Platten im Test

Alben der Woche: Alicia Keys enttäuscht, aber Fenne Lily fetzt

Ach je, was hatten wir nicht für Hoffnungen in das neue Album von Alicia Keys gesetzt, nachdem es mehrere Male geschoben wurde! Von ihren Skills her hätte die R&B-Sängerin mit dieser krassen Stimme mit ihren Dance-Hymnen sogar das alsbald kommende House-Album von Róisín Murphy in den Schatten stellen können. Hätte, hätte, Fahrradkette. Ist leider nicht passiert.

Kann nicht immer klappen: Das neue Album von Alicia Keys ist eher wenig berauschend. Foto: RCA/Sony

Doch wir haben Ersatz: Die Songwriterin Fenne Lily ist ein phantastischer Geheimtipp und hat ihr Debüt noch mal übertroffen. Die Flaming Lips sorgen zuverlässig für psychonautische Trips. Butcher Brown huldigen dem Funk. Everything Everything machen Radiohead Konkurrenz. Und der Schöneberger Rapper Monk ist unser neuer Local Hero für die Bluetooth-Boxen in den Parks. Aber bitte mit Melancholie, unter dieser intensiven Spätsommersonne.


Alicia Keys: „Alicia“ (Rca/Sony)

R&B-Pop Alicia Keys, wo hast du die Schlüssel zu unseren Herzen verlegt? Das darf doch nicht wahr sein! Was für ein Fall! Alicia Keys, berühmt geworden 2001 durch ihre Debüt-Single „Fallin'“, zählt wirklich zu den großen sympathischen Menschen im Pop-Biz, nicht erst seitdem sie 2019 beim 50-jährigen Jubiläum der queeren Stonewall Riots in New York performte; man wünscht Alicia Keys nur Gutes, und ihr 2016er Vorgänger „Here“ ist immer noch ein Hammer-Album mit seinem House-Beat-getriebenen R&B, auf dem die Stimme von Alicia Keys jederzeit dringlich klang. Aber genau deshalb war die Messlatte fürs nunmehr siebente Studio-Album der klassisch trainierten Pianistin auch so hoch – und Alicia Keys, man muss es so sagen, reißt die Latte, leider.

„Alicia“, ausgerechnet das nach ihr selbst benannte, verlixte siebente Album, klingt nach Konfektionsware fürs Konsensradio – so als wären ihr, deren Stimme freilich immer noch überaus schön ist, die Lieder einfach egal: dahinlullende Balladen („Show Me Love“), die Kitschschmelz wären, wenn sie nicht zu Sahnesteif geraten wären; und Wannabe-House-Nummern („Time Machine“, „Authors of Forever“), die im Prinzip schon die Ingredienzien haben für einen mitreißenden Hit, aber in der Produktion leider, wie beim Adlerlass, entblutet wurden. Alicia, wo hast du die Schlüssel zu unseren Herzen verlegt? Das Gute: Verloren geglaubte Schlüssel sind ja fast nie wirklich verloren, sondern meist nur unachtsam kurzfristig abhanden gekommen – und dann bald wieder da. (Stefan Hochgesand)


Fenne Lily: „Breach“ (Dead Oceans / Cargo)

Singer-Songwriterin Wer „On Hold“, das Debütalbum von Fenne Lily kennt, der dürfte sich nun wundern über den Nachfolger „Breach“. Aus einer netten, aber halt auch ein wenig braven Singer-Songwriterin aus Bristol ist eine selbstbewusste Musikerin geworden, die das Tempo anzieht, Gitarren auch mal böse verzerrt und eine gesunde Portion miese Laune in das bislang arg süßliche Auftreten mischt. Bestes Beispiel für die neue Fenne Lily ist die Anti-Bodyshaming-Hymne: „I Used To Hate My Body But Now I Just Hate You“. (Thomas Winkler)


The Flaming Lips: „American Head“ (Pias Coop / Bella Union / Rough Trade)

Psych-Folk Von grenzenloser Liebe, Nahtoderfahrungen und Wanderreisen auf fremden Planeten singt Wayne Coyne, Sänger der Flaming Lips und blumigster Mystiker im Garten des psychedelischen Pop. Die schwerelosen Lieder auf dem neuen Album der Band aus Oklahoma sollen Entdeckungsreisen sein – eine Psychonautik zwischen Traumdeutung, LSD-Epiphanie und kosmischen Ganzheits-Fantasien. „American Head“ heißt das Werk, und dessen Expeditionen in tiefere Bewusstseinsschichten bilden auch ein Gegenprogramm zum autoritären Trump-Amerika. In der Ich-Auflösung liegt die Befreiung von Fesseln und Konventionen, lautet das Versprechen. Eine Reprise der Hippie-Philosophie in den späten 60ern und frühen 70ern. Die Song-Partituren dieses Trips sind getragen von sachten Percussions, Chören und viel Hall. Edel erscheint das alles, in den gedämpften Sphärenklängen verwischen nur manchmal die Konturen. (Philipp Wurm)


Butcher Brown: „#King Butch“ (Concord Jazz / Universal)

Funk-Fusion THIS is America! So häufig wie der Name Trump und neue Fälle von rassistischer Polizeigewalt einem tagtäglich in den Nachrichten begegnen, vergisst man gerne mal die positiven Seiten der USA. Abhilfe bei der Erinnerung daran schafft die neue Platte des fünfköpfigen Fusion-Gespanns Butcher Brown aus Virginia. In einer knappen Dreiviertelstunde erteilt die Band ansprechenden Nachhilfeunterricht in afroamerikanischer Musikgeschichte der letzten sechs Jahrzehnte.

Ohne sich ganz in ein Genre fallen zu lassen, hangelt sich das Quintett von Hip-Hop über rockigen 70’s Funk zu modernem Jazz und wieder zurück. Das volle Soundgemisch aus akustischen Lo-Fi Drums, rhythmischer E-Gitarre, Bläsern und Keyboard wird zuweilen durch unaufdringlichen Rap ergänzt und erinnert sowohl an zeitgenössische Künstler*innen wie Robert Glasper oder Terrace Martin als auch an Klassiker von Herbie Hancock oder Earth, Wind & Fire. Allerdings sind wirklich herausstechende Highlights wie die Bossa-Nova-Trap Nummer „Gum In My Mouth“ und der befreite Spoken-Word Jazz in „Hopscotch“ eher rar – und so erfindet „King Butch“ das Rad vielleicht nicht neu, aber zeichnet doch einen ziemlich professionellen Querschnitt neuer und alter Spielarten von Hip-Hop, Jazz und Funk, der einen gerne mal wieder in Richtung USA. aufhorchen lässt. (Linus Rogsch)


Everything Everything: „Re-Animator“ (AWAL / Rough Trade)

Math-Rock Beginnen wir diese Plattenkritik mit einem wissenschaftlichen Exkurs. Im Mittelpunkt stehen die Higgs-Teilchen, jene kleinen, physikalischen Einheiten, die der Materie im Raum, den Elektronen etwa und anderen Elementarteilchen, die nötige Masse verleihen – ähnlich wie Bleikugeln. Andernfalls würden sie in Lichtgeschwindigkeit durch die Atmosphäre irren. Die Ordnung im Bauplan der Natur wäre nur noch ein frommer Wunsch. Warum dieser Crash-Kurs von Interesse ist? Weil der Sänger von Everything Everything, der Math-Rock-Band aus Manchester, die kleinen Helfer im Namen trägt. Jonathan Higgs heißt der Mann; diese Analogie ist einerseits ein Zufall, denn mit dem namengebenden Entdecker der Higgs-Teilchen, dem Nobelpreisträger Peter Higgs, steht der Musiker in keinerlei Verwandtschaftsverhältnis. Andererseits ist die Namensvetternschaft aber auch kein Fanal der Bedeutungslosigkeit.

Auch die Songs, die Higgs mit seinen Bandmates von Everything Everything entwickelt, sind ausbalancierte, feinmaschige Gewebe, in diesem Fall aus Indiepop, Post-Wave und Disco – stimmig wie ein Modell in der Teilchenphysik. Auf dem neuen Album „Re-Animator“ ist diese Anordnung sogar ein Verfahren, das zur Habilitation im Professoren-Pop reichen könnte. Selbst wenn der schöpferische Jonathan Higgs in anderer Hinsicht ein Schlingel ist. Immer wieder imitiert er den Falsettgesang von Radioheads Thom Yorke. Aber gut: talent borrows, genius steals. (Philipp Wurm)


Monk: „Hellwach“ (BHZ / Sony)

Hellwach [Explicit]

Deutsch-Rap Erst im Mai veröffentlichte die aufstrebende Schöneberger Rap-Crew BHZ ihr aufsehenerregendes Album „Kiezromantik“, das von dem freiheitliche Lebensgefühl junger Menschen erzählt, die fernab ökonomischer Zwänge ihre Jugend zwischen Drogen, Freundschaft und Erfolgshunger zelebrieren. Nun veröffentlicht Monk mit „Hellwach“ ein Album, das nicht den Versuch unternimmt sich von der Band zu emanzipieren, sondern stattdessen mit zahlreichen BHZ-Features einen melancholischeren Blick hinter die Kulissen wagt. „Zurück“ handelt von der Suche nach Sinn in Momenten, in denen sich auch Monk nicht für Partys und Drogen begeistern kann. Monk meint darin: „Mein Ziel ist, dass ich lieber im Leben bin als im Traum“ Es scheint, als würde auch BHZ mal mit dem Leben struggeln. Eigentlich ist das schade, musikalisch aber ein absoluter Gewinn.

Aber nicht jeder der 12 Songs versucht sich an existenziellen oder emotionalen Themen. So zum Beispiel der Song „ABC“, der so gute Parts hat, dass man ihm die fragwürdige Hook, in der tatsächlich das gesamte Alphabet aufgezählt wird, fast entschuldigen möchte. BHZ und Monk zeichnen sich dadurch aus, dass sie (Sprach-)Konventionen hintenanstellen. Das beweist auch Longus Mongus, wenn er sich in seinem Featurepart zu „Loud“ nicht zu schade ist, „Badabingbadabambadabum“ zu texten, und anschließend einige Zeilen flüstert. „Hellwach“ gerät experimenteller als andere BHZ-Releases und hat keinen Anspruch ins letzte Detail durchdacht zu sein. Sehr sicher wird es im Herbst nicht nur in Schöneberger-Parks aus gefühlt jeder Bluetooth-Box schallen. (Benedikt Kendler)


Wenn euch Fenne Lily diese Woche gefällt, solltet ihr auch bei Widowspeak unbedingt reinhören. Wer lieber raus will, geht vielleicht ins Berghain auf der Art Week – doch wie gut ist die schwer gehypte Ausstellung dort eigentlich wirklich?

Vergangene Woche hat bei unseren Alben der Woche Chart-Stürmer Declan McKenna geglitzert – und der Drummer Makaya McCraven womöglich das Jazz-Album des Jahes vorgelegt. Davor gab es Grund für Trauer, aber auch für Halluzinationen, mit Tricky und Sophie Hunger.

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