Die Berliner Singer-Songwriterin Zustra wandelt zwischen den Welten – tagsüber scheibt sie als Musikjournalistin, nachts widmet sie sich der Zweitkarriere als Musikerin. Wir haben sie anlässlich ihres Debüts „The Dream of Reason“, das am 25. Februar erschienen ist, zuhause besucht.
Zustra: „Ich möchte auch noch in Ruhe meine Essigchips kaufen können“
Zur Mystifizierung der Künstlerinnenfigur Zustra würde es sicher beitragen, wenn man ihr Auftreten zum Interviewtermin mit einer Marmorstatue vergleichen würde. Nur steht sie weder in einem Atrium noch in einem Schlosspark, sondern empfängt – ungewohnt intim – in marmoriertem Sweater und passend gemusterter Leggings in etwas gedrungeneren Hallen. Kurzum: ihrer Wohnung. Für eine abendliche Parkbegehung ist es zu stürmisch.
Gleichermaßen verlegen wie aufgekratzt zeigt sie die Einrichtung: in der einen Ecke das Klavier, schräg gegenüber der Schreibtisch mit kleinen Monitorboxen, mittig und besonders präsent die ausladende Kleiderstange, schillernd wie schimmernd behangen. Die Grenzen zwischen Bühnen- und Alltagsoutfit wirkten selten so weich wie bei diesem Anblick. Ist das die Garderobe eines werdenden Popstars? Entschlossener Widerspruch: „Ich möchte Musik professionell machen. Ich hab kein Bedürfnis nach Ruhm, aber ein sehr großes Bedürfnis danach, dass ich meine Musik zeigen darf und davon leben kann – das ist einfach das Erfüllendste, was es gibt.“ Aber „mich muss mich nicht jede:r kennen“, legt sie ihre Prioritäten fest, denn „ich möchte auch noch in Ruhe meine Essigchips kaufen können.“
Ihr Debüt-Album derweil schlägt ganz andere Töne an: „The Dream of Reason“ schillert nur so vor ausladenden Arrangements, mal zersägt von übersteuerten Synths und schneidenden Drums, mal sich in ruhigen Balladen entfaltend. Stücke, die nach massig Airplay und Hauptbühne klingen, lösen solche ab, die sich nach Clubkonzert und Playlists für den sommerlichen Liebestaumel anhören – ein Spagat, der sich auch bei anderen Vertreter:innen des Bombast-Pops findet.
Berliner Musikerin Zustra mit Debüt-Album: Aufbruch und Ausbruch
Tatsächlich markiert Zustras Debüt nicht nur klanglich Aufbruch und Ausbruch. Tagsüber arbeitet sie unter vollem Namen Ariana Zustra zumeist als (Musik-)Journalistin, 2020 gewann sie als solche bereits einen Preis. Ihre Karriere baut auf ein Studium der Kulturwissenschaft und Soziologie, auf Vertiefungen in Slawistik, Literatur und Rhetorik, auf Ausbildungen als Reportagejournalistin und als Musikjournalistin. Nachts tauscht sie die Rollen und wird „dieses Musikwesen”, wie sie sich selbst nennt, mittlerweile nicht mehr aufgeregt durch den Raum tänzelnd, sondern auf dem Boden sitzend, die Hand voll Kartoffelchips – Sorte „Salz & Essig“ –, die sie zufrieden in sich hineinknuspert.
„Als ich mich das erste Mal getraut hab’, anderen meine Musik zu zeigen, hätte ich das niemals als Karriereoption erwogen“, sagt sie, „auch weil ich aus einem nicht-akademischen Haushalt mit Fluchterfahrung komme. Das prägt schon, dieses unbedingte Streben nach Sicherheit.“
Und dennoch treibt es sie seit ihrer Kindheit immer wieder dazu, Unausgesprochenes in Klänge zu verwandeln – und diese dann auch aufzuzeichnen. Mit fünf Jahren klimperte sie erstmals auf einem Keyboard rum, mit neun bekam sie die Gitarre aus dem Keller des Großvaters und schrieb ihr erstes Stück, ohne Noten noch, aber mit Schaubildern für Tonlagen. „Ich hab mir zwar immer eingeredet, dass das ’ne Flause ist, aber gleichzeitig auch immer damit weitergemacht“, gesteht sie.
Obschon Ariana Zustra manchmal fast introvertiert wirkt, wäre ein anderer Weg als der zum Albumrelease kaum denkbar. Das merkt man, je mehr sie erzählt. Die lauten Farben, die Pailletten, die Muster auf ihrer Kleiderstange konterkarieren bereits ihre selbst attestierte Scheuheit. Insbesondere die Erörterungen zur Entstehung ihrer Songs aber zeigen: Sie kann nicht anders. Ihr Betriebsgeheimnis: das Unterbewusstsein. „Meine Songs enstehen daraus, immer!“, insistiert sie, und berichtet mit leuchtenden Augen vom regelmäßigen Abdriften in eine „andere Zwischenwelt“, die sie für Nicht-Zustras mit der Wanderschaft des Geistes beim Abspülen oder Fahrradfahren vergleicht.
„Ich habe oft das Gefühl, dass ich eine Art Schwamm bin und Dinge einfach aufsauge“
„Das passiert auch allzu oft im Supermarkt oder mitten im Gespräch, Freund:innen von mir wissen, das kann quasi immer passieren.“ Sie kann dann nicht mehr zuhören und muss möglichst schnell die Melodien in ihrem Kopf einsingen, sonst plagt sie die Angst, einen Song wieder zu verlieren. Wie um das zu beweisen, springt sie auf – sie hat Lust auf Honig –, nimmt sich einen Löffel, lobt die „flashy“ Qualität des Imkererzeugnisses und findet vor lauter Lust am Essen nur schwerlich – „der lenkt mich total ab, ich muss den schnell aufessen!“ – wieder zu ihrer anderen Manie zurück. „Ich habe oft das Gefühl, dass ich eine Art Schwamm bin und Dinge einfach aufsauge“, sagt sie zu letzten Resten Honig.
„Die Melodien, die dann kommen, ich höre in meinem Kopf schon das komplette Arrangement, die Drums, die Synthesizer, die Streicher.“ Dem zu begegnen, sei das eigentliche Kunststück. „Die Aufgabe ist nicht: Wir gestalten einen Song. Sondern die Aufgabe ist: Wir müssen den Song aus dem Kopf downloaden.“ Dabei hilft ihr stets Danny Weber, der die meisten Tracks im Studio mitproduziert hat und die analoge Schnittstelle zu den Eigenheiten Zustras als menschlichem Arbeitsspeicher darstellt. „Das geht so weit, dass ich sagen kann, der Synth klingt noch metallisch, ich will aber, dass er nach Rauch klingt.“
Zustras „The Dream of Reason“: Das Maritime als Metapher
Elemente sind ihr wichtig, besonders das Wasser. Es spielt in Songtiteln, in Textzeilen und ihren Videos eine schier omnipräsente Rolle. So präsent, dass sie, darauf angesprochen, erst einmal einen Schrei der Überforderung ausstößt – und dann weit ausholt. Die weltliche Antwort auf die Frage, warum ihr Wasser so wichtig ist: Ihr Geburtsort ist das maritime, südkroatische Dubrovnik am Adriatischen Meer, sie ist am und im Wasser aufgewachsen, ihre Verwandschaft fischt. Die andere, mythologischere Antwort wiederum: „Wasser ist ja auch Leben, die ultimative Metapher für Lebendigkeit“, sagt sie, und fährt bis zum theatralischen Ende ihrer Aufzählung fort: „Wasser kann Leben geben und nehmen, kommt in allen Aggregatzuständen daher, ist dunkel und hell. Es ist das Verbindendste, was es gibt.“
Und so ist es nur logisch, dass das Interview des Doppelwesens, als das sie sich sieht (Journalistin Ariana Zustra und Musikwesen Zustra), vor einem hölzernen Periodensystem in ihrer Küche endet. Mit einer Lobpreisung von Edelgasen und, natürlich, Wasserstoff. Alles, was auf den abschließenden Eingangssatz „Wie geil ist denn auch Wasserstoff, bitte?!“ folgt, kann man in allen Details auf ihrem Instagramaccount in Erfahrung bringen: Dort verschränkt sich die Erscheinung der Kunstfigur mit Exkursen in die Chemie und Inhalten, die auch wirklich wichtig sind: Knusperkram, Esel – und, letztlich, ihre Musik.
- Zustra „The Dream of Reason” (Motor Entertainment), erschienen am 25.2.22
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