Berlin verstehen

Ton Steine Scherben und Berlin: Die Geschichte von Musik & Revolution

Ton Steine Scherben sind die Band, die Berlin wohl am nachhaltigsten geprägt hat. 1970 in der Zeit der Studentenproteste von Rudi Dutschke und der APO gegründet, erfanden sie quasi im Alleingang die politische Rockmusik in deutscher Sprache. Rio Reiser, der charismatische Sänger der Scherben, schrieb Lieder von dringlicher Bedeutung. Er kritisierte politische, soziale und gesellschaftliche Missstände, gab den Problemen seiner Generation eine Stimme und bewegte die Massen.

Noch heute sind Songs wie „Keine Macht für Niemand“, „Warum geht es mir so dreckig?“ und „Der Traum ist aus“ aktuell und der Einfluss der Scherben auf die Entwicklung der Musik in Deutschland enorm. Von Herbert Grönemeyer bis zu den Einstürzenden Neubauten, von Jan Delay bis Bosse, von den Beatsteaks bis Wir sind Helden, die Verehrung folgender Generationen für das Scherben-Werk hält an.

Auch die Verbindung der Ton Steine Scherben zu Berlin ist bis heute präsent. In Kreuzberg gehören Reisers Lieder zur Bezirksfolklore und an vielen Orten in der Stadt lässt sich die Geschichte der Band noch spüren. Entlang von 12 Fotografien erzählen wir von den Anfängen der Scherben in der linken Szene West-Berlins, den legendären Platten, Demos und Konzerten bis zum Umzug nach Fresenhagen, der Auflösung der Band, Reisers Tod und den posthumen Würdigungen.


West-Berlin, Dutschke und die 1968er-Generation

West-Berlin, 1968 – Demo nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke. Foto: Imago/Zuma/Keystone
West-Berlin, 1968 – Demo nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke. Foto: Imago/Zuma/Keystone

In West-Berlin der 1960er-Jahre entstand eine vielfältige und sehr rege linke bis linksradikale Politszene. Rudi Dutschke führte die Studentenbewegung an, die Außerparlamentarische Opposition (APO) organisierte sich gegen die Bonner Parteien, in der Kommune 1 experimentierte man mit neuen Formen des Zusammenlebens, Verlage brachten Manifeste in Umlauf, dogmatische K-Gruppen diskutierten die Weltrevolution und die langhaarigen Freaks trieben sich als umherschweifende Haschrebellen herum. Schon bald sollte die RAF Angst und Terror verbreiten.

In dieser Stimmung gründeten sich 1970 die Ton Steine Scherben. Die Urbesetzung war neben Rio Reiser, der die Texte schrieb, sang und Gitarre spielte, der Schlagzeuger Wolfgang Seidel, R.P.S. Lanrue als zweiter Gitarrist und Kai Sichtermann am Bass. Ein Jahr später erschien das heute legendäre Debütalbum „Warum geht es mir so dreckig“, die Aufnahmen fanden in Klaus Freudigmanns Studio in Berlin statt.


Konzert vor dem Bethanien

Mariannenplatz, Kreuzberg – Die Ton Steine Scherben geben ein Konzert vor dem leerstehenden Bethanien. Foto: Jutta Matthes
Mariannenplatz, Kreuzberg – Die Ton Steine Scherben geben ein Konzert vor dem leerstehenden Bethanien. Foto: Jutta Matthes

Die Ton Steine Scherben waren nicht einfach nur eine Band, die Musik spielen wollte. Sie waren Teil der linken Szene, traten bei Protestkundgebungen auf und bei „Informationsveranstaltungen“ von Initiativen und Organisationen aus dem linksradikalen Spektrum, etwa der Roten Hilfe und der Zeitschrift „Agit 883“. Auch bei Hausbesetzungen in Berlin waren sie oft dabei und lieferten den Soundtrack zu der explosiven Stimmung in den frühen 1970er-Jahren.


Rock aus Deutschland

Berlin und Ton Steine Scherben: Kai Sichtermann am Bass und der erste Scherben-Shclagzeuger Wolfgang Seidel. Foto: Jutta Matthes
Kai Sichtermann am Bass und der erste Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel. Foto: Jutta Matthes

Die Ton Steine Scherben spielten eine harte von Blues und Rock beeinflusste Musik, die so aber theoretisch auch von englischen oder amerikanischen Bands hätte stammen können. Doch anders als viele Prog- und Krautrockbands jener Jahre, sangen sie von Beginn an auf Deutsch. Rio Reiser wollte als Texter und Sänger dem Publikum seine Anliegen möglichst gut vermitteln und das Denken und Handeln in Bewegung setzen.

Der politische Anspruch war in der Frühzeit ebenso wichtig wie ein guter Sound. Das ging auf Deutsch besser und direkter als auf Englisch, der Sprache der Beatles und Stones. Im Rückblick lässt sich sagen, dass Rio Reiser Deutsch als Ausdrucksmittel in der Rockmusik erst möglich machte oder ihr zumindest den Weg ebnete. Sicherlich war er nicht der Einzige, der mit deutschsprachigen Texten und Rock experimentierte, aber bei ihm klang es am besten.


Kreuzberg, Hausbesetzer, Kommunen

Ton Steine Scherben "Wenn die Nacht am tiefsten", Cover der Doppel-LP, 1975 (erschienen bei Volksmund)
Ton Steine Scherben „Wenn die Nacht am tiefsten“, Cover der Doppel-LP, 1975 (erschienen bei Volksmund)

Kreuzberg war in den 1960er-Jahren eine heruntergekommene Arbeitergegend mit Eckkneipen und Halbstarken, die in Jukebox-Kneipen herumlungerten. Der Mythos vom linken Bezirk begann in etwa zeitgleich mit der Gründung der Ton Steine Scherben. Deren reale und geistige Heimat der Bezirk wurde – und bis heute schwebt in gewisser Weise die Musik der Scherben noch über dem Kiez rund um die Oranienstraße.

Hausbesetzungen, alternative Lebensentwürfe und Hippie-Kommunen begannen im Leben linker Jugendlicher eine immer wichtiger werdende Rolle zu spielen. Man wollte anders leben als die Alten, die Scherben standen für diesen sozialen Wandel und begleiteten den Häuserkampf ebenso wie den Konflikt zwischen den Generationen, ebenso in ihren Songs wie auch ganz konkret als Teil der Szene.


Rauch-Haus-Song

Berlin und Ton Steine Scherben: Georg von Rauch-Haus, West-Berlin. Foto: Imago/Ilse Ruppert/Photo12
Georg-von-Rauch-Haus, West-Berlin. Foto: Imago/Ilse Ruppert/Photo12

Im Oktober 1972 erschien das wohl berühmteste Album der Ton Steine Scherben: „Keine Macht für Niemand“. Ein dicker weißer Pappkarton, ein kritzliger Schriftzug, drin zwei schwarze Schallplatten. Die Doppel-LP gehört zu den bedeutendsten Plattenveröffentlichungen der Ära. Der Ur-Kreuzberger Wolfgang Seidel verließ die Band und widmete sich experimentellen Erkundungen der elektronischen Musik, statt ihm trommelte kurzzeitig Olaf Lietzau. Auch Querflöte, Saxofon und Banjo kamen bei den Aufnahmen zum Einsatz. Reisers Texte rufen zu Protest und Widerstand auf.

Für Berlin sind neben legendären Liedern wie „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ und „Wir müssen hier raus!“ vor allem „Mensch Meier“ und der „Rauch-Haus-Song“ von zeithistorischer Bedeutung. In „Mensch Meier“ kritisieren die Scherben die Fahrpreiserhöhung der BVG und der „Rauch-Haus-Song“ handelt von der Besetzung des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg.


Auf dem Höhepunkt des Ruhms

Berlin und Ton Steine Scherben: Die Ton Steine Scherben, 1970er-Jahre. Foto: Rita Kohmann
Die Ton Steine Scherben, 1970er-Jahre. Foto: Rita Kohmann

In den 1970er-Jahren bildeten Reiser, Lanrue und Sichtermann das Herz der Ton Steine Scherben. Immer noch spielten sie für die linke Szene eine wichtige Rolle, traten weiterhin bei politischen Veranstaltungen auf und galten als musikalischer Arm der Bewegung, doch schon bald zeigten sich bei den Musikern erste Ermüdungserscheinungen. Auf dem dritten Album „Wenn die Nacht am tiefsten …“ kehren sie der Politik, zumindest teilweise, den Rücken und distanzierten sich von martialischen Hausbesetzerparolen und einer für die Band recht unvorteilhaften „Solidaritätsbekundung“, die bedeutete, dass die Scherben im Prinzip keinen Eintritt für ihre Konzerte verlangen durften. Hingegen entwickelte sich Rio Reiser als Songwriter, was man in Liedern wie „Halt dich an deiner Liebe fest“ nachhören kann.


Flucht nach Fresenhagen

Rio Reiser in Fresenhagen. Foto: Imago/Ulrich Gehner/teamwork
Rio Reiser in Fresenhagen. Foto: Imago/Ulrich Gehner/teamwork

1975 zogen die überforderten Musiker die Konsequenz und verließen die Mauerstadt. Die Band zog von West-Berlin auf einen abgelegenen Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen. Die Politik verlor an Bedeutung, stattdessen wurde die Musik melancholischer. Die Stadt verlor eine der wichtigsten Bands, doch schon bald sollte die aus London und New York anrollende Punk-Explosion die Berliner Musikszene in Aufruhr versetzen und das von den Scherben hinterlassene Vakuum füllen.


Abschied im Tempodrom

Der alte Standort des Tempodrom im Tiergarten, späte 1990er-Jahre. Foto: Imago/Brigani-Art
Der alte Standort des Tempodrom im Tiergarten, späte 1990er-Jahre. Foto: Imago/Brigani-Art

Ab 1975 waren die Ton Steine Scherben keine Berliner mehr, sie spielten noch bis 1985 als Band weiter, lösten sich schließlich auf und Rio Reiser gelang eine beeindruckende Solokarriere. Mit Songs wie „König von Deutschland“, „Alles Lüge“ und „Junimond“ landete er in den Charts und konnte die angehäuften Schulden seiner Band bezahlen. Ansonsten lebte er in Fresenhagen, komponierte Filmmusik, tauchte in Film- und Fernsehproduktionen auf, trat immer wieder für die Belange der Schwulenbewegung in Erscheinung und engagierte sich zeitweilig für die Grünen. 1994 erschien seine Autobiografie und ein Jahr darauf mit „Himmel und Hölle“ sein letztes Soloalbum.

Am 20. August 1996 starb Rio Reiser im Alter von 46 Jahren in Fresenhagen. Wenige Tage später fand im Tempodrom in Berlin ein bewegendes Abschiedskonzert statt, bei dem viele seiner Weggefährten und Bewunderer Songs aus seinem Solowerk und aus dem Repertoire der Scherben sangen, darunter Ulla Meinecke, Herbert Grönemeyer, Keimzeit und Marianne Rosenberg.


Ton Steine Scherben Family

Ton Steine Scherben Family. Foto: Browse Studio/Michael A. Russ
Ton Steine Scherben Family. Foto: Browse Studio/Michael A. Russ

Nach Reisers Tod arbeiteten die ehemaligen Bandmitglieder gelegentlich an gemeinsamen Musikprojekten zusammen. So entstand 1998 etwa die CD „Nachtfalter“, an der unter anderem Kai Sichtermann beteiligt war. 2005 traten die Ex-Scherben Sichtermann (Bass), Funky K.Götzner (Schlagzeug), Nikel Pallat (Gesang, Saxophon) und andere in der ufaFabrik in Tempelhof als Ton Steine Scherben Family auf. Später schloss sich auch Gitarrist R.P.S. Lanrue, der zwischenzeitlich in Portugal lebte, nun aber wieder in Berlin beheimatet ist, dem Projekt an. Für 2020 war ein Jubiläumskonzert anlässlich des 50. Jahrestags der Bandgründung vorgesehen, das aber Corona-bedingt verschoben werden musste. Das Jubiläumskonzert findet am 12. Juni 2021 im SO36 statt.


Letzte Ruhestätte in Schöneberg

Berlin und Ton Steine Scherben: Grab von Rio Reiser auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof in Schöneberg. Foto: Imago/Pop-Eye
Grab von Rio Reiser auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. Foto: Imago/Pop-Eye

Der gebürtige Berliner (*1950) starb 1996 in Fresenhagen in Nordfriesland. Wenige Tage nach seinem Tod spielten Weggefährten und Bewunderer ein berührendes Konzert im alten Tempodrom. Seine Ruhestätte hatte Reiser zuerst in Fresenhagen. Erst 2011 hat man das Grab umgebettet, seitdem befindet es sich auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, wo auch die Gebrüder Grimm und die Stereo-Total-Sängerin Francoise Cactus ihre Ruhestätten haben. Gleich am Eingang zum Alten St. Matthäus-Kirchhof lädt ein kleines Gartencafé zum kurzen Verweilen ein. Der alte Friedhof ist nicht sehr groß, hat aber einen einmaligen Charme und gehört zu den schönsten Berliner Friedhöfen.

  • Alter St.-Matthäus-Kirchhof Großgörschenstr. 12-14, Schöneberg

Gedenktafel für Rio Reiser

17 Jahre nach seinem Tod erhielt der Sänger Rio Reiser am 20. August 2013 in Berlin eine Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus am Tempelhofer Ufer 32 in Kreuzberg. Foto: Imago/epd
17 Jahre nach seinem Tod erhielt der Sänger Rio Reiser am 20. August 2013 in Berlin eine Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus am Tempelhofer Ufer 32 in Kreuzberg. Foto: Imago/epd

Denkt man an die Ton Steine Scherben und Berlin, denkt man oft auch an Kreuzberg und ganz falsch ist das nicht. Der Mariannenplatz, das Rauch-Haus und andere Orte in SO 36 sind unweigerlich mit der Geschichte der Band verbunden. Doch als im August 2013, am 17. Todestag von Rio Reiser, eine Gedenktafel an dessen ehemaligen Wohnhaus enthüllt wurde, fand die Zeremonie zwar in Kreuzberg statt, aber denkbar weit weg vom Trubel. Nicht am Kottbusser Tor oder Görlitzer Bahnhof lebte von 1971 bis 1975 der Sänger, sondern am bis heute eher unspektakulären Tempelhofer Ufer, unweit des Technikmuseums. In Kreuzberg 61!

Neben der Gedenktafel erinnert auch das Rio Reiser Sonderstipendium an den Scherben-Frontmann, vergeben wird es vom Musicboard Berlin an politisch engagierte und aktivistische Berliner Musiker und Musikerinnen oder Bands aus dem popkulturellen Bereich. Die mit 8000 Euro dotierte Auszeichnung erhielt 2020 die Berliner Königin des sozialkritischen Songs, Christiane Rösinger.

  • Gendenktafel für Rio Reiser Tempelhofer Ufer 32, Kreuzberg

Der Heinrichplatz wird (vielleicht) umbenannt

Der Heinrichplatz in Kreuzberg soll in Rio-Reiser-Platz umbenannt werden. Foto: Imago/Westend61
Der Heinrichplatz in Kreuzberg soll(te) in Rio-Reiser-Platz umbenannt werden. Foto: Imago/Westend61

Auch 50 Jahre nach der Gründung der Ton Steine Scherben und 25 Jahre nach Rio Reisers Tod, dreht sich eine Kreuzberger Debatte rund um Band und Sänger. Es geht um den Heinrichplatz, jener Ecke der geschäftigen Oranienstraße und der Mariannenstraße, die zwar Heinrichplatz heißt, an dem aber eigentlich niemand wohnt, weil die anliegenden Häuser zu den beiden Straßen gezählt werden. Der Heinrichplatz soll in Rio-Reiser-Platz umbenannt werden. Sollte, besser gesagt.

Manche Kreuzberger finden das gut und freuen sich über die Ehrung der Ikone, andere meckern und ahnen Böses. „Dann kommen ja noch mehr Touristen hierher“, schwant es ihnen und es hagelte Einsprüche von Anwohnern beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Nun wird die Umbenennung vorerst verschoben. Die Proteststimmung in Kreuzberg ist trotz Ausverkauf und Gentrifizierung eben noch lebendig, diesmal richtet sie sich aber gegen einen alten Helden.

  • Heinrichplatz (Oranien- Ecke Mariannenstraße), Kreuzberg

50 Jahre Ton Steine Scherben – 70 Jahre Rio Reiser

Fotoarbeit, die im Rahmen der Ausstellung „Wenn die Nacht am tiefsten“ in der Browse Gallery zu sehen war.

50 Jahre Ton Steine Scherben – 70 Jahre Rio Reiser: Zwei runde Jahrestage, na gut, eigentlich waren sie 2020, aber wegen Corona wurden ganz andere Veranstaltungen verschoben, so auch das Scherben-Festival „Wenn die Nacht am tiefsten“. 2021 würdigte das Programm dann mit Ausstellungen, Konzerten, Stadtspaziergängen, Performances, Lesungen und einer Schifffahrt die Ton Steine Scherben und Rio Reisers Leben und Werk.

Zudem zeigte die Galerie ZeitZone eine Ausstellung mit historischen Fotos von Ilse Ruppert – von der Premiere von „Liebe Tod Hysterie“ des Rote-Rübe-Theaterkollektivs.

Das „50 Jahre Jubiläumskonzert“ wurde auf den 15. Juli 2022 verschoben.


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