunternehmerin Kayla Shyx aus Berlin. Aus den Recherchen und Berichten ergibt sich ein Muster: Lindemann sollen vor, während und nach Konzerten Frauen, vor allem junge Frauen unter 30, für Sex zugeführt worden sein. Die Sache mit dem Consent, so berichtet mindestens eine der Frauen in der Süddeutschen Zeitung, sei dabei nicht richtig klar gewesen – sie sei aufgewacht und der Sänger habe auf ihr gelegen. Was da genau passiert sei, wäre ihr gar nicht klargeworden.

Rammstein-Vorwürfe: Die Vorfälle überschlagen sich

Die Vorfälle überschlagen sich mittlerweile, auch weil die Deutschlandkonzerte der Europatour Rammsteins anstehen, die Heimspiele. Los geht es schon am Mittwoch in München, mitte Juli stehen zwei Termine in Berlin auf dem Kalender, natürlich im Olympiastadion. Bundesfamilienministerin Lisa Paus fordert nun Awarenessteams auf Konzerten und Alena M. sei gefeuert worden und auf dem Rückweg in ihre russische Heimat.

Dabei lohnt es sich einen Schritt zurückzutreten: Wie zur Hölle konnte das passieren? Natürlich gilt für die Band und Lindemann die Unschuldsvermutung, insbesondere was die justiziablen Vorwürfe wie heimlich zugeführte K.O.-Tropfen in Drinks und sexualisierte Grenzüberschreitungen und Gewalt angeht. Dass es aber private Partys, vor allem für und mit Till Lindemann gegeben haben soll, dafür gibt es eindeutige Hinweise, etwa Diskussionen auf Fanforen und Rammstein-Redditgruppen, in denen sich Fans darüber austauschen, wie sie auf diese Partys kommen können (jung sein, weiblich sein und sich mit Alena M. gut stellen, könnte man den Tenor dort wohl zusammenfassen). Und Till Lindemann hat gerade in seinem Solowerk der letzten Jahre immer mehr und mehr den doppelbödigen Witz hinter sich gelassen, der Rammstein so ausgemacht hat (oder von dem man sich unter Fans und Feuilletonist:innen eingeredet hat, dass er diese Band ausmacht). Die hypervirile Kunstfigur, die auf der Bühne auf einem gigantischen Penis ritt, wurde immer als eigentliche wurstige Witzfigur enttarnt.

Schmeißen Fans die Tickets weg? Wird der Fall Rammstein Konsequenzen haben? Foto: Imago/MiS

Nur scheint die Grenze zwischen Kunstfigur und realer Person immer mehr verschwommen zu sein. Dazu müssen noch nicht einmal die Vorwürfe stimmen, Lindemann irritierte in den letzten Jahren schon mit gewalttätigen pornografischen Musikvideos, bei denen Laiendarstellerinnen zum Einsatz gekommen sein sollen, und er schloss seine Solokonzerte mit Aufnahmen, die ihn zeigen, wie er bei einem Rammstein-Konzert zwischen zwei Songs noch schnell Sex mit zwei Frauen hat. Er schrieb lobpreisende Gedichte nicht nur über den Einsatz von K.O.-Tropfen, sondern auch über Sexsucht, Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Der doppelte Boden, er weichte immer weiter auf zum Schlick, in dem jegliches Spiel mit der Ironie versank.

Der feinsinnige, schüchterne Poet, als der er sich öffentlich darstellte, der die Ehre von Freundinnen auch mal handgreiflich verteidigte, vor Fans „Reißaus nimmt“, wie ihn mal eine Rammstein-Reportage in der SZ beschrieb, der Pyro und Theater brauchte, um überhaupt eine Bühnenshow durchzustehen, und der für seinen Enkel Kinderbücher malte und dichtete, entwickelte sich wirklich zu dem unangenehmen Typen, den er eigentlich doch auf der Bühne einst persifliert hatte.

Rammstein sind untrennbar mit der Berliner Popgeschichte verbunden

Rammstein, sie sind nicht nur einer der mit Abstand erfolgreichsten – und in den Augen vieler: wichtigsten – deutschen Exportschlager, die Band ist auch untrennbar mit der Berliner Popgeschichte verbunden: Geboren wurden sie aus der Ostberliner Punkszene (eine der Vorgängerbands, Feeling B, war eine der wenigen Amateurbands, die noch in der DDR ein Album veröffentlichen durften, andere, wie Die Firma, agierten nur im Untergrund) und zusammengeschmiedet in Altbauruinen im Prenzlauer Berg Anfang der Neunziger. Wenn sie in Berlin spielten (1998 noch für eine legendäre DVD-Aufnahme in der „kleinen“ Wuhlheide, mittlerweile nur noch im Olympiastadion) war das schon immer ein Hohetag des Pops. Und auch, wenn der martialische Sound Rammsteins heute nur noch wenig mit dem zeitgenössischen, viel vielfältigeren Sound der Stadt gemein hat, ist ihre ironisch gespielte Härte ein Spiegelbild der Stadt. Ein Spiegelbild, das Rammstein, Berghain und Berliner Schnauze alle gemein haben.

Rammstein-Pop-Up-Kiosk in Berlin, April 2022. Foto: Imago/ Jan Hübner
Fans vor dem Rammstein-Pop-Up-Kiosk in Berlin, April 2022. Foto: Imago/Jan Hübner

Flake Lorenz, der Keyboarder, oder um den Titel seines ersten Buches zu zitieren, der „Tastenficker“ der Band, hat eine eigenen Sendung auf Radioeins, die nächste Folge, so heißt es aus Redaktionskreisen, sei schon aufgenommen. Ob sie aber gesendet wird? Noch unklar. Denn die Frage stellt sich auch: Was wusste die Band von den privaten Partys Lindemanns und den angeblichen Grenzüberschreitungen? Wir sprechen von sechs Männern, die sich teilweise seit 40 Jahren kennen und seit fast 30 Jahren zusammen als Rammstein auftreten. Die untrennbar miteinander, aber auch mit Berlin verwachsen sind.

Wie gehen wir als Stadtgesellschaft jetzt mit Rammstein um?

Wie gehen wir als Stadtgesellschaft jetzt mit Rammstein um? Wie gehen wir als Stadtgesellschaft mit den Vorwürfen um? Wie gehen wir mit Sexismus auf und hinter Bühnen um? Und wie gehen wir als Musikfans mit dem Umstand um, dass Till Lindemann, selbst wenn die teils justiziablen Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber jungen Fans und sexualisierter Gewalt doch nicht stimmen sollten, sich dennoch alle Mühe gibt, zu der Wurst zu werden, über die er sich einst lustig gemacht hat?

Diese Fragen werden wir nicht heute klären und auch nicht morgen, aber wir sollten sie uns als Berliner:innen und Popfans stellen. Denn ihre Antwort wird weit über den Fall Till Lindemann hinaus reichen.


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