Interview

Wynton Marsalis spielt an seinem 60. Geburtstag in der Berliner Philharmonie

Wynton Marsalis ist vermutlich der bedeutendste lebende Jazzmusiker der Welt. Der Trompeter, Komponist und Bandleader wird am 18. Oktober 2021 seinen 60. Geburtstag in der Berliner Philharmonie feiern. Im tip-Interview spricht er über politisches Engagement, die Herausforderungen der Pandemie, seine neuen Alben „The Ever Fonky Lowdown“ und „The Democracy! Suite“, Donald Trump und seinen 2020 verstorbenen Vater, den Jazzpianisten Ellis Marsalis.

Wynton Marsalis. Foto: Promo
Wynton Marsalis wird an seinem 60. Geburtstag in der Berliner Philharmonie spielen. Foto: Promo

Pulitzer-Preisträger Wynton Marsalis: „Es ist wie Jazz, wir arbeiten mit der ständigen Veränderung“

Wynton Marsalis wurde 1961 in New Orleans geboren. Als Trompeter, Komponist, Bandleader und Lehrer hat er dazu beigetragen, den Jazz an die Spitze der amerikanischen Kultur zu bringen. Im April 1997 wurde er – als erster Jazzkünstler überhaupt – für sein Werk „Blood on the Fields“ mit dem Pulitzer-Preis für Musik ausgezeichnet. Der vielfache Grammy-Gewinner nahm mehrere Dutzend Alben unter eigenem Namen und mit Orchestern und Bigbands auf und spielte mit Jazzlegenden wie Art Blakey, Dizzy Gillespie und Herbie Hancock. Marsalis ist künstlerischer Leiter und Musikdirektor des Jazz at Lincoln Center Orchestra sowie Direktor der Jazz Studies an der renommierten Juilliard School in New York. Das „Time“-Magazin zählte ihn zu den 25 einflussreichsten Persönlichkeiten in den USA.

tipBerlin Herr Marsalis, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, Sie unterrichten, komponieren, spielen Konzerte. Wie organisieren Sie diese unterschiedlichen Projekte?

Wynton Marsalis So wie ich das sehe, sind das Bestandteile der gleichen Sache. Deshalb mache ich das alles, die ganze Zeit. Mein ganzes Leben wollte ich mich mit Musik beschäftigen. Ich komme aus einer Musikerfamilie, mein Vater war Musiker, ich war immer von Musikern umgeben. Diese Dinge bauen sich organisch aufeinander auf. Es ist ein großes Glück, dass ich all das tun kann und das schon seit Jahrzehnten.

tipBerlin Die letzten zwei Jahren waren von der Corona-Pandemie geprägt, es war eine einzigartige und schwierige Situation, vor allem für Künstler. Wie sind sie damit umgegangen?

Wynton Marsalis Wir waren sehr aktiv, ich habe mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra zwei Platten veröffentlicht. „The Ever Fonky Lowdown“ und „The Democracy! Suite“, wir haben Videos produziert, Texte geschrieben, das Orchester blieb bestehen, die Mitarbeiter behielten die Jobs. Es gab jeden Tag Meetings, es gab Vorträge, Diskussionen. Natürlich musste viel online stattfinden. Aber wir haben die Situation angenommen so wie sie war. Das war schwer und es ist immer noch schwer, wir sind da noch nicht durch, aber wir machen weiter. Es ist wie Jazz, wir arbeiten mit der ständigen Veränderung.

Jazz ist für Marsalis die Kunst, Beziehungen zu verhandeln

tipBerlin Ein Jazzmusiker zu sein, hat Ihnen geholfen mit der Pandemie umzugehen?

Wynton Marsalis Wir improvisieren, wir schauen, was da ist und nehmen es an und wir akzeptieren auch Notlagen. Auch im Jazz müssen wir uns ständig Problemen stellen. Komplexen Rhythmen, den verschiedenen Persönlichkeiten der Musiker, den Beziehungen zueinander. Jazz ist die Kunst, diese Beziehungen zu verhandeln. Diese Fähigkeiten halfen uns, in dieser schwierigen Zeit zu bestehen. Wir behielten unseren Optimismus und fanden einen Weg, damit umzugehen. Auch als Gruppe.

tipBerlin Sind die beiden Alben „The Ever Fonky Lowdown“ und „The Democracy! Suite“, die sie mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra eingespielt haben, in gewisser Weise eine Reaktion auf diese Notlage, in der sich die Welt befand?

Wynton Marsalis „The Democracy! Suite“ ist unsere optimistische Arbeit, ein beschwingtes instrumentales Nachdenken über die Themen, die in letzter Zeit unser Leben dominiert haben. Jazz ist die perfekte Metapher für Demokratie, das wollten wir mit der Komposition klarstellen. Doch diese Arbeit feiert eher die Demokratie. „The Ever Fonky Lowdown“ ist unser tatsächlich politisches Album. Es spricht politische und soziale Missstände an, auch Dinge, die spezifisch während der Pandemie geschehen sind. Etwa den Tod von Freunden und Familienmitgliedern, den viele Menschen erlebt haben. Aber es ging auch um Protestbewegungen, um Aktivisten, die ihre Stimme auf den Straßen erhoben. Es geht um Protest. Und es geht um die Bedeutung der Anwesenheit. Man muss präsent sein, um etwas zu bewegen.

Wynton Marsalis & Jazz at Lincoln Center Orchestra. Foto: Piper/Ferguson
Wynton Marsalis & Jazz at Lincoln Center Orchestra. Foto: Piper/Ferguson

tipBerlin Geht es auch um Donald Trump, seine Wahlniederlage und den neuen US-Präsidenten Joe Biden?

Wynton Marsalis Das Album wurde größtenteils vor der Wahl geschrieben, aber ja, ich gehe auch darauf ein. Es gibt einen Song, in dem es um Wahlen geht. Aber die Probleme wie Polizeigewalt und die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung sind älter als die Trump-Administration. BLM begann während der Obama-Jahre, das darf man nicht vergessen. Ich bin ein überzeugter Demokrat, aber ich sehe die Verantwortung bei jedem einzelnen. Als Bürger müssen wir mehr am demokratischen Prozess teilnehmen. Ich spreche hier auch von mir.

tipBerlin Als Bürger aber auch als Künstler. Würden Sie sich in diesem Sinne als politischer Künstler verstehen?

Wynton Marsalis Ich war immer sehr offen, was meine politische Haltung angeht, schon als Teenager und das hat sich nie geändert. Viele meiner Alben sind dezidiert politisch zu verstehen. Ob „Blood on the Fields“ (1997) oder „From the Plantation to the Penitentiary“ (2007) und 2020 „The Ever Fonky Lowdown“. Ungerechtigkeit, Rassismus, Ausbeutung, Protest, all das beschäftigt mich seit Jahrzehnten und es schlägt sich auch in meiner Musik nieder. Für mich gehören Kunst und Politik zusammen, aber es gibt Künstler, die das anders sehen und die sind ebenso relevant. 

„Jazz geht es so, wie es der Verfassung geht“

tipBerlin Abgesehen davon, dass Sie ein politischer Künstler sind, sind Sie ein einflussreicher, wenn nicht der einflussreichste Befürworter des Jazz im Allgemeinen. Glauben Sie, dass Jazz in der Welt eine andere Wahrnehmung hat als etwa vor 20 oder 30 Jahren?

Wynton Marsalis Ich kann nur für die USA sprechen, nicht für die ganze Welt. Aber hier geht es dem Jazz so, wie es der Verfassung geht. Wenn die Menschen an einer demokratischen Gesellschaft interessiert sind und ihre Rechte, Freiheiten und Pflichten ernst nehmen, und diese ausüben, dann wird es auch ein Interesse an Kunstformen geben, die dafür stehen. Und das ist Jazz. Wenn das Interesse an Demokratie abnimmt, geht auch das Interesse an diesen Kunstformen zurück. Es ist heute noch lange nicht so, wie ich es mir wünschen würde, aber das sind sehr lange Prozesse. Diese Prozesse hängen nicht von meiner Perspektive ab und auch nicht von dem historischen Moment, in dem ich lebe, sie hängen nur von einer Sache ab: Zeit. Ich brauchte lange, um zu dieser Einsicht zu kommen, aber all das was ich heute über Jazz weiß, lernte ich von meinem Vater und den Jazzmusikern, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich bin in dieser Kultur aufgewachsen, sie ist in mir drin.

tipBerlin Sie sprechen von Ellis Marsalis, Ihrem Vater, der im April 2020 verstarb. Er war Jazzpianist, Dozent für afroamerikanische Musik und Direktor des New Orleans Center for the Creative Arts. Was war das Wichtigste, was er an Sie weitergegeben hat?

Wynton Marsalis Mein Vater glaubte an die Musik, er glaubte an eine Art universellen Humanismus, an Lernen und Zuhören und das tat er, in der Anfangszeit, in einer schwierigen Situation, als es nur wenige Leute interessierte. Deshalb suchte er stets nach einer äußerlichen Überprüfung dessen was er als wahr empfand. Ich wuchs auf und sah, wie er das tat. Und er lehrte mich und viele andere Musiker, auf diese Weise auf die Welt zu schauen. Er weckte in mir die Leidenschaft für Jazz und das Bedürfnis, diese Leidenschaft weiterzugeben.     

„Wir sind Jazzmusiker, wir kennen die Situation, in einem leeren Club zu spielen“

tipBerlin Sind Sie deshalb sofort nach dem Ausklingen der Pandemie und den Lockerungen bei Live-Veranstaltungen auf Tour gegangen?

Wynton Marsalis Wir wollen spielen, glauben daran und brauchen das. Auch während der Pandemie haben wir live gespielt, es gab Konzerte im Stream und in diesem Jahr gab es im Sommer eine Tour durch Europa, die von der Ukraine bis zu den Kanarischen Inseln reichte. Die Situation normalisiert sich langsam, die Leute sind euphorischer, viele unserer Konzerte sind ausverkauft, aber wir sind Jazzmusiker, wir kennen die Situation, in einem leeren Club zu spielen.

tipBerlin Jetzt im Herbst kommen Sie noch einmal für einige Konzerte nach Frankreich und auch nach Deutschland. Am 18. Oktober 2021 spielen Sie in der Philharmonie in Berlin. An Ihrem 60. Geburtstag! War das geplant?

Wynton Marsalis Ja, es ist mein 60. Geburtstag (lacht). Wir spielen in einem der besten Konzerthäuser der Welt, der Berliner Philharmonie. Ich habe mit den Berliner Philharmonikern schon gespielt und habe sehr viel Liebe und Respekt für das Orchester und für das Haus. Es wird ein Geburtstagskonzert mit meiner Musik aus allen Schaffensphasen und anschließend wird es eine Party geben, ich weiß noch nicht wie und wo, aber wir werden feiern, auch auf der Bühne!


Jazz at Berlin Philharmonic: Wynton at 60

Jazz at Lincoln Center Orchestra with Wynton Marsalis Berliner Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Straße 1, Tiergarten, Mo 18.10., 20 Uhr, Tickets: 25 bis 66 €


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