Tocotronic spiegeln den gesellschaftlichen Irrsinn in Deutschland. Der Umzug nach Berlin hat sie offener und kreativer gemacht. Doch die Ur-Erfahrung war die Helmut-Kohl-Republik im späten 20. Jahrhundert. Die Geschichte Band, die eine Generation geprägt hat – aus Anlass ihres neuen Albums „Nie wieder Krieg“.
Die Ära, die diese abgeklärten Popmusiker hervorgebracht hat, war eine Zeit der kulturellen Unterversorgung. Man muss sich bloß das behäbige Deutschland von 1993 ausmalen, jenem Jahr, in dem drei Studenten in Hamburg eine Band gründeten, deren Name von einer japanischen Spielkonsole entlehnt war, genannt „Tricotronic“.
In dieser Beck’s- und Bofrost-BRD personifizierte Helmut Kohl, ewiger Kanzler der CDU im ausklingenden 20. Jahrhundert, die Katerstimmung nach der nationalen Massenhypnose im Zuge der Wiedervereinigung auf eine saurierhafte Weise. Das mentale Epizentrum in den Käffern der Provinz, aber auch in den Siedlungen an den Stadträndern war samstagabends die neue „Wetten dass…“-Folge mit Wolfgang Lippert. Die popkulturellen Wasserstandsmeldungen aus dem Ausland, die der Röhrenfernseher sonst so versendete, überbrachten cremige TV-Serien wie „Beverly Hills“.
In dieser Gesellschaft, deren jungen Künstlern es offenbar die Sprache verschlagen hatte, entwickelten die drei Slacker von Tocotronic ein sensationelles Bandmodell. Eine systemkritische, antideutsche Musikgruppe, die das Geworfensein in dieses sonderbare Land zu ihrem Thema machte.
Tocotronic stoßen zu Beginn in ein Vakuum
Eine größenwahnsinnige Idee, entstanden im allerkleinsten Bandformat: Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist, Jan Müller am Bass, Arne Zank am Schlagzeug. Das zentrale Projekt war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Die deutsche Sprache, kontaminiert von Roy Black, Heino und den Nazis, zum emotionalen Gefäß zu machen.
Die erste Tocotronic-Single lautete „Meine Freundin und ihr Freund“, ein fast vergessenes Schrammelstück über Komplikationen in Liebesbeziehungen, vorgetragen von der gleichmütigen Stimme Dirk von Lowtzows. Eine Litanei mit Mir-doch-egal-Attitüde. Das Konzept stieß in ein Vakuum.
Von der amerikanischen Westküste hallten damals die schwermütigen Gitarrenklänge der Grunge-Bewegung, intoniert von Schmerzensgemeinschaften wie Nirvana oder Pearl Jam. In Großbritannien kultivierten Blur und Suede den Britpop. Eine Szene, die in Deutschland allerdings nur informierten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bekannt gewesen sein dürfte.
Eine Band hingegen, die das Lebensgefühl von jungen Trotzköpfen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zwischen Kiel und Konstanz eingefangen hätte, jenseits von „Ärzte“-mäßigem Funpunk, jovialem Deutschrock, von MTV und Bravo-Hits – sie war so unwahrscheinlich wie Dosenbier in der „Schwarzwald“-Klinik.
Kampagnenfähige Texte machen Tocotronic zur „Dagegen“-Band
Tocotronic aber stillten den Hunger nach Identifikation – zumal auf den wilden Alben der 90er-Jahre, „Digital ist besser“ (1995), „Wir kommen, um uns zu beschweren“ (1996) und „Es ist egal, aber“ (1997). Der musikalische Urschlamm war der Punk. Jene Musikrichtung, die schon immer von großer Oppositionshaltung zehrte – auch im Hinblick auf die Klangästhetik. Lo-Fi-Sound war das tonangebende Prinzip.
Das Dagegensein war auch in die kampagnenfähigen Texte eingewoben. Zum lärmigen Hit geriet es im Song „Freiburg“, einer Suada aus wenigen Akkorden, die über das Biedermeier im gutsituierten Südwesten der Republik ergossen wurde, über Radfahrer, Backgammon-Spieler und Tanztheater. Phänotypen in jener Region also, in der Dirk von Lowtzow in einem Bungalow-Haus aufgewachsen war, genau genommen im badischen Offenburg. Wo er mit 13 eine E-Gitarre von seinen Eltern geschenkt bekam und später eine Band namens Die Kranken gründete.
Wie viel ironischer Subtext in das vermeintliche „Freiburg“-Pamphlet geflossen war: Das blieb ein Mysterium.
Die Tocotronic-Fans und ihr Kopfkino
Tocotronic gaben Rätsel auf, und diese Sphinxhaftigkeit war vielleicht ihre größte Qualität. Sie kanalisierten damit den Verlust von politischer Identität in den postmodernen 90ern. Eine Erfahrung, die typisch war für das kollektive Empfinden im Jahrzehnt von Love Parade, Harald-Schmidt-Show und grenzenlosem Spaß: Die großen Utopien standen im Verruf. Das kommunistische Projekt war nach dem Zusammenbruch des Ostblocks desavouiert, der heilige Ernst von linken Zivilbewegungen im knallbunten Konsumkapitalismus lächerlich geworden.
Diese Lücke füllten Tocotronic mit Wertgegenständen aus den Vitrinen einer goldenen Vergangenheit der Subkulturen. Sprichwörtlich geworden ist diese Nostalgie mit ihrem Song-Manifest „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ – darin äußerte sich die Sehnsucht nach soziokultureller Zugehörigkeit im Zeitalter des „Anything Goes“. Im Bewusstsein der Tocotronic-Fans wurde dabei ein Kopfkino angeworfen. Es beamte die damalige Jugend womöglich in eine Fußgängerzone der frühen 80er in Marl oder München, mit Nietengürtel und Iro. Oder auf die Großdemo im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss. Oder, oder, oder. Die Deutungsoptionen waren wie immer weit gespannt.
Samba-Schuhe und Trainingsjacken
Das modische Erscheinungsbild war ebenfalls second hand. Ein ulkiges Beispiel dafür waren die legendären „Samba“-Schuhe von Adidas. Jene Sneaker mit drei Streifen also, die früher einmal zum Trainingsdress von Fußballklubs gehörten. Und dank einer neuen Verwendung, als Fußkleid für die augenzwinkernden Jungs von Tocotronic nämlich, zum stilistischen Merkmal wurden. Ebenso wie Trainingsjacken mit der Aura von Dorfvereinen und T-Shirts mit seltsamen Ausdrucken.
Es war die Geburtsstunde des Retro-Kults, und Tocotronic haben zu diesem Trend beigetragen. In derselben Zeit wurden auch andere Lustobjekte wiederentdeckt: Kickertisch, Drei-Fragezeichen-Kassetten, verwaschene Polaroidfotos. Das deutsche Vorspiel der späteren, weltumspannenden Hipster-Kultur.
Doch das eigentliche Wunder der Tocotronic-Saga war die weitere Entwicklung der Band nach der Jahrtausendwende. Die einstigen Kneipenhänger aus der Generation X vollzogen einen Reifeprozess, der vermutlich einmalig in der Geschichte der deutschen Popmusik ist.
In den Nuller- und Zehnerjahren erweiterten Tocotronic ihr musikalisch eher simples Frühwerk um ein Kaleidoskop voll stilistischer Vielfalt. Das 99er-Album „K.O.O.K.“ war noch eine glitzernde Disco-Platte. Im neuen Millenium folgten Edelpop („Tocotronic“), New-Romantics-Fantasien („Pure Vernunft darf niemals siegen“) und wüster Agitprop („Kapitulation“). Später ausfransender Rock im Geist von Neil Young & Crazy Horse („Schall & Wahn“), dann eklektische Wundertütenmusik („Wie wir leben wollen“), Minnegesang („Rotes Album“), außerdem Mystery-Pop („Die Unendlichkeit“). Und nun, auf ihrem 13. Album „Nie wieder Krieg“, existenzialistische Selbsterforschung im Elder-Statesmen-Sound.
Zwischen Indie und Mainstream
Während anderen Posterboys der Neunzigerjahre die Luft ausgegangen war – den Klassenmitgliedern der so genannten „Hamburger Schule“ etwa, den Sternen oder Blumfeld – erklommen Tocotronic immer wieder neue Gipfel. Ein langer Atem, der bloße Zeiterscheinungen von großen Künstlern unterscheidet.
Die Tocotronic-Männer hatten ihr Wissen um französische Kulturtheorien angereichert, außerdem einen kongenialen Produzenten gefunden, nämlich Moses Schneider, der die Band geschickt an der Schnittstelle zwischen Indie und Mainstream positionierte. Sie ließen sich außerdem von der Theaterszene inspirieren, steckten Herzblut in andere Projekte. Und sie hatten sich einen Virtuosen ins Band-Kollektiv geholt: Rick McPhail, Ex-Roadie der Band, danach Keyboarder und Gitarrist.
Vor allem aber waren sie nach Berlin gezogen, erst Dirk von Lowtzow, dann Jan Müller, später Arne Zank. „Ich habe heute das Gefühl, der Umzug nach Berlin hat mich so ein bisschen gerettet“, hat von Lowtzow in einem „Berliner Morgenpost“-Interview einmal offenbart. Von Einsamkeit, Isolation und alkoholinduziertem Sumpf in Hamburg erzählte der Tocotronic-Kopf freimütig.
Tocotronics Flucht aus Hamburg
Wie groß der Einfluss des rettenden Ufers an der Spree war, lässt sich am Werk nur schwer ablesen. Zu universell sind Tocotronic auch im neuen Jahrtausend auf ihren Entdeckungsreisen geblieben. Aber ganz so marginal wird der Berlin-Effekt nicht gewesen sein. Vor allem die Flucht vor der kraftvollen, aber manchmal auch rockistischen Musikszene in Hamburg, diesem heiligen Gral aus Astra-Kneipen und St. Pauli-Vierschrötigkeit, dürfte die Band offener für neue Allianzen gemacht haben.
Trotz des neuen Lebensmittelpunkts nahmen Tocotronic eine Affäre immer mit: die Beziehung zu ihren eigenen Fans, den Kids aus jener Sandwich-Altersgruppe, die in den 90ern sozialisiert worden sind. Die einst zaudernden, zornigen, zweifelnden Pausenhofsteher aus der Mittelschicht, meist westdeutsch, die nun gemeinsam mit den Musikern älter wurden. Heute bilden viele den Mittelbau des Landes, wissenschaftliche Mitarbeiter, Lehrerinnen, Personal aus dem Kulturbetrieb. Sie waren jung in einer Dekade, als Rockmusik das letzte Mal eine Bedeutung jenseits des Zitats hatte.
Tocotronic haben diese Generation geprägt. Ihre Musik lieferte einen Wertekodex, der Tocotronic-Hörer:innen bis heute in die Synapsen geschrieben ist. Dazu zählt zum Beispiel auch die kritische Haltung gegenüber den politischen Autoritäten in einem Land, das vor ein paar Jahrzehnten noch den Nationalsozialismus hervorgebracht hat. Diese wache, rigorose Haltung gegen rechts ist heute ein stimmgewaltiger Faktor in der Öffentlichkeit. Dafür stehen Prominente wie der TV-Satiriker Jan Böhmermann, der Star-Pianist Igor Levit, der Rapper Danger Dan.
Zudem haben Tocotronic die Grenzen zwischen E- und U-Kultur eingestampft, mit ihrer nonchalanten Mixtur von Pop und Trash, Theater, bildender Kunst und akademischer Theorie. Eine Flexibilität, die wohl etliche junge Kulturschaffende beeinflusst hat.
Leichenfledderei in der alten BRD
Die Fans dieser Band waren zu spät auf die Welt gekommen für die großen jugendkulturellen Aufstände von 68er-Revolte bis Punk. Und zu früh für die ökosozialen Kämpfe während der Menschheitsdämmerung im 21. Jahrhundert – gegen Klimawandel und den Plattformkapitalismus im digitalen Zeitalter.
Im Gegenzug hatten diese Menschen die angeschimmelte Helmut-Kohl-BRD zum Fundus für eine Leichenfledderei zwischen Uneigentlichkeit und Nostalgie gemacht. Das Zuhause war dabei eine Republik, die diese Kohorte eigentlich verabscheut hat. Und deren Zwängen sie zugleich nicht entkam. Ein Paradox, das Weltschmerz verursachte.
Den Luxus dieser Melancholie muss man sich leisten können. Weil man weiß, dass ein bisschen Trübsal einen schon nicht aus der Bahn werfen wird, wenn im Elternhaus die Salden auf den Sparbüchern günstig sind. Weshalb unter den Tocotronic-Fans – grob geschätzt – bis heute nicht ganz so häufig Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen stammen.
Ostdeutsche Fans gibt es natürlich. Doch die Ur-Erfahrung, die bis heute in die Arbeit der Band fließt, bleibt eine westdeutsche Beziehungskiste. Noch auf ihrer 2018er-Platte „Die Unendlichkeit“ hatten Tocotronic in ihrem Song „Electric Guitar“ passenderweise den „teenage riot im Reihenhaus“ besungen. Es fehlten bloß noch Lavalampe und Yps-Heft.
Ihr neues Album ist wieder Psychogramm einer Generationen. Es ist Musik für Zeitgenoss:innen, die trotz aller Widrigkeiten nicht zynisch werden.
Was doch zusammengehört: Tocotronics Beziehung zum Moloch Berlin fängt diese Bilderstrecke ein. Dass die Songs der Indierock-Band auch andere Künstler:innen beeinflusst haben, kann man übrigens im Comic-Band „Sie wollen uns erzählen“ sehen. Darin haben Zeichner:innen einzelne Lieder in kleine Geschichten umgewandelt. Die Gruppe, die sich vor knapp 30 Jahren gründete, hat auch jüngere Fans – davon erzählt tipBerlin-Volontär und später Tocotronic-Fan Lennart Koch in diesem Artikel.