Pop-Kultur 2019

Planningtorock spielt bei der Pop-Kultur 2019

Meine unendlich vielen Stimmen: Musiker*in, Brit*in, Berliner*in: Planningtorock ist eine persönliche ­Geschichte, die zur Kunstperformance wird und sich dabei nicht nur den ­Genderkonventionen entzieht. Damit steht ­Planningtorock exemplarisch für die Diversität des Pop-Kultur Festivals

Foto: Goodyn Green

Es ist so etwas wie ein Kurzschluss der ­Bipole, der zur Explosion der Ichs führt. Es ist der Versuch, die unendliche Vielfalt der einzelnen Person sichtbar und hörbar zu machen. Da, wo die Konventionen nur Einförmigkeit oder Gegensätzlichkeit zulassen. Planningtorock, das ist Sehen und Hören außerhalb von Oben und Unten. Das ist ­Musik, aber es ist auch eine Geschichte. Eine experimentelle Erzählung, die das Bekannte hinter sich lassen will, um bei sich selbst zu sein.

Hinter dem Ein-Person-Projekt Planningtorock verbirgt sich Jam Rostron, Musik- und Videokünstler*in, Non-Binary-Performer*in, Brit*in, Berliner*in. Wobei, ist das richtig? „Verbirgt“ sich die Person hinter dem Projekt? Jam Rostrons Performances haben nichts von Verbergen, eher von radikaler Präsenz. Aber wo verläuft die Grenze zwischen Person und Projekt?

„Jam ist ein eher privates Ich“, sagt Rostron selbst. „Aber Planningtorock ist der Ort, an dem Jam erst richtig existieren und wachsen konnte.“ Planningtorock ist Musik, ist ­Spoken Word, ist Video- und Performancekunst. Und in der Mitte steht die Person Rostron, für ­gewöhnlich optisch und akustisch verändert. Wahlweise durch Masken, Gesichtsprothesen, durch Projektion und durch – dafür ist Planningtorock wohl am bekanntesten – das Spiel mit der Stimmfrequenz.

Jenseits der binären Geschlechter

Vor über zehn Jahren beginnt Rostron, mit tontechnischen Effekten zu experimentieren, um die eigene Stimme künstlerisch zu verändern. Zunächst sei das gar nicht geplant gewesen. Rostron saß im Studio und war ­dabei, den Song „Doorway“ für das Album „W“ aufzunehmen, eine marschhafte Technoballade. „Ich habe immer mit dem Sound herumgespielt. Ich habe extra hoch gesungen und die Tonhöhe dann runtergeregelt.“ Das Ergebnis überwältigt Rostron. „Es war, als würde ich mich zum ersten Mal wahrhaftig hören“. Sich selbst erkennen im Produkt eines technischen Eingriffs? Die Frage ist hochaktuell, denn es gibt so etwas wie einen kleinen Kulturkampf zwischen dem Künstlichen und dem, was wir „organisch“ nennen oder „natür­lich“ oder „ursprünglich“. Viele Menschen ­haben ein Unbehagen bei technischen Eingriffen in den Körper. Es gibt eine Sehnsucht nach Natur, sichtbar derzeit an Moden, Frisuren, Ernährungstrends, an allen möglichen Produkten.

Und das obwohl – oder gerade weil – die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, wir alle, ­unsere Körper, unsere Gedanken und Gewohnheiten, längst durchdrungen sind von Technik, ob mechanisch oder digital. Die Sehnsucht nach einem verbliebenen Teil ­unserer Existenz, den man „natürlich“ nennen mag, erzeugt Gegenwehr gegen die Technik. Digitaler Fortschritt, Medikamente, Hormone, industrielle Lebensmittelproduktion werden beargwöhnt. Natürlich und handgemacht, das ist in.

„Ich habe ein Problem mit dem Wort ­‚natürlich‘“, sagt Rostron auf die Frage, ob ­solche Kategorien für Planningtorock Bedeutung haben. „Ich weiß nicht, was das heißen soll. Es geht da immer um eine Hierarchie, um etwas, das besser oder schlechter ist an uns. Und an Hierarchien glaube ich nicht.“ Inzwischen ist die veränderte Stimme zu einem Erkennungszeichen von Planningtorock geworden. Mit Effektpedalen kann Rostron die Transformation auch in die Live-Auftritte einbauen. Durch die Technik performt sich Planningtorock als Mensch, der mit den binären Geschlechtern nicht bloß spielt, ­ihnen nicht bloß entflieht, sondern sich jenseits von ihnen frei bewegt. Fließt, sozusagen, als menschlicher stimmlicher Sound, der erst freigelegt werden muss unter den Konventio­nen des Hörens. Verfremdung könnte man das nennen. Aber die Stimme von Planningtorock klingt weder fremd, noch entfremdet sich Rostron von sich selbst.

Sich selbst erschaffen

„Eins ist mir wichtig zu sagen“, sagt Rostron. „Ich mag meine Stimme. Auch dann, wenn sie unverändert ist. Aber das Spielen mit Frequenzen hat mir gezeigt, dass ich viele Stimmen habe. Zum Beispiel die mit dem Dialekt aus Bolton. Die Erkenne ich in manchen Aufnahmen plötzlich wieder.“

Bolton ist eine Stadt in der Nähe von Manchester. Rostron wächst dort in einer Familie der Working Class auf, der Arbeiterklasse – in Großbritannien bedeutet der Begriff noch mehr als hierzulande. Eine alleinerziehende Mutter und eine Schwester mit Asperger-Autismus, die in der Schule auf Hürden stößt. Die zwei Personen aus der Familie sind ­immer wieder Teil von Rostrons Kunst. Das aktuelle Album „Powerhouse“ ist ein Tribut an die Mutter, an die „community of care“, die Fürsorgegemeinschaft, die sie aufgebaut hat.

Rostron studiert Videokunst in Sheffield und kommt Anfang des Jahrtausends nach Berlin. Berlin habe sich zu diesem Zeitpunkt wie „wiedergeboren“ angefühlt. „Die Stadt war voller besetzter Häuser und es erinnerte mich an Manchester, mit all diesen Räumen für Partys und Musik. Mein Dialekt, meine Klassenherkunft, das alles war plötzlich egal, die Leute in Berlin hat das nicht interessiert“.

Aktuell versucht Rostron, noch mehr von der eigenen Geschichte in die Performances zu bringen. Das Publikum noch direkter ­anzusprechen. Nicht nur durch Songs, ­sondern auch mit Spoken Word, Anekdoten, Geschichten aus Rostrons Leben. „Das hat mich zunächst nervös gemacht, denn ich fühle mich dadurch verletzlicher. Aber derart verletzlich zu sein, ist auch ermächtigend“.

Ermächtigend ist für Künstler*in und Mensch Jam Rostron auch das ganze Projekt Planningtorock gewesen. Als Autodidakt*in, als Schulabgänger*in fand Rostron zunächst keinen Zugang zum Arbeitsmarkt – außer zu schlecht bezahlten Aushilfsjobs. „Ich habe mir meine Arbeit selbst erschaffen. Planningtorock hat mir letztlich mein Leben gegeben – und einen Job“.

Planningtorock lädt nicht nur dazu ein, sich die vielen Stimmen von Jam Rostron reinzuziehen. Sondern auch dazu, sich als Zuhörer*in all den vielen eigenen Stimmen zu öffnen. Auch jenen, die man ohne Hilfsmittel zunächst nicht hören kann. „Je mehr Stimmen wir haben, desto besser“, sagt Rostron. Das macht gleich Lust, sich ebenfalls auszudrücken. Und das ist bei Performances alles andere als selbstverständlich.

Kesselhaus in der Kulturbrauerei, Knaackstr. 97, Prenzlauer Berg, Do 22.8., 22.50 Uhr

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