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Steve Morell – Wenn Haltung sich doch auszahlt

Musik-Produzent Steve Morell war pleite und krank. Dann begann seine Karriere als Supermodel

Patrick Citera / patrickcitera.com

Als die Anfrage von Balenciaga kam, dem legendären Pariser Modehaus, ging es Steve Morell schlecht. Verdammt schlecht sogar. Mit seinem Einmann-Musiklabel Pale Music fand er sich in derselben Situation wieder wie viele andere Plattenproduzenten, seitdem das Internet der größte Musikverkäufer der Welt ist: Er war pleite. Steve hatte Schulden, die er jeden Monat abstottern musste.

Morell ist bekannt dafür, dass er hoffnungsvolle Elektro-Projekte zu Helden der Clubmusik gemacht hat. Außerdem hat er Songs und Platten von Berliner Ikonen wie N. U. Unruh von den Neubauten und New-Wave-Ikone Bettina Köster verlegt. Mit ihr hat er mitten im Schlamassel sogar noch ein Album produziert. „Okay, Bettina das machen wir, aber ich bin echt am Ende“, habe er zu ihr gesagt, erzählt Morell. Und fährt sich dabei so ruckartig mit der Hand an den Hals, als wolle er ihn durchschneiden.

Erst der drohende Bankrott von Pale Music. Dann hatte Steve Morell plötzlich ein Loch im Gesicht. Und keine Krankenversicherung. Die konnte er sich wegen der Schulden nicht leisten. Bis ihn im April 2016 mehrere Bekannte vom SO, vom Südblock und Möbel Olfe auf einer Book-Release-Party im SO36 bearbeiteten: Steve, du musst zum Arzt gehen. Freunde verschafften ihm einen festen Job in der Clubszene, endlich eine Krankenversicherung. Er ging zum Arzt. Hautkrebs. Noch vier Wochen, dann kann der streuen, hieß es.

Wie kriegt einer wie Steve Morell, der 48 Jahre lang vor allem nachts gelebt hat, Hautkrebs? Durch einen entzündeten Stiftzahn, der sich seinen Weg ins Fleisch gebohrt hat. Bis zum Loch im Gesicht. Es folgten sieben OPs. Steve sucht die Fotos auf seinem iPhone. Die letzte Operation war plastische Chirurgie, die Narbe ist auch aus der Nähe kaum noch zu erkennen. Sie brauchen ja ihr Gesicht, habe der Arzt zu ihm gesagt. Und das brauchte Steve tatsächlich. Zwei Wochen nach dieser letzten OP kommt die Anfrage, ob er für Balenciaga in Paris laufen möchte – der Einstieg in den Olymp der Modebranche. Steve Morell hatte immer noch die fette Narbe im Gesicht. Doch seine Agentin Dana sagt: Steve, du hast Haltung, du siehst gut aus, das kriegst du hin.

Morell war zwar schon länger bei Danas Agentur Izaio, aber er hatte vorher nur zwei Aufträge bekommen. In einem Video von Kayne West hat er Klavier in einem goldenen Anzug gespielt und in einen Kinospot einen Serienkiller, beides exzentrische Rollen. Gemodelt hatte er noch nie. Doch die Headstylistin von Balenciaga hatte ihn in der gemeinsamen Freundesliste auf Facebook gesehen – und wollte ihn unbedingt buchen.

„Da komm ich also tatsächlich in diesem Schloss mitten in der Stadt an – das Balenciaga-Headquarter ist ja genauso gut bewacht wie der Deutsche Bundestag“, erinnert sich Steve Morell fasziniert. Er übt den Catwalk auf dem Gang zur Toilette. Und besteht vor dem einflussreichen Balenciaga-Chefdesigner Demna Gvasalia. „Ich habe mir gesagt: „Was willst du Steve, du warst noch nie weiter, das nimmst du jetzt als ganz normal.“ Gvasalia fand es cool, dass Steve Musiker ist. Der „Guardian“ hat Morell gleich interviewt. So hat vor zwei Jahren im Januar seine Supermodel-Karriere begonnen. Super ist sie nicht wegen der Gage, sondern wegen der Anerkennung. In seiner Altersklasse rangiert Steve Morell ganz oben, läuft jede Saison für Balenciaga, arbeitet für Saint Laurent, Yang Li, Marcello Burlon und William Fan. Er macht Werbefilme für die Amazon Prime Serie „Beat“ und Jägermeister. Er ist in der „Vogue“, im „Ansinth Magazine“, auf dem Cover der aktuellen „Numero“. Es hilft, dass sein Typ wieder gefragt ist: der androgyne 80er-Jahre-Mann. Dass er mit 50 noch so schlank ist wie mit 17, ist auch kein Nachteil. Dafür muss er gar nichts tun. Morell schwimmt im Sommer ab und zu im Prinzenbad. Er hat das Rauchen aufgegeben. Drogen nimmt er schon seit 1994 nicht mehr. Und Party-Exzess, das ist nicht drin, wenn er zwischen den Modenschauen hin und her jettet.

Zwei Jahre ist die Anfrage von Balenciaga her. Seitdem hat sich für Steve Morell viel verändert. Pale Music läuft auf Sparflamme, aber er hat ein Album mit eigenen Songs aufgenommen. Die Kassiererin im Rossmann erkennt ihn. Sein Instagram-Account platzt vor Likes. Drei Krebs-Nachuntersuchungen sind gut verlaufen. Und wenn er vom fast irrealen Catwalk in Paris nach Berlin zurück ist, geht er auf der Oranienstraße, wo ihn jeder kennt, ein kleines Bier trinken.

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