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Musik-Blog: Die besten Klänge Berlins und Wunderbares aus der Welt

Egal ob kurz vor der großen Karriere oder schon eine ganz große Nummer: In Berlins Musikszene gibt es einiges zu entdecken. Unser Musik-Experte Stefan Hochgesand und seine Kolleg:innen geben euch Einblicke in wichtige neue Releases von Pop über Techno bis Experimentell, sprechen mit den Personen hinter der Klangkunst – und schauen natürlich auch immer mal wieder über die Stadtgrenzen hinaus. Lesen, hören, lieben – diese Woche mit LUNA und den Parcels.


Berliner Hip-Hop-Geschichte in Bildern: „Mein Zuhause, mein Block“

Was geht hier ab? Die Leute auf dem Breitscheidplatz bewundern einen Breakdancer. Foto: Imago/Jürgen Ritter

27.07.2021 Die Berliner Hip-Hop-Geschichte ist lang und es ist garantiert noch kein Ende in Sicht. Wir führen euch anhand von Bildern durch fast 40 Jahre Hip-Hop in der Hauptstadt. Natürlich kann hierbei nicht die ganze Komplexität der Subkultur und dazugehörigen Musikform dargestellt werden, jedoch werden euch einige bekannte Gesichter und Orte über den Weg laufen. Was ist also passiert seit 1984, als die ersten Berliner Breakdancer am Breitscheidplatz die Menge faszinierten? Seht es selbst in unserer Hip-Hop-Bilder-Reise zu Graffiti, deutsch-türkischen Rap-Formationen, Westberlin Maskulin, Aggro Berlin, Zeckenrap, Cloud-Rap und Trap. (Lennart Koch)


Die Parcels jammen in Australien: „Free (Live from the Silverton Hotel)“

Wie in den 70ern: Die Parcels machen funkige Feel-Good-Musik. Foto: Mia Rankin

22.07.2021 Für die Livesession zu „Free“, dem neuen Song der Parcels, hat sich die in Berlin lebende Band eine besondere Kulisse ausgesucht: Silverton ist ein winziger Ort im australischen Outback mit „50 Einwohnern, zwei verstaubten Straßen, ein paar Eseln, einem Pub, einer Bäckerei und unendlich viel Wüste drumherum“, erzählt die selbst aus Australien stammende Band. Der Betreiber des Silverton Hotels, einem Saloon, der genauso in einem Western auftauchen könnte, habe nicht glauben können, dass eine junge Band stundenlang durch die Wüste fahren würde, nur um eine kleine Livesession aufzunehmen. Die Anreise hat sich jedoch gelohnt.

Die Band jammt entspannt vor sich hin. Lässiger 70s Groove, verspielter Harmoniegesang, funky-Gitarre, Stevie-Wonder-Keyboards und beschwipst umherspringende Bassläufe passen einfach perfekt zu diesem verschlafenen Örtchen aus dem Bilderbuch. Die Bandmitglieder sehen passend zu ihrer Musik selbst so aus, als wären sie aus den 70er Jahren entsprungen. Die Bewohner:innen Silvertons stehen vor ihren Pickup-Trucks und können nicht so richtig glauben, dass da eine Musikgruppe mitten auf der Straße Musik aus einem längst vergangenen Jahrzehnt spielt, als wäre es das Normalste der Welt. Die Livesession von „Free“ versprüht tatsächlich Freiheit, Gemütlichkeit und gute Laune. (Lennart Koch)


„Lass dich nicht verbiegen“: LUNAs emotionale Außenseiter-Hymne „blau“

19.07.2021 Beim Aufwachsen in einem bayrischen Dorf merkt die Sängerin LUNA schnell, dass sie die Erwartungen, die ihr soziales Umfeld an junge Frauen stellt, nicht erfüllen kann. So muss sie sich früh daran gewöhnen, anders zu sein. Auf ihrer neuen Single „blau“ erzählt LUNA auf emotionale und sehr persönliche Weise von ihrem Coming Out und ihrem Weg zum Glück.

Selbstbewusst und einzigartig: LUNAS neue Single „blau“ ist eine wunderbare Außenseiter-Hymne. Foto: Tobias Zumak (Jay Music GmbH )

Die Reise beginnt in der Kindheit. „Schon im Kindergarten hab‘ ich blau getragen,
nur mit Jungs gespielt, ich passte nicht ins Bild“, singt LUNA. Später fragen sie die Klassenkameraden und sie sich selbst: „Wieso bist du anders?“ Aus Angst davor eine Außenseiterin zu sein, verstellt sich LUNA und hütet ihr Geheimnis, sogar vor ihren Eltern und der besten Freundin.

Doch LUNAs Mutter macht ihr Mut, einfach sie selbst zu sein: „Kind, lass dich nicht verbiegen, lass die Leute labern.“ Die Sängerin nimmt sich diese Worte zu Herzen, geht ihren eigenen Weg und findet Selbstbewusstsein in ihrer Einzigartigkeit. Sie ist stolz auf ihre Homosexualität, das Anderssein und vor allem auf sich selbst und lässt sich nicht mehr durch falsche gesellschaftliche Erwartungen und „all ihre Blicke“ verletzen oder einsperren. Im Endeffekt erkennt sie endlich: „Gott macht keine Fehler, ich weiß, dass er mich so gewollt hat.“

Dieser wunderbar intime und kraftspendende Text wird von einer melancholischen und gleichzeitig stolzen Power-Pop-Produktion untermalt. LUNAs selbstbewusster Gesang wechselt immer wieder von Singer-Songwriter-Melodien zu modernen Hip-Hop-Flows. Das Musikvideo repräsentiert den Song mit eindringlichen Bildern und einem herzzerreißenden Kontrast zwischen Krise und Glückseligkeit.

Insgesamt ist „blau“ eine berührende Außenseiter-Hymne und verkörpert Pride in allen Sinnen.  LUNA ziert übrigens gemeinsam mit Lie Ning das Cover der nächsten tip-Ausgabe und ist mit einem großen Interview in der Titelstory vertreten. Das Heft erscheint am Donnerstag und beschäftigt sich passend zum CSD mit Queerness in Berlin. (Lennart Koch)


Must-have beim Record Store Day: DJ Supermarkts „Too Slow To Disco: Yacht Soul – The Cover Versions“

16.07.2021 Der Berliner Marcus Liesenfeld alias DJ Supermarkt (die „Zitty“ nannte ihn den „Dude vom Disco-Discounter“) muss eine magische Antenne haben – oder gleich mehrere. Nicht nur hat er einst auf seinem Label das Berliner Duo Stereo Total (Rest in total stereo peace, Françoise Cactus!) in Berlin weltbekannt gemacht – nein, DJ Supermarkt schmeißt auch seit Jahren die uncoolste coole Party der Stadt: Er legt einfach (im angemessen runtergerockten Monarch am Kotti) die Musik auf, die er selbst früher nach Partynächten zum Runterkommen brauchte: Yacht Rock der späten Seventies, quasi die kalifornische Spielart von Disco. Fleetwood Mac wären wohl das bekannteste Beispiel, wobei DJ Supermarkt lieber unbekannte Raritäten auflegt, denen er seit Jahren auf Vinyl-Flohmärkten nachjagt. 

Auch Soul-Legende Aretha Franklin ist selbstverständlich auf der Yacht-Soul-Compilation vertreten. Foto: Imago/MediaPunch

Das Publikum bei den „Too Slow To Disco“-Partys ist überraschend jung, und man kann nur staunen, ob die Abi-Kids Fleetwood Mac für eine brandneue Band halten, so sehr wie sie drauf abgehen? „Too Slow To Disco“ war immer schon ein kleiner Etikettenschwindel. Sehr wohl taugen diese Yacht-Rock-Tracks als Tanzbodenknaller. Das gilt noch zwei Spuren mehr für die neueste Episode der an die Party angedockten gleichnamigen Compilation-Reihe: Hier treten Soul-Acts wie Aretha Franklin als Cover-Interpreten von Yacht-Rock-Klassikern auf. Wie auch beim Hi-NRG der 80s (dazu sei das aktuelle Buch des phantastischen Jens Balzer empfohlen) wird das Tempo bei diesem Soul im Vergleich zum Disco noch mal hochgeschraubt. Man spürt: Aktuelle Acts wie der Westcoast-Wahnsinnsbassist Thundercat haben sich an solchen Tracks geschult. Und wenn Betty Everytt im Vergleich zum Beach-Boys-Original die Hauptbetonung in „God Only Knows“ von „without“ auf „you“ verschiebt, versteht man diesen Hochzeitshit noch mal ganz neu.

Zum Record Store Day am 16. Juli (schöne Plattenläden empfehlen wir euch auch, nämlich hier) erscheint das Album als limitierte Dopple LP mit orangenem und gelbem 180 Gramm Vinyl und ausführlichen Linernotes. Ein Must-have! (Stefan Hochgesand)


Zwischen Berlin und Los Angeles: Der Rapper Black Prez mit seiner neuen Single „Häagen Dazs

15.07.2021 Der Rapper, Songwriter und Schauspieler Black Prez pendelt regelmäßig zwischen Los Angeles und Berlin hin und her. In seiner Musik zelebriert er beide Städte gleichermaßen, weshalb er sein neues Album, das am 13. August veröffentlicht wird, „Berla“ genannt hat. Black Prez hat bereits Shows mit großen US-amerikanischen Acts wie Wiz Khalifa und Big Sean gespielt und Songs zu Soundtracks erfolgreicher Filme, Fernsehserien und Videospielen beigesteuert.

Seine neue Single „Häagen Dazs“ könnte ein echter Party-Hit werden. Der Beat geht schonungslos nach vorne, die 808 zeigt in aller Härte, was sie kann und Black Prez tiefe Stimme und der abgehakte Flow erinnern an Mick Jenkins und Tyler, the Creator. Barbasauce ist als Feature auf dem Song vertreten. Der Produzent, Musiker und Songwriter hat das ganze Album produziert und dadurch eh schon Respekt für die scheppernden Beats verdient. In der zweiten Strophe von „Häagen Dazs“ zeigt er auch noch, was er Rap-technisch drauf hat. (Lennart Koch)


Chris Zippel & Yoram Roth mit ihrem neuen Soundfeuerwerk „Koudooni“

Beste Kumpels: Yoram Roth (vorne) und Chris Zippel (hinten) sind ein eingespieltes Electro-Produzenten-Dup. Foto: Anna Schroeder

14.07.2021 Wie gut Chris Zippel im Produzieren von elektronischer Musik ist, zeigt schon die Bandbreite an Acts, mit denen er erfolgreich zusammengearbeitet hat. Hochkaräter wie die Pet Shop Boys und Paul Van Dyk vertrauten auf seine hervorragenden soundtechnischen Fähigkeiten und wurden nicht enttäuscht.  
Der Berliner Komponist, Produzent und Unternehmer ist stark mit der Techno-Szene seiner Geburtsstadt verbunden. So gründete er bereits 1992 gemeinsam mit Thomas Jost, Nico Mesterharm und Yoram Roth das einflussreiche elektronische Independent-Label D’vision Netcom und spielte anschließend legendäre Sets in den wichtigsten Berliner Clubs und auf der Loveparade. Seit den 90ern ist viel passiert, aber Chris Zippel ist der elektronischen Musik treu geblieben. Genauso wie der Fotograf und erfolgreiche Kultur-Unternehmer Yoram Roth, mit dem er sein neues Werk „Koudooni“ produziert hat.

Der Single liegt ein gut zwei Minuten längerer Extended Mix bei, der sich für den Aufbau mehr Zeit lässt. Hierbei ist man für jede Sekunde dankbar. Denn der Sound ist unglaublich und „Koudooni“ bleibt daher über sechs Minuten lang spannend. Minimalistische Arpeggien und dezent vorantreibende Drum-Computer-Beats bilden das atmosphärische Grundgerüst, nach einer Weile setzt eine mächtige Kick ein, die Drums werden wilder, automatisch kommen ekstatische Tänzer:innen im Flackerlicht in den Sinn. Eine glockenartige Lead-Melodie schwebt über dem groovenden Sound und erzeugt eine traumartige Stimmung. Die Hintergrund-Arpeggien werden erst lauter und dann plötzlich leise, um Platz für ein Monologs-Sample zu schaffen, das einige Sätze sagt, bevor das Instrumental wieder in den Vordergrund tritt und das Soundfeuerwerk „Koudooni“ nach und nach ausklingt… Bis man den Track wieder von vorne startet. (Lennart Koch)


Tristan Bruschs „Der Abschaum“: Ein Chanson für Berlin

Tristan Brusch bringt frischen Wind in den deutschsprachigen Chanson-Pop. Foto: Imago/Future Image

09.07.2021 Eine gezupfte Chorus-Gitarre, ein getragener 6/8-Takt und melancholischer Gesang mit angenehm ironischem Unterton: Tristan Bruschs neuer Song „Der Abschaum“ erinnert zwangsweise an französische Chansons, besser gesagt an Bands wie Element of Crime, die seit Jahrzehnten Chansons auf deutsch schreiben. Auch die alltäglichen Lyrics über eine dönerbrotessende „Taube am Bahnhofsplatz“, „ein Mäuschen im U-Bahnschacht“ und eine kannibalische „Ratte unten am Kanal“ (wer kennt sie nicht, die Ratten am Maybachufer?) rufen wunderschöne Zeilen von Sven Regener ins Gedächtnis, wie er sie schon lange nicht mehr geschrieben hat.

Der Wahlberliner Tristan Brusch ist aber keinesfalls ein Imitator, viel mehr bringt der in Gelsenkirchen geborene Musiker frischen Wind in den deutschsprachigen „Chanson“. Seine teils äußerst humorvollen und dann wiederum bittersüßen Texte können zum Schmunzeln bringen und trotzdem eine angenehme Melancholie hinterlassen, nach der sich Fans von Element of Crime oder Gilbert Bécaud sehnen. Der Berlinbezug in „Der Abschaum“ wird zwar nicht eindeutig benannt, jedoch können bestimmt viele Berliner:innen ihre eigenen Assoziationen zu dieser dreckigen und doch irgendwie liebenswerten Stadt finden, von der Tristan Brusch so herrlich singt.

Der Refrain öffnet sich in einem dezenten Bombast, der mit seinen perfekt an der Grenze zum Kitsch liegenden Dur-Moll-Wechseln den Chanson-Charakter unterstreicht. „Warum kann ich nicht lieben, was alle anderen lieben?“ klagt Tristan Brusch. Denkt man wieder an Berlin, kommen bestimmt Orte in den Sinn, an denen man sich das auch schonmal gefragt hat. (Lennart Koch)


Frische Brise: Breezys Debütalbum „Schwarzfahren“

08.07.2021 Viel rumgekommen ist Breezy schon immer. Kein Wunder, dass sie an Berlin besonders die hier gelebte Multikulturalität und das Gefühl, mittendrin zu sein, schätzt. Von einer US-Amerikanerin ausgesprochen ein besonders schönes Kompliment an unsere Stadt. Nach Berlin kam Breezy nach ihrem Bachelorabschluss, angezogen von den im US-Metropolenvergleich noch halbwegs bezahlbaren Mieten und der Möglichkeit, Musikproduktion zu studieren. „Ich liebe, wie schmutzig, wie anarchisch und wie feministisch Berlin ist“, sagt sie dem tip. Ihr Debüt-Album „Schwarzfahren“ klingt, als hätte sie genau diese Liebe in Musik gegossen.

„Black Brown Berlin“: Breezy beschäftigt sich mit Schwarzen und queeren Lebensformen im Kontext eines berlinspezifischen Lebensgefühls. Foto: Rhys Anderson

Das an Kollabos reiche Album erscheint zunächst sehr experimentell, auch weil fast jeder Song ein ganz eigenes, zumeist unkonventionelles Konzept verfolgt. Auf den luftigen Hip-Hop-Beats ertönt immer wieder auch Soul- und Gospel-Gesang, sodass ein erquickend lässiger Sound entsteht, der im Endeffekt ganz wunderbar zur Hauptstadt passt. Die ist ja auch oft gerne experimentell. Neben dem Berlin-Sound, der auf fast jedem Song des Albums in einem ganz eigenen Gewand daherkommt, sind vor allem die thematischen Schwerpunkte das verbindende Element des Albums. Ihr Ziel mit dem Album war es, einen musikalischen Raum für Schwarze, Frauen  und queere Musiker:innen aus Berlin zu schaffen. So wundert es nicht, dass Race und Gender die tragenden Themen des Albums sind. Themen, die für Breezy als queere Tochter eines Schwarzen und eines weißen Elternteils auch ganz persönlich von hoher Relevanz sind.

Die Beschäftigung mit Schwarzen und queeren Lebensformen im Kontext eines berlinspezifischen Lebensgefühls macht „Schwarzfahren“ zu einem spannenden und aufregenden Album und funktioniert auf keinem Song besser als auf „The Berlin Poem“. Für ihn hat Breezy mit Arielle Cottingham, nicht-binär und Berliner Dichter:in, zusammengearbeitet. So entstand die Idee der Zusammenarbeit und schlussendlich ein genialer Hybrid aus Lied und Gedicht, auf dem Cottingham mit angenehm rauer Stimme in treffenden Methapern und Vergleichen vom Berliner Leben berichtet. So heißt es: „Berlins wants to be anti-racist – but keeps calling the cops”. Und das trifft den Nagel doch ziemlich auf den Kopf. (Benedikt Kendler)


Exzess und Kiezromantik: Das neue BHZ-Album „halb:vier“

Stilsicher: BHZ bleiben sich auch auf ihrem neuen Album musikalisch und lyrisch treu. Foto: Louise Amelie Müller und Aljaz Fuis

06.07.2021 Die Schöneberger Rapcrew BHZ erzählt auf ihrem neuen Album weiterhin von dem Leben, das der Rapjournalist Falk Schacht passend mit dem Begriff der „romantisierten Wohlstandsverwahrlosung“ beschrieben hat. So klingt das Album wie der Soundtrack zur exzessiven Reise des namenlosen Ich-Erzählers aus Christian Krachts Faserland, nur mit Herz und klarerem Kompass. Dabei gerät „halb:vier“ allerdings zu repetitiv, was man den sympathischen Kiezromantikern diesen Sommer aber gerne noch mal durchgehen lässt. (Benedikt Kendler)


Liebe, Wut und Einsamkeit: Newcomer Radøux mit seiner vielversprechenden Debüt-EP „Through Other Eyes“

Der 22-jährige Sänger, Songwriter und Produzent Radøux veröffentlicht am 2. Juli seine Debüt EP, die von einer melancholischen Grundstimmung und musikalischen Einflüssen aus der Kindheit geprägt ist. Foto: grainwash

29.06.2021 Radøux ist erst 22 Jahre alt. Auf seiner vielversprechenden Debüt-EP „Through Other Eyes“, die am 2. Juli erscheint, verbindet der Berliner deutlich ältere Einflüsse mit Musikstilen der Gegenwart. Der Sänger, Songwriter und Produzent ist in einem deutsch-französischen Haushalt aufgewachsen und wurde durch den guten Musikgeschmack und die Zweisprachigkeit seiner Familie stets von Édith Piaf und Serge Gainsbourg begleitet. Die daraus resultierende musikalische, künstlerische und vor allem lyrische Inspiration ist auf den fünf Songs seiner ersten EP nicht zu überhören. Wie seine Volbilder thematisiert Radøux in seinen ehrlichen, melancholischen und trotzdem selbstbewussten Texten destruktive Beziehungen, niederschlagende Trennungen, Liebe, Wut und Einsamkeit.

In „Berlin“, seinem wohl persönlichsten und eindringlichsten Song, singt der 22-Jährige über seine ersten Wochen in der Hauptstadt. Auf berührende Art erzählt Radøux von dem Gefühlschaos nach seinem Umzug, der Verlorenheit in einer fremden Stadt, der Angst vorm Alleinsein und dem harten Berliner Winter, der immer alles noch schlimmer macht. Das Lied ist komplett auf seiner französischen Muttersprache geschrieben. Hypercharmant! Seine warme Stimme wird von dezent gezupften Gitarren untermalt, die am Ende des Songs in einen Techno-artigen Beat münden. Formidable!

Genau dieser Kontrast macht die Musik von Radøux so interessant und grenzt ihn von anderen Berliner Newcomer:innen ab. Die elektronische Produktion seiner Songs lassen immer wieder Ausbrüche zu. Heftige Bässe und hallende Drums verstärken die emotionale Wucht. Auf „Only When We’re High“ gelingt der Spagat perfekt. Der Song ist unglaublich tanzbar und könnte problemlos in Clubs laufen, obwohl die Stimmung und der Text insgesamt extrem melancholisch sind. „Ghost Town“ hingegen ist deutlich kämpferischer. In dem energetisch vorantreibenden Song geht es um die Zurückerlangung des Selbstwertgefühls nach einer traumatischen Trennung vom Ex. Die Lyrics sind wütend und selbstermächtigend und wechseln immer wieder zwischen englisch und französisch. Die basstiefe Stimme von Radøux klingt trotzdem sanft und einfühlsam. Mit etwas Glück könnte der Song ein Hit werden. Was wir schon jetzt wissen: Radøux ist ein Künstler, den man nicht aus den Augen (und den Ohren) verlieren sollte. (Lennart Koch)


Berliner Queer Pride Songs

23.06.2021 Der Juni ist Queer Pride Month. Am kommenden Samstag findet die Sterndemo „CSD Berlin Pride“ statt. Ein guter Anlass, um euch einige Songs vorzustellen, die sich selbstbewusst gegen Diskriminierung, klassische Geschlechterrollen und soziale Ausgrenzung stellen – und Queerness zelebrieren:

Einer dieser Songs ist Lifequake von dem Berliner Trio Everything and Everybody. In ihrem lustig-poppigen Song, der 2020 erschienen ist und stilistisch stark an funkige 90s-Dance-Tracks erinnert, verhandelt die Sängerin Jospehin Thomas veralterte Weiblichkeits- und Männlichkeitsklischees, um auf humoristische Art aufzuzeigen, wie wichtig es ist, sich von den gesellschaftlichen Fesseln zu lösen und selbstbestimmt glücklich zu sein.

Musik zu machen, die komplett frei von Geschlechtsmerkmalen ist, hat sich die nonbinäre, in Berlin lebende Person Planningtorock zur Aufgabe gemacht. Mit Hilfe von Pitch-Shifter und Auto-Tune werden hierbei Gesangsstimmen in ein androgynes Soundkunstwerk verwandelt. Besonders ausdrucksstark ist dies auf dem 2018 veröffentlichten Song Transome zu hören. Der entspannte, von warmen Synthesizern dominierte R&B-Groove liefert einen perfekten Rahmen für die freie Entfaltung der elektronisch verfremdeten Gesangsmelodie. Im Songtext geht es nicht nur um eine stolze queere Person, sondern auch um Intimität zwischen nichtbinären Personen: Kissing my genders, in our bedroom light”. Planningtorock hat mit Transome“ einen musikalisch wie textlich starken Queer Pride Song geschrieben, der frei von Geschlechtermerkmalen eine utopische Welt voller Einzigartigkeit und Leidenschaft erzeugt.

Planningtorock ist eine nichtbinäre Person, die mit Hilfe von elektronischen Effekten Musik produziert, die frei von Geschlechtsmerkmalen ist.
Foto: Imago/snapshot

Die Berliner Newcomerin Valentin steht für Empowerment pur. Ihr Song Queen, der Ende 2020 erschienen ist, strotzt nur so vor Selbstbewusstsein und überzeugt durch einen eindringlichen Text, der von einem wild vorantreibenden Stampfbeat untermalt wird. Die erste Strophe beginnt mit den Worten: Weg mit deiner Hand, Boy, ich fahre immer zu schnell“. Valentin selbst beschrieb den Song als Produkt von eigenen diskriminierenden Erfahrungen in der Musikbranche – und allgemeinen Problemen, mit denen ihre Freundd:innen aus der LGBTQ+-Community täglich konfrontiert werden. Ihr geht es darum, mit ihrer Musik Kraft zu spenden und Mitmenschen davon zu überzeugen, gegen den Strom zu schwimmen, niemals aufzugeben und sich selber treu zu bleiben, auch wenn dies in unserer Gesellschaft häufig nicht leicht fällt.

Im grandiosen Musikvideo sind unter anderem die Berliner Dragqueens Cupcake, Purrja und Fantasy zu sehen. Gemeinsam mit der Sängerin Valentin erzeugen sie eine visuelle Macht, die perfekt zu dem Empowerment-Song passt und Valentins Mission erfüllt, den Menschen Rückenwind im Kampf gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierung zu geben. Wer Bock auf mehr Berliner Queer Pride Songs hat, sollte auch unsere Liste checken. (Lennart Koch)


Diese Zeiten können schon mal überfordernd sein: Daniel Freitags „I don’t know what I’m doing here“

16.06.2021 Wir leben in einer verrückten Welt und in noch verrückteren Zeiten: Digitalisierung, Globalisierung, Leistungsdruck, Familie, Zukunftsplanung, Kunst, Streaming, Selbstverwirklichung, Politik und zu allem Überfluss auch noch eine Pandemie… Manchmal wird das einfach zu viel. Dann übernehmen Orientierungslosigkeit und Überforderung die Oberhand. Im Songtext seiner neuen Single sitzt der Berliner Daniel Freitag in einem Pariser Kindercafé, besucht seine Heimatstadt, liest die richtigen Bücher und kennt sich sogar mit Internet-Memes aus. Trotzdem gelangt der Musiker und Komponist, der unter anderem für die Schaubühne und das Maxim Gorki Theater in Berlin arbeitet, immer wieder zur gleichen Erkenntnis: „I don’t know what I’m doing here“.

Daniel Freitag fühlt sich von der Welt überfordert – wir fühlen mit ihm. Foto: hannesmeier.com

Daniel Freitag ist Vater geworden, hat den harten Lockdown im Exil in Paris erlebt und dabei trotzdem verschiedene Musikprojekte in Berlin am Laufen gehalten. Inzwischen ist er wieder in die deutsche Hauptstadt zurückgezogen, die seit Jahren seine künstlerische Schaffensstätte ist. „I don’t know what I’m doing here“ bringt nun all die persönlichen wie auch gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen des modernen Lebens auf den Punkt, mit denen sich spätestens nach der Pandemie wohl die meisten Menschen identifizieren können. Der Song ist wie ein Mantra aufgebaut: Immer mehr Aktivitäten und Sorgen werden aufgezählt und jedes Mal mit der Titelzeile abgeschlossen. Die repetitive Indie-Rock-Gitarre, Max Andrzejewskis rumpeliges Schlagzeug, der schräge Chor und der lallende Gesang steigern sich konstant und überschlagen sich endgültig im herrlich chaotischen Finale.

Im Musikvideo verkörpert Daniel Freitag einen Entertainer hinterm Playback-Keyboard. Er gibt alles, um eine gute Show abzuliefern und versucht verzweifelt, das Publikum zu erreichen. Doch es gibt keinen Applaus, keine Reaktion. Wie auch? Am Ende ist zu sehen, wie der enttäuschte Musiker seinen Laptop zuklappt, den Livestream beendet und den Saal verlässt: Eine wunderbare, bittersüße Portraitierung von Musiker:innen in der Corona-Krise und ein Abgesang auf den ganzen digitalen Wahnsinn unserer Zeit.

Am 2. Juli erscheint Daniel Freitags neue EP „It’s Friday, Baby!“, im Herbst sein zweites Album. Wir freuen uns sehr! (Lennart Koch)


Infiziert und isoliert in Berlin: Iders „Bored“

Beste Freundinnen aus London sind in Berlin gestrandet: Ider. Foto: Georgia_Strawson

16.06.2021 Fast zwei Jahre sind vergangen, seit das Londoner Duo Ider mit seinem gefeierten Debütalbum „Emotional Education“ durchstartete. Der erste Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 machte den beiden englischen Musikerinnen Megan Markwick und Lily Somerville dann jedoch schnell einen Strich durch die Rechnung. Konzerte und Reisen waren plötzlich nicht mehr möglich. Es ist eine Geschichte, die so gut verkörpert, was das für ein seltsames Jahr gewesen ist: Die Bandmitglieder von Ider waren genau zu der Zeit bei Freunden in Berlin, als hier alles richtig losging – eigentlich wählten sie Berlin, um sich von der beendeten Tour zu erholen.

Das war den beiden Musikerinnen und besten Freundinnen jedoch leider nicht vergönnt. Wenige Tage später lagen sie nämlich Corona-infiziert in häuslicher Quarantäne in Berlin. Die Isolation nutzten Markwick und Somerville zum Musikmachen, Singen, Texten und Komponieren. So sind die meisten Songs ihres zweiten Albums „Shame“, das am 6. August erscheinen soll, unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen in Berlin entstanden.

Zwei vielversprechende Single-Auskopplungen haben Ider bereits veröffentlicht. Ihr neuer Song „Bored“ hypnotisiert mit zweistimmigen Sprechgesang, der mit seiner beeindruckenden Exaktheit die perfekte Verbindung zwischen den beiden belegt. Flowtechnisch bewegen sich Ider in „Bored“ zwischen Billy Nomates und Arlo Parks. Da der musikalische Stil von Ider stark variiert und sich aus verschiedenen Genres zusammensetzt, wird er häufig als „post-genre oder „cross-genre“ bezeichnet. Ider lassen sich nicht katalogisieren und das ist auch gut so! Jeder neue Song verspricht Überraschungen und eine einzigartige musikalische Verbindung, die in einer besonderen Freundschaft gefestigt ist. (Lennart Koch)


Pünktlich zum Start der Europameisterschaft: Isolation Berlins „Ich hasse Fußballspielen“

11.06.2021 Heute Abend beginnt die Fußball-EM. Diesen Anlass nutzt die deutsche Rockband Isolation Berlin für die Veröffentlichung ihrer neuen Single „Ich hasse Fußballspielen“. Der Song ist jedoch viel mehr als eine Provokation oder bekennende Antihaltung gegenüber der beliebten Sportart: Eher geht es um die unfreiwillige Konfrontation mit Männlichkeitsstereotypen. So werden aus kindlicher Perspektive die Eltern zitiert: „Papa hat gemeint, ein Junge, der weint, der wird sofort zum Opfer auserkoren.“

Tobias Bamborschkes gebrochene Stimme verhandelt Erwartungshaltungen und Traumata aus der Schulzeit, mit denen sich wohl viele Menschen identifizieren können. Im Sportunterricht soll Fußball gespielt werden, doch „kein Schwein wählt mich in sein Team.“ Die Kritik liegt also nicht am Fußballspielen an sich, sondern am Druck und an der Schmach, die häufig damit einhergeht. Die antreibende Orgel und das dahinplätschernde Rhythmusgruppenspiel erinnern passend dazu an eine musikalische Stadionuntermalung. (Lennart Koch)


Sommerliche 90s-Sounds und sphärischer Sprechgesang auf Peggy Gous „Nabi“

11.06.2021 Die Südkoreanierin Peggy Gou gehört seit Jahren zur Berliner DJ-Elite. Die einzigartige Technoszene führte sie 2014 in die Hauptstadt, nur zwei Jahre später legte sie erstmals im Berghain auf. 2018 gelang ihr mit dem von 80s-Synthesizern, funky Elektro-Bässen und chansonartigen Sprechgesang geprägten „It makes You Forget (Itgehane)“ endgültig der internationale Durchbruch. Es folgten weitere EPs und der Super-Hit „Starry Night“ aus dem Jahr 2019.

Zwei Jahre sind seit Peggy Gous letztem Release vergangen. Umso mehr freuen wir uns über ihre neue Single „Nabi“. Hier treffen sommerliche, nostalgische 90s-Sounds auf melancholische, sphärische Gesangsmelodien. Auch der stilprägende Sprechgesang darf natürlich nicht fehlen. Für „Nabi“ hat sich Peggy Gou Unterstützung von Oh Hyuk, dem Sänger der koreanischen Rockband Hyukoh, geholt, dessen sanfte Stimme perfekt zu der verträumten Stimmung des Songs passt. „Nabi“ lässt von ausgelassenen Sommer-Raves träumen und erinnert gleichzeitig daran, was für schwierige Zeiten hinter uns liegen. (Lennart Koch)


Absichtlich plakativ: Drangsals Selbstermächtigungs-Hymne „Mädchen sind die schönsten Jungs“

11.06.2021 „Ein Song gegen Schwarz-Weiß-Denken, gegen die imaginären Grenzen der anderen & für eine vollkommene Selbstermächtigung.“ So beschreibt Drangsal die zweite Singleauskopplung seines dritten Albums „Exit Strategy“, das am 27. August erscheinen soll. Wie der Titel des Songs bereits vermuten lässt, handelt es sich bei „Mädchen sind die schönsten Jungs“ um eine Hymne für Individualität und Freiheit, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und anderen unfreiwilligen Gegebenheiten.

Max Gruber alias Drangsal hat interessante musikalische Entwicklungen durchgemacht: War sein Debütalbum „Harieschaim“, das 2016 erschien, noch stark geprägt durch Einflüsse des Post-Punks und Synthiepops der späten Siebziger und frühen Achtziger, so bewegte er sich auf seinem zweiten Album „Zores“ von 2018 eher in Richtung Indie-Pop-Rock. Die Klangfarben wurden weniger düster, die Melodien verschnörkelter und die meisten Songs sang Max Gruber von nun an auf Deutsch. „Mädchen sind die schönsten Jungs“ knüpft musikalisch an diesen Stilwechsel an. Die Gesangsmelodie und Mehrstimmigkeit erinnern durchaus an die Ärzte, mit denen Drangsal nicht ohne Grund häufig verglichen wird.

Zeilen wie „Aus Ge-schlechter mach Ge-besser“ mögen etwas plakativ sein, jedoch ist das genau, was Drangsal mit seiner neuen Single erreichen will. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Textlich durchaus überspitzt — für mehr Plakativität, denn wenn man flüstert, hört einem ja Niemand zu.“ (Lennart Koch)


Pan Daijing: Vom Neuköllner Kassetten-Label in die Londoner Tate Modern

09.06.2021 Die Synthesizer stoßen tiefe Klänge aus, sie knarzen, rattern und dröhnen, Bulldozer und Dampfwalze scheinen nicht weit, man hört es wummern und hallen, bis alles in einer Kakofonie endet und es sich so anfühlt, als sei man Ohrenzeuge einer Tiefenbohrung. Wir hören das Stück „Ran“, es findet sich auf „Jade 玉观音“,dem euen Album von Pan Daijing. Der Song steht für den Sound der chinesischen Berlinerin: düster-doomige Noise-Techno-Industrial-Klänge; teils kommen unterkühlt vorgetragene Spoken Words dazu.

Pan Daijing ist geboren und aufgewachsen in der 4,5-Millionen-Stadt Guiyang im Südwesten Chinas. Mit 17 ging Daijing zum Studieren nach Peking. Dass sie mal in der Noiseszene landen würde, war zu dieser Zeit wirklich noch nicht abzusehen: Sie studierte Rechnungswesen. Lebensverändernd war dann ein Studienaufenthalt in San Francisco, wo sie begann auf Avantgardekonzerte zu gehen und ein Teil der dortigen Kunstszene wurde. 

Noch ehe sie 2016 selbst nach Berlin zog, veröffentlichte Pan Daijing „Sex & Disease“  (2015) auf dem Berliner Tapelabel Noisekölln. Nach einer weiteren EP  folgte 2017 schließlich das Album-Debüt „Lack 惊蛰“, durch das sie international bekannt wurde. Ihre audiovisiuellen Performances führte sie auch iin der Hamburger Elbphilharmonie, in der Londoner Tate Modern und auf Festivals wie dem Atonal und dem CTM auf. Wer hinhört, merkt schnell, dass eine ihrer Inspirationsquellen durch und durch Berlin ist: Es sind die Einstürzenden Neubauten. (Jens Uthoff)


Der Berliner Drummer Magro und sein schwindelerregendes Debüt „Trippin'“

30.05.2021 Magro zählt zu den spannendsten Drummern Berlins. Was macht der Typ so besonders auf seinem schwindelerregenden Debüt „Trippin“? Aufgewachsen in der Nähe von Stuttgart, entschloss sich Magro nach der musikschulischen Ausbildung an Klavier und Schlagzeug für ein Studium der Jazz-Drums in Mainz. Nachdem er schon zu Jugendzeiten in verschiedenen Bands gespielt hatte, begann für ihn dort die Suche nach dem eigenen Stil, die er nun schon seit einigen Jahren in Berlin fortsetzt.

Mit einem schwindelerregenden Drum-Fill-In eröffnet der 31-Jährige nun sein Debüt-Album „Trippin“, um dann mit synthetisch-waberndem Vibraphon-Sound und gekonnt verstolpertem Hip-Hop-Beat den klanglichen Teppich für U.S.-Rapper TwizzMatic auszurollen. Immer wieder wiegen einen bei Magro Synth-Schichten zunächst durch repetitive Sequenzen in Sicherheit – und dann wird man doch vom akustisch eingespielten Schlagzeug wieder in sphärische Gefilde fortgetragen. Das klingt alles sehr, sehr gut. Wir haben mit Magro gesprochen und „Trippin'“ durchgehört – mehr lest ihr hier.


Berliner Vocal-House: „Into The Stars“ von Chris Zippel & Vincent Littlehat

28.05.2021 Beide haben sie sich längst einen Namen gemacht: Electro-Produzent Chris Zippel hat mit den Pet Shop Boys gearbeitet, und Vincent Littlehat ist als Foto-Model gefragt, aber eben auch Songwriterin und Sängerin. Beide leben sie in Berlin. Und nun kommen sie für einen spektakulären, vom Songwriting her geprägten Vocal-House-Track zusammen, dessen Synthie-Riffs schnell in die Blutbahn gehen – ebenso wie Vincent Littlehats Vocals, und zwar auf bestem Wege Richtung Herzkammer. Der Track handelt von überwältigenden Momenten inmitten der sozialisolierten Gesamtgemengelage. Und das Video ist ein Hingucker, samt Ballett-Choreo mit Louis Seriot. (Stefan Hochgesand)


Der Berliner Lukas Akintaya trommelt uns auf „Hues“ frei

28.05.2021 Auf dem Resümee seiner Studienzeit in New York vermengt der Berliner Schlagzeuger Lukas Akintaya Gitarren-Akkorde im Tortoise-Stil mit Improvisationen zwischen Free-Jazz und Ambient. Schlagzeug, Bass und Saxofon erzählen die Geschichten so fließend, dass auch ungerade Rhythmen gut ins Ohr gehen. Akintaya und Co. fühlen sich hörbar wohl in den nachdenklichen Kompositionen und bereichern sie durch ihr musikalisches Gespür für den Moment. (Linus Rogsch)


Mustafa re-definiert Männlichkeit auf „When Smoke Rises“

27.05.2021 War Mustafa ein Wunderkind? Oder ein Kind seiner Wunden? Regent Park heißt die Neighbourhood, in der Mustafa Ahmed, Jahrgang 1996, im kanadischen Toronto aufwuchs. Was wie ein schickes Viertel klingt, ist eine hochgradig kriminalitätsbelastete Sozialbausiedlung – wo Mustafas muslimische Familie aus dem Sudan abermals zu den Underdogs gehörte.

Mustafa wird verhaltensauffällig: Mit zwölf Jahren schreibt er Gedichte – etwa darüber, wie das Fernsehen unsere Schönheitsideale korrumpiert. Er räumt bei Poetry Slams ab. Doch Mustafa beginnt im Lauf der Jahre zu zweifeln: Sind Gedichtwettbewerbe nicht pervers, wo er über seinen erschossenen Kumpel performt und dafür Punkte ergattert? Im Kopf von Mustafa, Teil der islamischen HipHop-Crew Halal Gang, beginnen sich die Grenzen von HipHop und Folk aufzulösen: Stammt die Zeile von Nas oder von Sufjan Stevens? Egal! Bei Mustafa geht’s nicht um Nutten und Mäuse, sondern um Verlust und um das Wiederaufstehen, trotz allem.

Im Opener, der mit einer Joni-Mitchell-zart gezupften Gitarre beginnt, beschwört Mustafa einen Buddy, den er liebevoll „fam“ ansingt, am Leben zu bleiben. Sehr konkret ist „Stay Alive“ ein Flehen, sich den Todesurteilen der Straßen-Clans zu entziehen, aber im weiteren Sinne ist der Song auch der Versuch, einen Ausweg zu schaffen aus den brutalen Konventionen, die Männer vor ihnen abgesteckt haben. Ein neuer Typus Männlichkeit klingt an. Und jetzt haben wir noch gar nicht von der wahnsinnsschönen Samt-Stimme geredet, dieser Ausnahmestimme, die etwa beim Wort „outside“ so schauerlich nach unten sinkt („Air Forces“), dass einem angst und bange wird. Mustafa kann alles von Klavierballade („Come Back“) bis zum Upbeat („What About Heaven“). Er hat den politischen Kampfgeist von Joan Baez und die Stimme von Stevie Wonder. Und ist zugleich der größte Songwriter seiner Generation. (Stefan Hochgesand)


Masayoshi Fujita sagt Berlin Goodbye mit „Bird Ambience“

26.05.2021 Masayoshi Fujita, der vom Schlagzeug kommt, hat die Marimba für sich entdeckt – oberflächlich ein seinem geliebten Vibrafon nicht ganz unähnliches Gerät, aber mit spürbar wärmerem, nämlich hölzernem Klang ohne die komplexe Metallmotorik. Das passt zu seinem Wegzug von Berlin ins japanische Bergdorf, auch wenn die Platte gerade noch so in Berlin entstanden ist. Ein Nachklang davon sind womöglich die Electronica-Noises, von
Fujita selbst produziert. We will miss you, Masayoshi! (Stefan Hochgesand)


Berliner 80s-Band Alphaville im Interview

23.05.2021 Kaum eine Berliner Band hatte jemals so gigantische internationale Charts-Erfolge wie Alphaville einst mit „Big In Japan“ und natürlich „Forever Young“, den sogar Beyoncé und ihr Gatte Jay-Z auf ihrer letzten Stadiontour gecovert haben – und zwar nicht nur im Berliner Olympiastadion, sondern weltweit. Bei uns im Interview haben Alphaville Tacheles geredet: Wie war das mit Drogen und dem Geist von David Bowie? Und welchen einfachen aber effektiven Trick haben sie benutzt, mit dem „Big In Japan“ ein Welthit wurde?


St. Vincent überzeugt mit „Daddy’s Home“

14.05.2021 Die Heimkehr von Papa beginnt mit einem betrunken stolpernden Kneipenklavier. Aber dann setzt schnell der pumpende Beat ein, aus dem Pub geht es auf den Dancefloor. In wenigen Sekunden hat St. Vincent musikalisch den Schock nachvollzogen, der ihren Vater ereilt haben könnte, als er nach neun Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde in eine veränderte Welt.

Denn „Daddy’s Home“ (Loma Vista/Virgin/Universal), der Titel dieses sechsten Albums der amerikanischen Musikerin, ist nicht bloß allegorisch gemeint. Annie Clarks Vater saß tatsächlich ein: Der ehemalige Börsenmakler war involviert in einen millionenschweren Börsenbetrug und kam erst 2019 frei. Im Titelsong erzählt Clark alias St. Vincent davon, wie sie ihn vom Gefängnis abholt; in Interviews spricht sie über die Ungerechtigkeiten des US-Vollzugssystems – jedenfalls, solange die legendär launische Künstlerin dazu Lust hat: Zuletzt gab es einen kleinen Skandal, weil sie die Veröffentlichung eines Interviews verhinderte.

Tatsächlich hat „Daddy’s Home“ auch keine explizite politische Botschaft, sondern ist St. Vincent vor allem Anlass, abzutauchen in die Vergangenheit. Die Songs, so sagt die 38-Jährige, sollen in ihrer Gesamtheit den Soundtrack bilden zu einer im New York der Siebzigerjahre verbrachten Nacht. Folgerichtig gibt es wollüstig zuckenden Funk-Rock, möglichst künstlich klingende Synthies, auch mal ein breitbeiniges Gitarren-Solo, gemütliche Disco-Rhythmen, watteweiche Bläser-Arrangements oder zum Drinversinken plüschigen Soft-Rock – und generell einen warmen, retrospektiven Sound, der klingt, als wäre früher tatsächlich alles besser gewesen.

Es ist eine Neuerfindung für St. Vincent. Das überkandidelte Drama, das man von ihr kennt, ist nicht verschwunden, aber doch zurückgefahren zugunsten einer souligen Stimmung. Statt einen bloß staunen zu lassen, nimmt einen diese Musik an die Hand, führt durch die Clubs und Kneipen und sitzt schließlich morgens neben einem in der U-Bahn, wenn die Nacht geht und das Grau des Tages einen wieder ankriecht auf dem Weg nach Hause. (Thomas Winkler)


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