Das Festival Q3Ambientfest zelebriert so genannte Neoklassik jenseits der Easy-Listening-Playlist
Die Brüder Sebastian und Daniel Selke mögen es, in Dualismen zu denken, in Gegensätzen, die einander bedingen. Ohne Schwarz kein Weiß, ohne Osten kein Westen, ohne Daniel kein Sebastian. Als CEEYS bilden die beiden ja selbst ein Duo, bestehend aus Cello und Keys, also Klavier. Und jede Zahl, die durch zwei teilbar ist, ist ihnen lieber als jede ungerade. Deshalb freuen sie sich schon jetzt auf das Jahr 2020, das für sie ein ganz besonderes werden wird. Vorher aber müssen sie durch dieses ungerade, verquere 2019. Es gibt jedoch gute Gründe, die dafür sprechen, dass auch dieses Jahr ein gutes wird. Es wird ein neues CEEYS-Album bringen, zu dessen Veredelung sie gerade erst im Funkhaus Nalepastraße waren und über das noch so manches zu sagen sein wird. Und Mitte April laden sie zur dritten Ausgabe ihres Q3Ambientfests in die Fabrik Potsdam.
In Potsdam deshalb, weil sie dort leben. Und weil sie die gegensätzliche Architektur der Stadt so schätzen, diese Mischung aus vornehmem Neoklassizismus und weniger vornehmen Plattenbauten. Q3 steht ja auch für Querwandbau, einen DDR-Plattenbautyp, in dem sie selbst groß geworden sind. Damals in Hellersdorf, wo sie sich durch die dünnen Wände der familiären Vierraumwohnung gegenseitig haben spielen hören. Die Architekten dieser steingewordenen sozialistischen Utopie wollten es, dass sich in der Mitte einer Plattenbausiedlung ein Spielplatz befand. Davon inspiriert haben Sebastian und Daniel Selke für ihr Festival nun auch eine Art „Playground“ vorgesehen, in dem alle Musikerinnen Platz finden und spielen sollen. „Alle spielen in einem einzigen Set-Up, in das alle Instrumente integriert sind“, erklärt Sebastian Selke. „Es geht uns um Kommunikation und Austausch.“ Wer das Instrument wechseln, vielleicht sogar das eines anderen Musikers spielen will, kann das problemlos tun. Aus Ungarn wird dafür sogar ein ganz besonderes Klavier aus Metall angeliefert: das sogenannte „Una Corda“. Und darüber hinaus ein LYRA-Synthesizer der russischen Firma SOMA, hinter der sich der ukrainische Radiomoderator Vlad Kreimer verbirgt.
Auf der Liste der eingeladenen Künstlerinnen finden sich – wie sollte es anders sein – eine ganze Reihe Duos, darunter Pianofield aus England, die schottischen Zwillingsbrüder Kinbrae, die Schweden Jakob Lindhagen & Vargkvint – und AVA, das Duo der Geigerin Anna Phoebe, die schon mit Roxy Music in der Welt unterwegs war, und der in Berlin lebenden Pianistin Aisling Brouwer, die sonst vor allem Filmmusik komponiert. Besonders wichtig war den Selke-Brüdern ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis mit exzellenten Musikerinnen: vorneweg die britische Pianistin Poppy Ackroyd, die nicht nur zur Live-Besetzung des Hidden Orchestra gehört, sondern auch als Solokünstlerin unterwegs ist. „Sie macht in Personalunion das, was wir zu zweit machen“, sagt Sebastian Selke. Was ihm an der 37-Jährigen besonders gefällt: Sie steht zu ihrem klassischen Background, bindet dabei aber auch Elektronik mit ein. Ihre Stücke sind experimentell, bleiben aber zugänglich. „Jenseits von Frahm und Arnalds hat sie ihren ganz eigenen Stil gefunden.“ Ebendas zeichnet auch die in Neukölln lebende Weißrussin Galina Ozeran aus, die unter dem Namen Chikiss eigenwillige sphärisch-schwebende Geisterlandschaften kreiert und dabei – wie die Selke-Brüder – auf sowjetische Synthesizer wie den analogen Polivoks zurückgreift.
Poppy Ackroyd und Chikiss verdeutlichen, worauf es den Brüdern bei der Zusammenstellung des Programms ankommt: „Das sind fast ausschließlich Intrumentalkünstlerinnen, die sich treu bleiben und nicht auch noch singen müssen, um einer breiteren Masse zu gefallen.“ Zugleich wollen sie ihren Gästen den Raum geben, sich auszuprobieren. Das Q3Ambientfest soll ein Sprungbrett sein, eine Art „Vorshow“, wie Sebastian Selke formuliert. „Viele, die bei uns gespielt haben, sind wenig später durchgestartet“, ergänzt Daniel. Das sei eben nur möglich, solange das Festival übersichtlich bleibe und nicht zum Mega-Event werde. „Es soll nicht erschlagen, sondern gerade so groß sein, dass wir es noch zu zweit stemmen können“, sagt Sebastian. Auch der Monat April sei bewusst ausgewählt: „ein hybrider Monat, in dem mal die Sonne scheint, mal Schnee fällt.“ Ein Monat also, der von metereologischen Gegensätzen gekennzeichnet ist und der einen im Unklaren darüber lässt, was von ihm zu erwarten ist: Sonne oder Regen, Gewitter oder Schnee? Oder beides zugleich?
Klar ist: Dass die Brüder in diesem Jahr ihre Anthologie fortführen werden, ihr groß angelegtes Erinnerungsprojekt, das 2017 mit „Concrete Fields“ seinen Anfang nahm und dessen zweiter Teil im vergangenen Jahr das Album „WÆNDE“ war – eine Rückbesinnung auf ihre Kindheit in den Wänden der Hellersdorfer Plattenbauwohnung und auf das Wende-Jahr 1989. „Das war ein leises, gedämpftes Album“, sagt Daniel Selke. Es handelte vom Eingesperrtsein, von der Enge, aus der heraus sie kreativ geworden sind. Der dritte Teil erzählt nun von der Zeit nach dem Mauerfall, von der neu gewonnenen Freiheit und Weite: „Unsere Eltern haben uns aus der Schule genommen und sind mit uns durch die Welt gereist“, sagt Sebastian. „Denn plötzlich war das möglich.“ So reiste die Familie ins portugiesische Sagres, an den südwestlichsten Punkt Europas, nach Afrika und Asien. „Eigentlich haben wir nur Australien ausgelassen“, sagt Daniel. „Deshalb ist dieses Album ein Travel-Album.“ Benannt ist es nach dem Sehnsuchtsort, an den sie sich schließlich zurückwünschten: Hiddensee, die kleine Ostsee-Insel. Auch darin liegt ein spannender Gegensatz: Liest man „Hiddensee“ als englischen Begriff, bezeichnet er etwas Verstecktes, das man doch sieht. Solche Wortspiele lieben die Selke-Brüder, die immer noch die „Ostjungs aus dem Plattenbau“, zugleich aber in der Welt zuhause sind.
Fabrik Potsdam Fr 12.4.–So 14.4., Schiffbauergasse 10, 14467 Potsdam, VVK 22 €